Category: Buch des Monats

Nachdem es beim Buch des Monats nun ein Weilchen eher gepflegt zur Sache ging, ist es mal wieder an der Zeit für ein richtiges Fantasy-Gemetzel. Und wer könnte das besser liefern als David Gemmell, der 2006 verstorbene Bewahrer der heroischen Fantasy?
Die Legende von David GemmellDie Legende, der in sich abgeschlossene Auftaktband seiner Drenai-Saga, ist so etwas wie die Mutter aller Belagerungsgeschichten: Dros Delnoch, eine einst stolze und unbezwingbare Feste, die den Zugang zum Land der Drenai bewacht, ist ungünstigerweise unterbesetzt und verkommen, als sich die wilden Stämme der Nadir unter einem Banner vereinen. Niemand will recht daran glauben, dass der windige neue Graf lange gegen den Feind bestehen kann, auch nicht seine Soldaten, die scharenweise desertieren, um ihrem Schicksal zu entgehen. Verbündete für den aussichtslosen Kampf finden sich lediglich bei den Ausgemusterten und den Fanatikern: Der Kriegertempel der Dreißig und schließlich der gealterte und lebensmüde Kriegsheld Druss mit seiner Axt Snaga.
Damit ist auch schon fast alles über die Handlung von Die Legende gesagt. Aber haben wir nicht alle eine Schwäche für Underdogs, die sich doch irgendwie durchbeißen?
Die Überraschungen in Die Legende finden sich weniger im geradlinigen Handlungsverlauf als in der Tatsache, dass Gemmell es schafft, sein düsteres Szenario, in dem das Scheitern unvermeidlich und der Tod niemals fern ist, mit Prisen von Humor und unerwarteten erhebenden Augenblicken zu viel mehr zu machen als nur einer zynischen Gewaltorgie. Mit Spannung verfolgt man die Aufbauarbeit, die an der maroden Truppe von Dros Delnoch geleistet wird, und schließlich die Schlacht um die Festung, bei der man vielen Verteidigern (und sogar den Angreifern) über die Schulter schauen darf und so eine große Bandbreite an Heldentum miterlebt: Nicht nur das des glorifizierten (aber gealterten) Übermenschen oder der Kriegsspezialisten, die sich ein Leben lang darauf vorbereitet haben, sich in einem solchen Moment hinzugeben und möglichst viele Feinde mitzunehmen, sondern auch das des “Kanonenfutters”, der einfachen Soldaten, die über sich hinauswachsen (oder auch nicht).
Mit einer Pathos-Allergie sollte man von Die Legende freilich tunlichst die Finger lassen, denn das ist die Kehrseite der Tragik, die den Roman durchzieht, und eben auch ein Standbein der heroischen Fantasy, die in dieser Form heute eigentlich nicht mehr erscheint und deren gealterter Held sich hier vielleicht schon im Transit zu seiner gebrochenen und verbitterten neueren Inkarnation befindet, aber bei Die Legende eindeutig eher zurück in die Vergangenheit als nach vorne blickt.

Die Legende (Legend, 1986, dt. 1994) ist Gemmells Debut-Roman und fährt trotz einiger ungeschliffener Kanten alle Stärken auf, die sein Werk auszeichnen, womit er sich auch sehr gut eignet, wenn man den Autor kennenlernen möchte. Die deutsche Übersetzung von Irmhild Seeland (ISBN: 3-404-20307-0) ist aktuell nur antiquarisch zu beziehen.

Buch des Monats

The Haunting Of Alaizabel Cray von Chris WoodingDas Buch des Monats im März führt ins Herz eines alternativen viktorianischen Londons. In dem heruntergekommenen Stadtteil Old Quarter treiben sich seit einem heftigen Bombardement sogenannte wych-kin herum. Dämonen, Monster, Kreaturen, die u.a. kleine Babys als appetitliche Abendmahlzeit betrachten. Der 17-jährige Thanial Fox, Sohn des einst berühmtesten wych-hunters und inzwischen selbst der Beste seiner Zunft, macht Jagd auf diese Kreaturen, deren wahre Herkunft niemand kennt. Doch eines Nachts findet er ein völlig verstörtes Mädchen und ahnt nicht, in welche Schwierigkeiten er damit stolpert. Sie weiß weder, wer sie ist, noch wo sie ist, wie sie dorthin kam oder wo sie her kam. Was Thaniel jedoch weiß, ist, dass sie die wych-kin anzieht wie Motten das Licht. Er macht es sich zur Aufgabe, den Grund dafür herauszufinden.

