Category: Eselsohr

Zehn Jahre Bibliotheka Phantastika. Anlässlich dieses tollen Jubiläums haben gero und ich uns vorgenommen, insgesamt zehn Kurzgeschichten in jeweils zehn Sätzen vorzustellen. Den Anfang mache ich mit Die Screwfly Solution, die zuletzt in dem Sammelband Zu einem Preis in deutscher Sprache erschienen ist.

Alice B. Sheldon (aka James Tiptree Jr.): Die Screwfly Solution
in: James Tiptree Jr.: Zu einem Preis, 2012, ISBN: 978-3902711069

Alice B. Sheldons Erzählung Die Screwfly Solution (The screwfly solution) ist nichts, was man als leichte Lektüre bezeichnen könnte. Vielmehr sollte man sich Zeit dafür nehmen, weniger für’s Lesen, sondern vielmehr für das Verarbeiten der Implikationen der wenige Seiten langen Handlung. Diese wird (sehr gelungen) überwiegend indirekt über Briefe, Zeugenaussagen oder andere Dokumente erzählt und entfaltet rasch einen ganz eigenen Sog des Grauens. Als Leser/in verfolgt man dabei hauptsächlich das Schicksal des Schädlingsbekämpfers Alan und seiner Frau – eine Auswahl, die für das Ende große Bedeutung hat. Noch mehr als die global grassierenden und sich ausbreitenden Morde an Frauen und der seltsam hilflos-laxe Umgang der Regierungen mit diesen beschäftigt einen deren Grundlage. Die Ursache der Morde offenbart dagegen das mit bösem Witz geschriebene Ende der Kurzgeschichte. Über einen längeren Zeitraum verfolgen wird einen jedoch besagte Grundlage der Morde. Man muss damit nicht vollständig einverstanden sein, man sollte es aber auch nicht gleich verwerfen. Denn dann eröffnet dies neue Perspektiven auf jene Missstände im Geschlechterverhältnis, die unsere Gesellschaft immer noch prägen. Und durch eine spannende Geschichte einen solchen Denkanstoß zu erhalten, ist ein absoluter Empfehlungsgrund.

Eselsohr

10 Jahre Bibliotheka PhantastikaDas Bibliotheka-Phantastika-Jubiläum ist für mich Anlass zu einem Rückblick auf die letzten zehn Jahre Fantasylektüre: Welche Bücher, die in diesem Zeitraum erschienen sind, haben mir eigentlich besonders viel bedeutet und sind mir im Gedächtnis hängengeblieben? Gerade, da ich zu denjenigen gehöre, die oft genug über das Angebot auf dem derzeitigen Buchmarkt jammern, ist es mir wichtig, mir vor Augen zu führen, dass auch in diesen letzten zehn Jahren viel Gutes erschienen ist, an dem ich Freude hatte und noch habe.
Nicht immer habe ich die Bücher gleich in ihrem Erscheinungsjahr gelesen, und die Auswahl, die ich getroffen habe, um ein Buch aus jedem der letzten zehn Jahre zu präsentieren, ist notwendigerweise ganz persönlich. Manch ein eigentlich guter Autor wie Patrick Rothfuss oder Daniel Abraham hat es nicht auf die Liste geschafft, weil ich in der Rückschau erkannt habe, dass mir andere Werke eigentlich wichtiger waren (ohne dass ich unbedingt in jedem Fall von Anfang an damit gerechnet hätte).

Hier also meine etwas eklektische Übersicht über meine Lieblingsfantasy der letzten zehn Jahre:

2003 Olivier Merle – L’épée maudite

Zwar darf man von Olivier Merle keinen großen Roman nach dem Vorbild seines Vaters Robert Merle erwarten, aber diese kleine, feine Erzählung für junge Leser entführt in eine verzauberte Bretagne und behandelt im Kern ein erstaunlich tiefgründiges Problem.

