Bibliotheka Phantastika gratuliert Melissa Scott, die heute 55 Jahre alt wird. Am Beispiel der am 07. August 1960 in Little Rock, Arkansas, geborenen Melissa Scott wird deutlich, dass es aus den unterschiedlichsten Gründen zu einem Knick in einer anfangs durchaus erfolgreichen und erfolgversprechenden schriftstellerischen Karriere kommen kann. Denn erfolgreich war Melissa Scott, die 1984 mit dem SF-Roman The Game Beyond debütierte und 1985-87 mit der Silence Leigh Trilogy – einer Space Opera um eine ungewöhnliche Raumschiffpilotin – nachlegte, schon in ihren Anfangsjahren. Immerhin wurde sie bereits 1986 mit dem John W. Campbell Award als beste neue Autorin ausgezeichnet (und hat dabei Konkurrenten wie Guy Gavriel Kay, Tad Williams oder David Zindell aus dem Feld geschlagen).
Bis zur Jahrtausendwende folgten so etwa im jährlichen Abstand ein gutes Dutzend weitere SF-Romane, die in Raumschiffen, auf fremden Planeten oder auf der Erde in ferner oder nicht so ferner Zukunft angesiedelt sind, praktisch immer eine LGBT*-Hauptfigur haben (wobei anzumerken wäre, dass die sexuelle Orientierung ihrer Hauptfiguren in Scotts Romanen zwar durchaus von Bedeutung ist, aber nur selten eine zentrale Rolle spielt) und sich jeweils durch ein sorgfältig entworfenes, stimmiges Setting auszeichnen.
Ende der 80er Jahre unternahm Melissa Scott auch einen ersten Ausflug in die Fantasy: The Armor of Light (1988) – ein Roman, den sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Lisa A. Barnett verfasst hat – spielt in einem alternativen elisabethanischen England, in dem Magie funktioniert und Königin Elisabeth mit Christopher Marlowe und Philip Sidney zwei ihrer besten Männer an den Hof des schottischen Königs schickt, der von einem Magier bedroht wird.
In gewisser Hinsicht könnte man The Armor of Light als Fingerübung für die ein paar Jahre später mit Point of Hopes (1995) begonnene Astreiant-Sequenz (an der anfangs auch wieder Lisa A. Barnett als Co-Autorin mitgewirkt hat) betrachten, die allerdings in einem “echten” Fantasy-Setting angesiedelt ist. Denn Astreiant, die Hauptstadt des Königinnenreichs von Chenedolle, liegt auf einer Welt, die von zwei Sonnen beschienen wird, und auf der Alchemie, Astrologie und Magie als Wissenschaften gelten und eine wichtige Rolle im Leben ihrer Bewohner spielen. Das gilt besonders für die Astrologie, denn der Einfluss, den der Stand der Sterne bei der Geburt auf das Leben des Einzelnen hat, ist immens. In dieser Stadt, die sich (wie der Rest der Welt) kulturell in einer Epoche befindet, die am ehesten mit der Renaissance vergleichbar ist und in der es zunehmend Spannungen zwischen dem alten Adel und den neuen Gilden gibt, geht der Adjunct Point oder Pointsman (aka Polizist) Nicholas Rathe in dem Stadtviertel namens Point of Hopes seinem Beruf nach – was in diesem Fall bedeutet, nach einem verschwundenen weiblichen Metzgerlehrling zu suchen. Zur gleichen Zeit wartet der Ex-Söldner Philip Eslingen auf das Ende des Sommers, weil er hofft, im Herbst wieder eine Anstellung zu finden, und gerät eher zufällig in das Geschehen, das bald um weit mehr als nur ein verschwundenes Mädchen kreist … Point of Hopes ist ein Fantasykrimi, bei dem der Krimiplot (der per se funktioniert) vor allem dazu dient, die Handlung voranzutreiben, während die eigentliche Faszination des Romans in der Welt liegt, die Melissa Scott und Lisa A. Barnett entworfen haben – eine Welt, die unserer in vielerlei Hinsicht ähnelt, und in der andererseits viel Bekanntes verfremdet oder schlicht auf den Kopf gestellt wird, und die dennoch erstaunlich rund und stimmig wirkt.
Das gilt auch für den zweiten Band Point of Dreams (2001), in dem Nicholas Rathe es erneut mit einem mysteriösen Mordfall – und einem uralten, möglicherweise magischen Buch namens Alphabet of Desire – zu tun bekommt. Point of Dreams sollte für etliche Jahre das letzte Buch bleiben, das Melissa Scott veröffentlicht hat, denn kurz nach Erscheinen dieses Romans wurde bei ihrer Lebensgefährtin Lisa Barnett eine Krebserkrankung diagnostiziert, an der sie 2006 auch gestorben ist. Dieser Schicksalsschlag und eigene gesundheitliche Probleme hatten zur Folge, dass Melissa Scott erst seit 2010 wieder als Autorin aktiv ist. Neben mehreren Romanen zum Stargate Metaverse (mit Jo Graham und Amy Griswold) und einer bislang vierbändigen, steampunkigen Reihe namens Order of the Air (ebenfalls mit Jo Graham) hat sie inzwischen mit der Novelle Point of Knives (2012) und dem Roman Fair’s Point (2014) der Astreiant-Sequenz zwei weitere Fortsetzungen hinzugefügt und arbeitet derzeit an einer dritten (mit dem Arbeitstitel Point of Sighs).
Auf Deutsch ist von Melissa Scott bislang – außer den zwei Star-Trek-Romanen, die sie in den 90er Jahren für das Franchise geschrieben hat – nur ein einziger SF-Roman erschienen. Aber zumindest handelt es sich bei The Kindly Ones (1987; dt. Die Freundlichen (1992)) um den vielleicht besten ihrer frühen SF-Romane, in dem sie eine Kultur entwirft (die auf Orestes, einem der beiden Monde des Planeten Agamemnon, abgesiedelt ist – und ja, die Verweise auf Aischylos’ Orestie sind Absicht und haben einen Hintergrund), wie sie auch ein Jack Vance kaum bizarrer hätte entwerfen können, die aber natürlich mit den typischen Melissa-Scott-Zutaten angereichert ist.
* – ich habe die mittlerweile im englischen Sprachraum übliche Abkürzung verwendet, weil das einfacher als irgendwelche ausgeschriebenen Varianten ist und vermutlich am wenigsten als diskriminierend empfunden wird
Und wieder eine Autorin, die mir bisher völlig unbekannt war.
Naja, bei nur einem übersetzten Roman (wenn man die beiden sich ja an eine sehr spezielle Zielgruppe richtenden Star-Trek-Titeln mal unter den Tisch fallen lässt) und dem Großteil der Veröffentlichungen in den 80er und 90er Jahren ist das aber nicht weiter verwunderlich, oder?
Wobei Melissa Scott auch über The Kindly Ones hinaus durchaus interessante SF (die auch gerne mal einen Fantasy- oder Phantastik-Einschlag hat) geschrieben hat. Aber das Ganze ist ja eh ein grundsätzliches Problem, denn das Angebot im englischsprachigen Raum ist schlicht zu groß, um es auch nur einigermaßen im Auge behalten zu können; ich bin bei den etwas älteren Autoren & Autorinnen auch besser als bei den ganz neuen … 😉