The Haunting Of Alaizabel Cray (der Titel verrät vielleicht schon, dass besagte Alaizabel besessen sein muss), ist vornehmlich eine Horrorgeschichte, und als solche vermag Autor Chris Wooding sie auch stimmungsvoll und mit starker Bildsprache zu erzählen. So erwacht jede ranzige Pfütze zum Leben, jeder Schatten wird misstrauisch beäugt, könnte sich darin doch etwas verbergen. Neben einem gelungenen Worldbuilding, das nur selten einmal an Tiefe vermissen lässt, sind es auch die vielen Parallelen zu unserer eigenen Welt, die den Charme dieses Romans vergrößern. So treibt sich z.B. ein Serienkiller in Whitechapel herum, der eine phantastische Interpretation von Jack the Ripper darstellt und gleichzeitig noch einen Klassiker der Literatur verkörpert. Es gibt zahlreiche Anspielungen auf verschiedene literarische Werke, die zum Teil unter anderer Bezeichnung, in The Haunting Of Alaizabel Cray von der Fiktion zur Realität werden. Ein okkulter Clan, der an den Mythos von Cthulhu erinnert, findet ebenfalls seinen Weg in die Geschichte, und alles passt unter der Feder Woodings ganz wunderbar zusammen. Außerdem schafft es der Autor mit nur wenigen Nebensätzen, auf die Missstände der sonst oft verklärt dargestellten viktorianischen Zeit hinzuweisen, wo vor allem die Ärmsten zu leiden hatten. Fieber, Schmutz, Armut auf der einen Seite, Intrigen, Machtspiele und Gier auf der anderen … all das wird hier nicht unter den Teppich gekehrt, sondern zu einem subtilen Teil der Gaslichtatmosphäre, die dieses Buch bestimmt.

Einzig bei der Charakterentwicklung muss man eine gewisse Schwäche attestieren. Die beiden Hauptcharaktere bleiben insgesamt etwas blass und man hat Mühe, sich in sie hinein zu versetzen. Immerhin wirken sie in ihrem Handeln jedoch meistens glaubwürdig, so dass man sie nicht vor Frustration schütteln möchte.
Trotz dieses kleines Mangels ist der Roman eine empfehlenswerte Lektüre. Insbesondere für alle, die sich gerne mal gruseln und die Füße bei Dunkelheit unter die Bettdecke ziehen, weil sie auch in fortgeschrittenem Alter unterbewusst noch glauben, unter ihrem Bett hause ein Monster …

Eine Warnung zum Schluss sei noch ausgesprochen. Wir empfehlen ausdrücklich nicht die deutsche Übersetzung des Romans, da die Sprache sehr in der Übertragung gelitten hat. Vermutlich wurde hier versucht, den Roman an ein jüngeres Publikum anzupassen, als es der Autor vorgesehen hatte, so dass es zum gefürchteten Phänomen der plumpen Holzhammersprache kommt. Detailliert nachzulesen in mistkaeferls Rezension (S.1)

The Haunting Of Alaizabel Cray, Scholastic, ISBN: 9780439998963

Buch des Monats

Cover von Dawn von Octavia E. ButlerLilith hat den letzten Weltkrieg überlebt, aber das verdankt sie nicht anderen Menschen. Die Erde ist durch atomare Strahlung unbewohnbar geworden, die Menschheit hätte sich selbst ausgelöscht, wären da nicht die Oankali, die Lilith auf eines ihrer Raumschiffe gebracht und damit gerettet haben. Doch ihre Motive sind nicht ganz uneigennützig …