2004 Eric Shanower – Age Of Bronze 2: Sacrifice

Gut, ein bisschen kann man sich sicher streiten, ob Age of Bronze, Eric Shanowers Comicfassung der Sagen um den Trojanischen Krieg, im eigentlichen Sinne Fantasy ist, verzichtet er doch auf übernatürliche Elemente, um eine glaubwürdige bronzezeitliche Welt zu zeichnen, aber zu den besten Umsetzungen eines phantastischen Stoffs, die mir in den letzten zehn Jahren begegnet sind, zählt sie allemal.

2005 Luca Trugenberger – Damlo und der Weg zum Glück

Die Nähe zum Jugendbuch ist Trugenbergers Geschichte um den Jungen Damlo eindeutig anzumerken, aber die wunderbaren Landschaftsschilderungen und die Auslotung der Queste als Selbstfindung machen sie zu einer angenehmen und streckenweise durchaus amüsanten Lektüre, ganz abgesehen davon, dass klassische Fantasywesen wie z.B. Zwerge hier eine sehr nette, nicht überzogene Schilderung erfahren.

2006 Megan Whalen Turner – The King of Attolia

Dieser dritte Teil ist für mich immer noch der beste Band der ohnehin äußerst gelungenen Attolia-Reihe, mit dem ich seinerzeit auch in die Abenteuer des quirligen Meisterdiebs Gen und sein ganz besonderes Verhältnis zu den Göttern eingestiegen bin. Ich kenne kaum ein Buch, das bitterernste Sachverhalte so humorvoll und mit leichter Hand erzählt wie dieses.

2007 J.R.R. Tolkien – The Children of Húrin

Als bekennender Gwindor-Fan war ich natürlich entzückt, diese Episode aus dem Silmarillion noch einmal als Einzelroman präsentiert zu bekommen, und die schönen Illustrationen von Alan Lee haben ein Übriges getan, mich zu überzeugen.

2008 Heide Solveig Göttner – Der Herr der Dunkelheit

Der zweite Band aus Die Insel der Stürme ist vielleicht mein Lieblingsband der Reihe, nicht nur, weil er äußerst solide Fantasy in einem originellen und unverbrauchten Setting bietet, sondern auch, weil er ganz und gar nicht an den üblichen Übergangsbandschwächen krankt, die sonst in Trilogien sehr häufig sind.

2009 J.R.R. Tolkien – The Legend of Sigurd and Gudrún

Der große Altmeister der Fantasy hat es ein zweites Mal in die Liste geschafft, weil seine Art, hier mit mittelalterlicher Dichtung zu spielen, die Mediävistin in mir einfach entzückt hat – gut, ein richtiger Fantasyroman ist es nicht, aber doch etwas in jeder Beziehung Phantastisches.

2010 Martin Schemm – Der Goldschatz der Elbberge

Der Rest der (fantasylesenden) Menschheit kann wahrscheinlich nicht mehr hören, dass ich diesen Roman für gelungene Fantasy halte, aber eine im mittelalterlichen Norddeutschland angesiedelte Geschichte mit Zwergenschatz, Lindwurm und Untoten aus der Bronzezeit? Ich war begeistert.

2011 David Anthony Durham – Acacia: Die Fernen Lande

Ja, das ist ein wenig geschummelt: Im Original ist dieser zweite Band der Acacia-Reihe schon früher erschienen, aber da ich ihn auf Deutsch gelesen habe, zählt er vielleicht doch. Trotz aller Aspekte, die mir an dem Buch nicht hundertprozentig gefallen, kann ich mich Durhams meisterlicher Figurenzeichnung nicht entziehen. Seine Gestalten bleiben einem im Gedächtnis haften, und so hat er sich einen Platz auf dieser Liste verdient.

2012 Michael J. Sullivan – Percepliquis

Der letzte Band der Riyria Revelations, die für mich eindeutig eine guilty pleasure sind, war tatsächlich nach langer Zeit wieder einmal ein Buch, auf dessen Erscheinen ich sehnsüchtig gewartet habe, und es hat mich nicht enttäuscht: Eine absolut klassische Questengeschichte, weit entfernt von hoher Literatur, aber einfach wohlig-nostalgisch zu lesen.

