Während sich draußen das Zusammenleben der Menschen verändert, lebt eine ältere Frau in ihrer Wohnung in einer Stadt. Eines Tages erlangt sie nicht nur die Fähigkeit, in eine seltsame, teilweise visionäre Welt hinter ihren Wänden zu treten, sondern ihr wird auch von einem Fremden ein junges Mädchen mitsamt deren Katze anvertraut. Gemeinsam und doch jede für sich werden sie in die gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit hineingezogen.
Wer einmal einen etwas anderen Roman in einem post-apokalyptischen Setting lesen will, der oder die sollte Doris Lessings schmales Büchlein Die Memoiren einer Überlebenden ernsthaft ins Auge fassen. Denn Doris Lessing stellt nicht die radikalen Umbrüche und den abrupten Niedergang der Zivilisation in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, sondern die Zähigkeit, mit der (zumindest der Anschein von) Normalität aufrecht erhalten wird. Aber natürlich hat sich die Welt verändert, die staatlichen Institutionen können ihre Aufgaben nicht mehr in vollem Ausmaß erfüllen, Menschen verlassen ihre Heimatstädte in “Horden” und ziehen durch’s Land – einerseits Schrecken der sesshaft Gebliebenen, andererseits Anschlussmöglichkeit für Aufbruchswillige. Anders als andere postapokalyptische Romane lässt einen dieses skurrile Nebeneinander neuer und alter Lebensformen, von friedlichen Kommunen und bedrohlicher Anarchie neben gutbürgerlichen Einzelwohnungen viel stärker an aktuelle Lebensbedingungen denken, sei es in der sogenannten Dritten oder Ersten Welt. Obwohl der Niedergang vordergründig das zentrale Element postapokalyptischer Settings ist, zeigt Lessing, dass stets auch Neues entsteht, teilweise wirkt es archaisch, manchmal zukunftsweisend, manchmal aber auch erschreckend und grausam, meistens jedoch vermengen sich diese einzelnen Aspekte in den entstehenden Lebensformen; so sehr sich die Lebensbedingungen auch verändern und die Menschen etwas Neues beginnen wollen, als so beharrlich erweisen sich auch hier die Kontinuitäten zur Zeit davor.
Doris Lessing beweist in der Beobachtungsgabe der Erzählerin, in deren Visionen und in der Beziehung, die sie zu dem Mädchen entwickelt, das ihr eines Tages als Schutzbefohlene zufällt, einen scharfen Blick für gesellschaftliche Beziehungen und deren Rückkoppelung an individuelle Erfahrungen und Persönlichkeitsentwicklungen. Folgerichtig offenbart sich der größte Horror dieses Romans nicht in den verwaisten Großstädten nach der Apokalypse, sondern im Kinderzimmer einer bürgerlichen Familie aus der Zeit davor.
Die Memoiren einer Überlebenden, übersetzt von Rudolf Hermstein
ISBN: 978-3596252022
Original: Memoirs of a Survivor (1974)
Klingt wie ein Buch, das ich lesen möchte, obwohl ich weiß, dass ich es lieber lassen sollte. :-/
Danke für die Rezi.
Geht mir genauso, Pegasus. :-S
Habe das Buch aber auch schon hier liegen und werde es in den nächsten Tagen mal anfangen.
Freut mich, dass der Beitrag Interesse geweckt hat! 🙂