Octavia Butler ist es gelungen, mit Dawn (Dämmerung), dem Auftaktband der Trilogie Lilith’s Brood (auch bekannt als Xenogenesis Trilogy) eines der eindrücklichsten Begegnungsszenarien zwischen Menschen und Außerirdischen zu entwerfen, indem sie stets eine grundlegende Ambivalenz des Kontakts mit den Außerirdischen aufrechterhält – ein Spannungsverhältnis zwischen Dankbarkeit, Sympathie und langsam aufkommender Zuneigung einerseits, Fremdheit, Isolation und Manipulation andererseits. Damit beweist sie einmal mehr, dass sie ein Händchen für die Darstellung komplexer Beziehungen und sozialer Systeme hat. Sie nimmt sich viel Zeit, um die Aufnahme Liliths in die Gesellschaft der Oankali darzustellen, Figurenkonstellationen zu entwickeln und dem Leser/der Leserin Informationen über die Oankali zukommen zu lassen – durch Liliths Augen. Auch Lilith selbst lernt man dabei näher kennen, die klug, selbstbestimmt und tough ist, zugleich aber mit Unsicherheiten und ihrer persönlichen Vergangenheit zu kämpfen hat, die immer wieder ihr Handeln und ihre Gefühle beeinflusst. Damit erweist sie sich als faszinierende und glaubhafte Protagonistin, die sehr viel Identifikationspotential bietet.

Dass die Oankali nicht nur Lilith gerettet haben, sondern auch andere Menschen in Isolation auf dem riesigen Raumschiff der Außerirdischen festgehalten werden, ist keine große Überraschung. Wie Butler dieses Thema aufgreift, verdeutlicht jedoch erneut ihre schriftstellerischen Qualitäten, denn sie verfällt nicht in einen simplen Menschen-Außerirdische-Dualismus. Vielmehr gestattet sie dem Leser/der Leserin einen Blick auf die menschliche Entwicklung und beleuchtet in der Folge jene Themen aus einer anderen Perspektive, die bereits in der ersten Romanhälfte angesprochen werden: Gruppenzugehörigkeit und die Bedeutung (weiblicher) Sexualität für die Markierung der Grenze zwischen „uns“ und „denen“ und tatsächlich gewinnt der Roman hier nochmals an Tiefe.
Dawn kann, obwohl es als Auftaktband dient, gut für sich alleine gelesen werden, die folgenden beiden Romane haben neue Protagonisten und sind zeitlich etwas später angesiedelt. In englischer Sprache liegen alle drei Teile als Sammelband Lilith’s Brood vor, die deutsche Ausgaben – sowohl der Einzelroman Dämmerung, als auch die deutschen Sammelbände Xenogenesis bzw. Die Genhändler – sind inzwischen wohl nur noch antiquarisch erhältlich. Das hier abgebildete Cover entstammt der Ebook-Ausgabe.

Lilith’s Brood (2007), Grand Central Publishing, ISBN: 9780446676106

Buch des Monats

Der Nachtzirkus von Erin MorgensternWillkommen im neuen Jahr, liebe Leser, und auch herzlich willkommen zu unserem Buch des Monats im Januar.

Es ist in letzter Zeit nicht leicht für Fantasyleser unter den Neuerscheinungen noch viel brauchbares Material zu finden. Ein Buch, das man jedoch nicht übersehen sollte, ist: Der Nachtzirkus von Erin Morgenstern, den wir bereits vor einer Weile im englischen Original rezensiert haben.

Zugegebenermaßen ist dieser Roman hauptsächlich etwas für Träumer und Menschen mit einer ausgeprägten Vorstellungsgabe, denn der Roman lebt nicht unbedingt von einer opulenten Geschichte, die ist hier sehr ruhig und sanft ausgefallen, sondern von unglaublich lebendigen, beeindruckenden und einfach nur wunderschönen Bildern, die sich unweigerlich während des Lesens vor einem aufbauen. Morgensterns Erzählkunst kann man nur als wahrhaft magisch beschreiben und genau deswegen wollen wir euch dieses Buch auch ans Herz legen – wegen einer umwerfenden Bildsprache, die man selten erlebt.