Welche Bücher haben euch im Laufe der letzten zehn Jahre besonders angesprochen – und welche davon sind euch bis heute im Gedächtnis geblieben, während andere langfristig vielleicht nicht halten konnten, was sie zuerst versprochen haben?

Eselsohr

Bei unserem zweiten Ausflug in die Welt der Webcomics wird es ganz klassisch: In der Wormworld-Saga fängt Autor und Zeichner Daniel Lieske zunächst den Zauber der Kindheit ein, um dann ganz nach alter Tradition einen Weg aus unserer Welt in eine durch und durch phantastische zu finden, in der große Abenteuer und schwierige, bedeutsame Aufgaben warten.
Jonas ist ein kleiner Junge, der lieber zeichnet und träumt, als an seinen Schulnoten zu arbeiten, und das Größte sind für ihn die Sommerferien, die er zusammen mit seinem Vater bei der Großmutter auf dem Land verbringt: Den ganzen Tag durch den Wald streifen, sich auf geheime Dachböden zurückziehen und Held der sich selbst erzählten Geschichten sein, das ist dann seine Welt.
Doch auf Jonas’ Vergangenheit liegt ein Schatten, und sein geheimer Rückzugsort offenbart einen Durchgang zu einer anderen Welt, der Wormworld. Und die ist um einiges gefährlicher, aber auch viel wunderbarer als die Wäldchen rund um Omas Bauernhaus …

Banner Wormworld-Saga

Die Wormworld-Saga ist vor allem eines: Optisch beeindruckend. In wunderschönen, opulenten Bildern beschwört Daniel Lieske zunächst eine Kindheit in den 70er/80er-Jahren herauf und bezaubert Leser und Leserinnen mit dem Helden Jonas, der es ganz leicht macht, an eigene Erinnerungen anzuknüpfen, um einen dann mit der Farbenpracht, den Ideen und den herrlichen Panoramen der Wormworld regelrecht zu überrumpeln. Lichtdurchflutete Wälder und Ruinen, bizarre Wesen und liebenswerte Charaktere leuchten aus den für die Ansicht im Webcomic ausgelegten, scrollbaren Sequenzen entgegen und wirken wie eine Mischung aus Jim Henson’s Creature Shop, Studio Ghibli und den Highlights von Disney mit einer Prise der schwindelerregend-schönen Landschaften von Avatar.

Wormworld-Saga 1 von Daniel LieskeNach bislang vier Kapiteln hat die Geschichte nun Fahrt aufgenommen und einen klassischen Questenkurs eingeschlagen, der sehr gut zum nostalgischen Flair des Comics passt. Wer auf Lieskes Blog ein wenig die interessante Entstehungsgeschichte der Wormworld-Saga verfolgt und die Konzeptarbeit sieht, die in die Weltschöpfung geflossen ist, kann sich vorstellen, dass das erst der Anfang ist und die Leser und Leserinnen noch viel erwarten dürfen – die Landkarte ist groß, die Bewohner wollen kennengelernt und die Geschichte erkundet werden. Wie sich die Wormworld-Saga erzählerisch entwickelt und wie sie mit ihren traditionellen Elementen fürderhin umgeht, wird sich noch erweisen müssen.
Auch dieser Webcomic hat übrigens den Sprung in die Printausgabe geschafft, deren erster Teil vor nicht allzu langer Zeit bei Tokyopop erschienen ist.

Wenn man sich in eine kindliche Abenteuerwelt wegträumen und diese im Comic zum Leben erwachen sehen möchte, sollte man in der Wormworld vorbeischauen, die eine im besten Sinne altmodische Geschichte sehr gelungen in ein modernes Medium transportiert.

Eselsohr Über den Tellerrand

Da es in unserem Forum ohnehin schon durchsickert und wir es eigentlich kaum erwarten können: Unsere hier angekündigte kleine Anthologie Götter, Molche, Drachenzähmer kann ab sofort bestellt werden!

Ewiger Winter, sengender Wüstenwind, Geisterhöhlen und himmelhohe Berge – manches Fernweh kann man nur stillen, wenn man unsere Welt hinter sich lässt. Ob mit Ombe Awashu auf ihrer Wanderdüne oder auf großer Fahrt mit wagemutigen Wikingerinnen, wer hier an Bord geht, den erwarten grandiose Abenteuer. Denn uralte Flüche lösen sich nicht von allein, und manchmal wird ein Königsmord zu einer haarigen Angelegenheit. Aber seid gewarnt: Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen – oder im Überlebensleitfaden von Kho dem Kutscher stehen.

Vier Autorinnen, vier Welten und eine Geschichte aus jeder Himmelsrichtung, in der Mythen und Legenden zum Leben erwachen, warten auf ihre Entdeckung in GÖTTER, MOLCHE, DRACHENZÄHMER.

Götter, Molche, Drachenzähmer von Maike Claußnitzer, Simone Heller, Juliana Socher und Kassandra SperlDie Print-Ausgabe hat 192 Seiten (mit Innenillustrationen) und ist für 12 Euro ausschließlich bei Amazon zu haben. Wir haben vorab auch schon einige Schnupperseiten für euch bereitgestellt: Leseprobe (PDF, 2,2 MB)

Bestellt werden kann hier: Götter, Molche, Drachenzähmer
Wir werden uns wie die Schneekönige über jeden Leser und jede Leserin freuen, und natürlich auch über euer Feedback zum Projekt und zu den Geschichten. Viel Spaß damit!

Übrigens: In ein paar Tagen, wenn die letzten technischen Schwierigkeiten überwunden sind, erscheint außerdem eine deutlich günstigere, DRM-freie eBook-Ausgabe, auf die wir euch noch gesondert hinweisen werden.

Eselsohr

Jeder bei bp liebt Geschichten, und die Geschichte, wie aus einem vergnüglichen Schreibprojekt einiger eab- und Foren-Mitglieder ein Buch entstand, wäre vielleicht auch erzählenswert – aber heute wollen wir erst einmal verraten, was wir genau fabriziert haben, damit ihr entscheiden könnt, ob es dafür vielleicht eine Lücke in eurem Regal oder ein freies Speicherplätzchen auf dem eBook-Reader gibt. Dafür haben wir mal abgeklopft, ob unser Meisterstück den ehernen Grundregeln für Fantasy-AutorInnen folgt:

Work in progress, Phase 1
1. Verarbeiten Sie unbedingt ein gängiges Modethema, wenn Sie Erfolg haben wollen! Setzen Sie Ihren Figuren Goggles auf! Oder Vampirzähne! Oder wenigstens einen Evergreen des Genres – ein Breitschwert muss sein!
Vielleicht liegt es daran, dass Bücherwürmer anatomisch nicht dafür geschaffen wurden, auf fahrende Züge aufzuspringen oder auf Wellen zu reiten: unsere vier Erzählungen sollen eine Einladung an den Leser sein, Neuland jenseits von Verlagsprogrammen zu erforschen. Es werden euch weder Edwards, noch dampfbetriebene Gesellen, oder Hobbits (oder gar dampfbetriebene Hobbits-Edwards) begegnen – eher wandelnde Lurche, Könige im Fellwechsel oder frierende Geister.

2. Keine Experimente! Klischeehafte Figuren helfen Ihrem Leser, sich in einer Fantasywelt heimisch zu fühlen. Sie können dazu auf eine Reihe langerprobter Stereotypen zurückgreifen – nutzen Sie sie!

Als Autor übernimmt man auch soziale Verantwortung: wir haben uns deshalb u.a. der totgeschwiegenen Probleme alleinerziehender Wikingerväter und Hexen ohne festen Wohnsitz angenommen und hoffen, dass wir unsere Leser für diese Themen sensibilisieren können. Ähnlich brisant sind nur die sozialen Zwangslagen von Einsiedlern mit zu vielen Freunden und die harte Tarifpolitik von Kutschenfahrern – und auch darüber haben wir uns deshalb ausgelassen.