Der Nachtzirkus ist ein Roman mit sogartiger Atmosphäre, die dafür sorgt, dass man Seite um Seite geradezu zärtlich betrachtet wie einen lange ersehnten Menschen. Ist man der bildstarken Magie einmal verfallen, weckt der Zirkus eine beinahe schmerzliche Sehnsucht, die einen noch lange begleitet und nie erfüllt werden kann. Es ist nur jedem zu empfehlen, sich auf die Erzählung, so still und leise sie auch sein mag, einzulassen und sich in die schwarzweiße Welt dieses einmaligen Zirkus zu begeben, wo wahre Wunder auf euch warten.

Der Nachtzirkus (The Night Circus, 2011), in deutscher Übersetzung erschienen 2012 bei Ullstein, ISBN-13: 978-3550088742

Buch des Monats

Mit unserem Buch des Monats im Dezember möchten wir euch einladen, euch in eine kuschlige Leseecke zu verziehen und in den Langen Winter der Alten Welt einzutauchen.
Alv, ein Waisenjunge, der das Schicksal vieler Fantasy-Helden teilt und erst einmal alles verlieren muss, ehe er seine wahre Bestimmung annehmen kann, wird Lehrling bei einem Meisterschmied. Seine Ausbildung ist umfassend und strapaziös, die drei Gesellenstücke, die er nach langer Lehrzeit anfertigen soll, sind außergewöhnlich: Ein Armreif, ein Tarnhelm und ein Schwert. In der einsamen Schmiede hoch im Norden, am Rande des ewigen Eises, das die Welt zu verschlingen droht, gehen jedoch merkwürdige Dinge vor, und der Meister ist dem Lehrling schon lange nicht mehr geheuer.
Es braucht viele Abenteuer, bis Alv zu sich selbst findet und den Namen Elof wählt, zusammen mit dem Schwertkämpfer Kermorvan einer der wenigen wird, die die Gastfreundschaft des älteren Volkes genießen dürfen, und sich schließlich seinem alten Meister stellen kann.

Michael Scott Rohans Der Amboß aus Eis, der erste Band der Trilogie Der Winter der Welt, ist klassische Fantasy, wie sie eigentlich schon seit geraumer Zeit kaum mehr veröffentlicht – und vielleicht auch nicht mehr geschrieben – wird. Mit Der Amboß aus Eis von Michael Scott Rohandem starken Bezug zur (nordischen) Mythologie, ohne ein direktes Derivat zu sein, der Heldenreise und dem Kampf gegen das Böse (das hier in einer unfassbar-unheimlichen Gestalt in Form der Eismassen auftritt, hinter denen der Wille steht, alles Lebende zu verschlingen) ist sie auf eine Weise tolkienesk, die die meisten Herr-der-Ringe-Nachfolger nie erreicht haben. Auch formal ist die Parallele unübersehbar, Der Amboß aus Eis wird nicht selten im Stil einer Chronik erzählt und behält auch in den szenischen Passagen einen getragenen Ton bei. Gedichte und ein ausführlicher Anhang (der die Fiktion der Chronik aufrecht erhält, aber die alternative Erklärung eines Klimawandels anbietet) runden das Bild ab.
Zwischen vorzeitlichen Geschöpfen wie Zeuglodons, deutlich naturverbundeneren Völkern und der gewaltigen Präsenz des Eises, neben der alles andere unbedeutend erscheint, wirken die Menschen in Michael Scott Rohans Alter Welt ein wenig verloren und haben kaum Chancen, das Wirken der Mächte zu verstehen, die sich in ihr Leben einmischen. Doch auch sie haben sich Magie angeeignet, und die eindrucksvollsten Passagen in Der Amboß aus Eis sind mitunter die Szenen, in denen Alv die Schmiedekunst und die ihr innewohnende Magie erlernt, mit der Kräfte in Gegenständen gebunden werden können.
Wenn man groß angelegte, epische Fantasy mit Tiefgang und archaischem Weltentwurf vermisst, ist man mit Der Amboß aus Eis (The Anvil of Ice, 1986, dt. 1993, ISBN 3-453-07252-9) gut beraten. Der Roman führt am Ende etliche Fäden zusammen, einige (und der grundlegende Konflikt) werden allerdings in den Fortsetzungen Die Schmiede im Wald und Der Hammer der Sonne weitererzählt.