3. Echte Fantasy braucht Platz! Schreiben Sie, bis das Manuskript einen guten Türstopper abgibt, und planen Sie mindestens eine Romantrilogie!
Als Geisteswissenschaftler ist sie einem nicht gerade in die Wiege gelegt: die Kunst, sich kurz zu fassen. Wir haben es dennoch für euch probiert und präsentieren euch eine Textform, die in Deutschland unter Fantasylesern noch unbeliebter ist als die utopische Totenklage in Sonettform – wir haben Kurzgeschichten geschrieben!

Work in progress, Phase 3
Unsere kleine Anthologie Götter, Molche, Drachenzähmer kommt noch rechtzeitig, um auf den Gabentisch zu passen, wo sie, so viel können wir versprechen, auch unglaublich gut aussehen wird. Ihr werdet sie als eBook oder in der Printausgabe bei Amazon kaufen können, und ansonsten ist sie rundum made in & by Forumos, und zwar von Colophonius, mistkaeferl, moyashi, Seyra und Wulfila. Für unsere Forumsmitglieder gibt es die Anthologie demnächst außerdem bei einer kleinen Rätselei zu gewinnen. Haltet die Augen offen!

Eselsohr

(Fantasy-)Comics haben recht häufig ein mit zusammengebissenen Zähnen verschmerzbares Problem: Brüste. Proportionen. Frauenrollen, die oft nicht weit über sexualisiertes Dekomaterial hinauskommen.
Ihr gähnt – schon wieder ein Gender-Artikel bei bp? Mitnichten, das war nur ein Einstieg, um euch, nachdem wir hin und wieder schon Empfehlungen und Rezis zum Comicbereich eingeschmuggelt haben, die Welt der Webcomis schmackhaft zu machen. Denn unter diesen oft sehr professionell erstellten, z.T. auch vom Medium Comicalbum an eine Darstellung im Browser angepassten Comic-Erzählungen gibt es eine Menge Veröffentlichungen, die auf dem traditionellen Weg ziemlich sicher durch das Raster aus Klischees und angenommenen Mainstream-Wünschen gefallen wären.
Unter anderem gibt es einen im Vergleich zur sonst männerdominierten Comic-Szene hohen Anteil an Künstlerinnen, und mit einer solchen wollen wir in die Materie einsteigen.

Widdershins von Kate Ashwin ist ein launiger Abenteuercomic mit magischen Einsprengseln, der in mehreren locker verbundenen Episoden erzählt wird und um das Örtchen Widdershins mit seiner magischen Universität kreist. Der Comic lebt von der Chemie zwischen seinen Hauptfiguren – in der ersten Story Sleight of Hand sind das die robuste Ermittlerin Harriet Barber und der verhinderte Magier mit dem kleinen Charakterfehler Sid. Im England der 1830er jagen sie zwielichtigen Gestalten und magischen Artefakten hinterher (oder werden von ersteren gejagt), machen sich gegenseitig die Hölle heiß und sind doch von den spezifischen Talenten des jeweils anderen abhängig. In Harriets Fall ist das Kampfkraft und Witz, während Sid eher mit Taschenspielertricks als mit echter Magie glänzt. Dass Harry auch zeichnerisch eher ein Charakterkopf als ein Comic-Model ist, macht das Ganze noch wunderbarer, und ihr trockener Humor sorgt für kurzweilige Rededuelle mit ihrem Sidekick. Dieser geht durch seine unbekümmerte Natur und seine Begabung als Performance-Künstler neben Harry übrigens keineswegs unter.
Auch Heinrich und Mal, die beiden Landstreicher, die die zweite Geschichte No Rest for the Wicked bestreiten, sind ein dynamisches Duo, das durch interessante Nebenfiguren ergänzt wird und sich in einer etwas komplexeren Handlung behaupten muss, wobei Ashwin auch auf originelle Erzählmethoden zurückgreift.
Fürs Abenteuerflair sorgt der Schauplatz – beim England des 19. Jahrhunderts glänzen wahrscheinlich schon die Augen der Steampunk-Fans, allerdings hält sich Widdershins mit Luftschiffen und Goggles angenehm zurück und würzt das historische Setting stattdessen mit feinster Magie. Ansonsten bleibt das Setting historisch und nutzt etwa die Einweihung neuer Eisenbahnstrecken, um Ambiente zu schaffen.
Widdershins 1 von Kate AshwinMan darf gespannt sein, ob sich Sids & Harrys und Mals & Heinrichs Wege noch öfter kreuzen und wie lange ihre gegen den Strich gebürsteten Abenteuer weitergehen – Ashwins letzter Webcomic, das fantasylastigere und zeichnerisch anfangs nicht ganz so ausgefeilte Darken, war ein über acht Jahre geführtes Projekt. Wer Spaß mit gediegenen, augenzwinkernden Abenteuern mit Frauenpower und magischen Missgeschicken haben will, sollte mal bei Widdershins vorbeischauen – neben der kostenlosen Onlineausgabe ist der erste Teil inzwischen auch in Buchform erschienen, eine Fortsetzung gibt es i.d.R. dreimal wöchentlich.