Buch des Monats

Die Brücke der Vögel von Barry HughartGute Laune im November? Kein Problem mit unserem neuen Buch des Monats, dem ersten (und besten) Meister-Li-Roman von Barry Hughart. Von Die Brücke der Vögel kann man sich in ein liebevoll ausgearbeitetes, erfundenes China entführen lassen und den gutmütigen jungen Mann Nummer Zehn der Ochse begleiten, der auf der Suche nach einer Arznei für die von einer Seuche befallenen Kinder seines Heimatdorfes Ku-fu ist. In der Stadt angekommen muss er feststellen, dass das gesammelte Geld von Ku-fu gerade einmal für den Rat eines einzigen Gelehrten reicht – den des versoffenen, unordentlichen und verschlafenen Meister Li Kao. Ein ausgesprochener Glücksfall für Ochse und die Leserschaft, denn Meister Li hat es faustdick hinter den Ohren.
Der Abenteuerreigen, der folgt, sobald Ochse den alten Gelehrten auf den Rücken nimmt und losspurtet, ist ohnegleichen, auch wenn er zunächst etwas zusammenhanglos scheint. Hughart ist allerdings ein Meister in der Kunst der Wiederholung und Variation und schafft aus den wild zusammengewürfelten Episoden zur Überraschung des Lesers/der Leserin eine Kontinuität, die den ganzen Roman trägt und ideenreiche Schauplätze, liebenswerte Figuren und haarsträubende Plot-Elemente zu einem größeren, fest im fernöstlichen Sagenstoff verankerten Ganzen verknüpft.

Dass man im alten China in Inch und Yard misst, ist ein kleiner Schönheitsfehler, der bald vergessen ist, wenn die Schelmenstückchen von Li Kao und Ochse immer noch ein Eckchen bizarrer und rasanter werden, als man vermuten würde. Ochses getragene, beinahe lakonische Erzählstimme und Meister Lis herrlich amoralische Haltung sorgen für irrwitzigen Humor, der manchmal beinahe darüber wegtäuscht, dass es durchaus ernst zur Sache geht und zwischendurch die ein oder andere erfunden-fernöstliche Weisheit aufblitzt.
Falls die Mischung aus Abenteuer, Humor und Queste noch nicht reichen sollte und es noch ein bisschen mehr sein darf, kann man Die Brücke der Vögel auch als Kriminalfall sehen und bei der Aufdeckung des Geheimnisses um die Seuche von Ku-fu miträtseln.
Und wer Götter und Gelehrte, Schwerttänzer und Schießpulver nicht so schnell hinter sich lassen will, kann Li Kao und Ochse noch auf zwei weitere (jeweils abgeschlossene) Abenteuer namens Der Stein des Himmels und Die Insel der Mandarine begleiten.

Aktuell gibt es keine lieferbare deutsche Übersetzung von Die Brücke der Vögel (Bridge of Birds, 1984, Übersetzung: Hans Sartorius und Manfred Ohl), die alte (1986, ISBN: 3-596-28347-7) und die neue (2003, ISBN: 3-492-26519-7) Ausgabe sind aber problemlos auf dem Gebrauchtmarkt zu finden.

Buch des Monats

Die Stadt der träumenden BücherManche Bücher sind wie Heimat zum Mitnehmen. Egal, ob wir uns durch heimatliche Straßen bewegen oder an fernen Stränden urlauben: wer will, kann überall schräg links in der Phantasie abbiegen und findet sich in Buchhaim wieder. Die Stadt der träumenden Bücher pulsiert vor Leben und bietet allen träumenden Dichtern und dichtenden Träumern (und auch den nicht ganz dichten Dichtern) ein Zuhause. Häuser, die aus alten Folianten erbaut sind, lebende Zeitungen, Büchercafés an jeder Ecke – Walter Moers weiß, was Leser wollen. Mit diesem Roman erlebt man nicht nur Abenteuer, wie sie sich nicht einmal Hildegunst von Mythenmetz hatte träumen lassen; man findet in ihm auch ein Vorbild, so tollkühn, gerissen und furchtlos, dass er unangefochten die Nummer Eins auf der Heroenliste eines unserer eab-Mitglieder bleiben wird: Colophonius Regenschein, Bücherjäger, Traummann, Hund. Und dabei geht es in dem Roman eigentlich gar nicht um ihn.

Hildegunst von Mythenmetz, der in ferner Zukunft zu Zamoniens bedeutendstem Dichter heranwachsen wird und bisher nur zu einer beachtlicher Leibesfülle herangewachsen ist, ist eigentlich zu bequem für Abenteuer. Sein größter Kampf ist das morgendliche Aufstehen, der Schreibtisch sein Schlachtfeld – und doch verschlägt es ihn in das mysteriöse, phantastische, dunkle Buchhaim, wo es in jeder Ecke nach Abenteuer riecht. Und tatsächlich erwartet den Leser eine schwindelerregende Achterbahnfahrt, in der es nur abwärts geht: in die Katakomben von Buchhaim, die Stadt unter der Stadt, voller Geheimnisse, dunkler Gänge, Fallen und Leuchtquallen, die nur allzu oft den falschen Weg weisen. Doch jeder furchtsame Schritt von Mythenmetz ist eine brennende Liebeserklärung an die Kunst des Schreibens und die Kunst des Lesens; ist er das Abenteuer doch nur eingegangen, um den Verfasser eines brillanten Manuskripts zu finden – diesen Mut wünscht man allen Verlegern!

Doch nicht nur die strahlenden Helden wissen zu begeistern: es sind die herzerwärmend oder beängstigend schrulligen Nebenfiguren, die skurrile Komik der moers’schen Schreibe, die großartigen Illustrationen und die Lust am Absurden, die Die Stadt der träumenden Bücher für mich so überragend macht. Die Abenteuer rund um Mythenmetz, Colophonius und den Schattenkönig sind so spannend, dass man sich wünscht, man könnte sich wie ein Buchling von gelesenen Zeilen ernähren. In den Lesepausen jedoch kann man sich noch höchst vergnüglich mit all den literarischen Rätsel beschäftigen, die sich im Roman verstecken. Golgo van Fontheweg wird gerne dabei behilflich sein.

Buch des Monats

Cover von Das Experiment von Arkadi & Boris StrugatzkiPaviane, mysteriöse Kriminalfälle, faszinierende Charakterstudien, Politik, Philosophie, Philatelie, abenteuerliche Expeditionen, seltsame Lebensformen, versunkene Städte, Lebensweisheiten und Ginseng … das alles und noch viel mehr hat Das Experiment der Gebrüder Strugatzki zu bieten.

Aber fangen wir von vorne an: Andrej kommt aus der UdSSR des Jahres 1951, dort war er Astrophysiker, jetzt im Experiment ist er Müllfahrer, gemeinsam mit dem Texaner Donald aus dem Jahre 1967, der mal Professor der Soziologie gewesen war, bevor er beim Experiment mitmachte. Andrejs Bekanntenkreis ist ein bunter Haufen, schließlich umfasst er u.a. die Schwedin Selma, den intelligenten und tiefsinnigen Juden Isja Katzman, den stoischen Chinesen Wang oder den faschistischen Wehrmachtsoffizier Fritz Geiger. Sie und hunderte, tausende, vielleicht sogar Millionen Menschen bewohnen eine Welt: das Experiment.
Als Leser/Leserin erlebt man nicht nur mit, wie Andrej und seine Bekannten durch das „Recht auf abwechslungsreiche Arbeit“ in immer neue, unterschiedliche Berufe wechseln, sondern auch wie sich die Geschicke der Stadt (die Stimuli des Experiments?) als eng mit ihren weiteren Erlebnissen verwoben erweisen. Dabei ist es zunächst vor allem die sympathisch-alltägliche Figur des Andrej, die dem Leser/der Leserin hilft, sich zurechtzufinden, auch wenn sich einem das Setting erst langsam erschließt und sich sowohl für die Leserschaft, als auch die auftretenden Figuren eine gehörige Portion Rätselhaftigkeit bewahrt.

Mit dem faszinierenden Setting des mysteriösen Experiments haben die Strugatzkis eine tiefgründige, facettenreiche Parabel geschaffen, gespickt mit seltsamen Abenteuern und ambivalenten Figuren, die einen unweigerlich zum Nachdenken bringt und gleichzeitig an die Seiten fesselt.

Dieser Roman ist im zweiten Band der Gesammelten Werke (ISBN: 978-3-453-52631-0) kürzlich neu aufgelegt worden, ergänzt durch einen Kommentar von Boris Strugatzki sowie einen erklärenden Index für Textstellen, in denen auf andere literarische oder filmische Werke oder historische Personen, Ereignisse, etc. verwiesen wird. Mit Picknick am Wegesrand und Eine Milliarde Jahre vor dem Weltuntergang sind überdies noch zwei andere herausragende Werke in diesem Band enthalten. ∓

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Wie ein Hauch von Eis von Peter JamesUnser Buch des Monats im August entführt über die Genregrenzen zu Science Fiction und Horror. 1995 erschien der auch als Techno-Thriller bezeichnete Roman Wie ein Hauch von Eis (Original: Host; 1993) von Autor Peter James.

Der erfolgreiche Wissenschaftler Joe Messenger ist überzeugt davon, Menschen unsterblich machen zu können. Die kryogene Konservierung des Menschen ist schon lange bekannt, doch Joe will einen Schritt weitergehen und forscht nach einer Methode, den Verstand eines Menschen in einen Computer mit biologischen Nerven-/Gehirnzellen herunterzuladen. Seine Forschung befindet sich an einem toten Punkt, als eine neue Studentin zu seiner Assistentin wird. Mit ihrer Hilfe gelingt Joe der lang ersehnte Durchbruch, doch was er damit erschafft, entpuppt sich als sein persönlicher Alptraum, der nicht nur ihn, sondern auch seine Familie in Lebensgefahr bringt und den Wahnsinn und Schrecken des menschlichen Verstandes offenlegt.
Man muss darauf gefasst sein, sich hier und da mit Unbehagen umzublicken und sich während der Lektüre zu fragen: würde ich mich in diesem Szenario für Leben oder Tod entscheiden? Denn trotz der beinahe phantastischen Vorstellung des Ganzen scheint Peter James’ Vision nicht völlig undenkbar, und es ist wohl eher eine Frage der Zeit, bis die Realität einen Joe Messenger hervorbringen wird.

Wie ein Hauch von Eis ist ein spannend geschriebener Roman, der sich im Verlauf der Handlung immer weiter steigert. Der Leser durchlebt mit Joe Messenger eine in der Gegenwart spielende Reise, die in der Normalität beginnt und in futuristischem Horror endet; von der Suche nach einem Segen für die Menschheit, über die Entdeckung der Lösung, bis hin zum Erkennen, welche Gefahr diese neue Entdeckung in sich birgt, wird Joe zum Gejagten seiner eigenen Erfindung. Deren scheinbar unaufhaltsame Allmacht lauert bald hinter jedem Bit und Byte, hinter jeder Ampel und jeder Telefonverbindung.

Obwohl der Roman aufgrund seines Alters inzwischen natürlich überholt ist, was manch technisches Detail angeht, ist es doch vor allem die Folge von Joes Entdeckung und nicht die Technik selber, die einem von Anfang bis Ende eine Gänsehaut beschert und daher, wenn man das ein oder andere Auge zukneift, auch 20 Jahre später noch genauso gut funktioniert wie 1993.

Für Liebhaber von Romanen, in denen es auch einmal eher technisch als magisch zugehen darf, ist Wie ein Hauch von Eis vor allem wegen der unheimlichen und realitätsnahen Atmosphäre zu empfehlen. Die inhaltliche Richtung dieses Buchs erinnert an Serien wie The Outer Limits oder Tales from the Darkside und dürfte dem bekennenden Geek/Nerd Herzklopfen bereiten. Leider scheinen solche Erzählungen ein wenig aus der Mode geraten zu sein oder zumindest keinen Anreiz mehr für Autoren und Fernsehsender zu bieten.

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Wie ein Hauch von Eis
(ISBN: 978-3442081257; Goldmann, 1995) ist leider nur noch antiquarisch zu bekommen. Wer es sich zutraut, kann das englische Original Host (ISBN: 978-0752837451; zuletzt neu aufgelegt bei Orion im Dez. 2000) dagegen noch problemlos im Neuzustand erhalten.

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Cover von Die Memoiren einer Überlebenden von Doris LessingWährend sich draußen das Zusammenleben der Menschen verändert, lebt eine ältere Frau in ihrer Wohnung in einer Stadt. Eines Tages erlangt sie nicht nur die Fähigkeit, in eine seltsame, teilweise visionäre Welt hinter ihren Wänden zu treten, sondern ihr wird auch von einem Fremden ein junges Mädchen mitsamt deren Katze anvertraut. Gemeinsam und doch jede für sich werden sie in die gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit hineingezogen.

Wer einmal einen etwas anderen Roman in einem post-apokalyptischen Setting lesen will, der oder die sollte Doris Lessings schmales Büchlein Die Memoiren einer Überlebenden ernsthaft ins Auge fassen. Denn Doris Lessing stellt nicht die radikalen Umbrüche und den abrupten Niedergang der Zivilisation in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, sondern die Zähigkeit, mit der (zumindest der Anschein von) Normalität aufrecht erhalten wird. Aber natürlich hat sich die Welt verändert, die staatlichen Institutionen können ihre Aufgaben nicht mehr in vollem Ausmaß erfüllen, Menschen verlassen ihre Heimatstädte in “Horden” und ziehen durch’s Land – einerseits Schrecken der sesshaft Gebliebenen, andererseits Anschlussmöglichkeit für Aufbruchswillige. Anders als andere postapokalyptische Romane lässt einen dieses skurrile Nebeneinander neuer und alter Lebensformen, von friedlichen Kommunen und bedrohlicher Anarchie neben gutbürgerlichen Einzelwohnungen viel stärker an aktuelle Lebensbedingungen denken, sei es in der sogenannten Dritten oder Ersten Welt. Obwohl der Niedergang vordergründig das zentrale Element postapokalyptischer Settings ist, zeigt Lessing, dass stets auch Neues entsteht, teilweise wirkt es archaisch, manchmal zukunftsweisend, manchmal aber auch erschreckend und grausam, meistens jedoch vermengen sich diese einzelnen Aspekte in den entstehenden Lebensformen; so sehr sich die Lebensbedingungen auch verändern und die Menschen etwas Neues beginnen wollen, als so beharrlich erweisen sich auch hier die Kontinuitäten zur Zeit davor.
Doris Lessing beweist in der Beobachtungsgabe der Erzählerin, in deren Visionen und in der Beziehung, die sie zu dem Mädchen entwickelt, das ihr eines Tages als Schutzbefohlene zufällt, einen scharfen Blick für gesellschaftliche Beziehungen und deren Rückkoppelung an individuelle Erfahrungen und Persönlichkeitsentwicklungen. Folgerichtig offenbart sich der größte Horror dieses Romans nicht in den verwaisten Großstädten nach der Apokalypse, sondern im Kinderzimmer einer bürgerlichen Familie aus der Zeit davor.

Die Memoiren einer Überlebenden, übersetzt von Rudolf Hermstein
ISBN: 978-3596252022
Original: Memoirs of a Survivor (1974)

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