Eselsohr Über den Tellerrand

1. Joe Haldeman: Ein anderer Krieg
Diese Kurzgeschichte hat mich dazu verleitet, mir Joe Haldemans Hauptwerk Der ewige Krieg zuzulegen. Und auch, wenn ich das nicht bereut habe, kann ich sagen, dass alles, was den Charme des Romans ausmacht, genauso in Ein anderer Krieg zu finden ist. Darin wird das sympathische Heldenduo durch den titelgebenden Krieg getrennt. Für die Soldatinnen und Soldaten der Erde ist es tatsächlich ein ewiger Krieg, sorgen doch die Transporte mit Überlichtgeschwindigkeit dafür, dass die Zeit im Universum schneller vergeht als auf ihren Schiffen. Einerseits lernen unser Held und unsere Heldin so menschliche Gesellschaften kennen, deren Entwicklungen sie ansonsten nie erlebt hätten, andererseits hat dies natürlich gravierende Auswirkungen auf menschliche Beziehungen. Der Gegensatz zwischen der Antiquiertheit der beiden Protagonisten und den neuen menschlichen Gesellschaftsentwürfen tragen dabei deutlich zum Reiz der Geschichte bei. (Fremdling)
Deutsche Übersetzung in: Pandora 3. Das Magazin für internationale Science Fiction & Fantasy, S. 38-62.

2. Neil Gaiman: Schnee, Glas, Äpfel
Grimms Märchen nachzuerzählen und neu zu interpretieren ist das heimliche Hobby etlicher Fantasy-Autoren. Mit Schnee, Glas, Äpfel schafft Neil Gaiman es allerdings mühelos, sich von den häufig eher lahmen Weiterentwicklungen bekannter Märchenstoffe abzuheben. Einerseits emanzipiert er sich vor allem durch einen Perspektivwechsel stark von der Vorlage, andererseits kann er die Geschichte in einer losgelösten Mittelalter-Märchenwelt verorten, die durch viele kleine Details geerdet wird. Die weitere Umdeutung der Märchenelemente bringt sehr düstere Untertöne in Schnee, Glas, Äpfel ein, die es archaischer als die Vorlage erscheinen lassen und die weit von Kindergeschichten entfernten Wurzeln der Märchentradition in Erinnerung rufen, zugleich aber eine moderne Themenkombination ergeben.
Das Tüpfelchen aufs i ist ein für Gaiman etwas ungewöhnlicher getragener Stil, der die Düsternis und Märchenhaftigkeit unter einen Hut bringt und der Erzählerinnenfigur von Schnee, Glas, Äpfel die Eindringlichkeit verleiht, die die Geschichte auszeichnet. (mistkaeferl)
Original: Snow, Glass, Appels (1994), u.a. in der Sammlung Smoke and Mirrors;
Deutsche Übersetzung in: Die Messerkönigin (2001), S. 353-368.

3. Robert Sheckley: Ein erster Kontakt
»NUR AUFWECKEN, WENN TOP-STORY IN AUSSICHT« – so lautet die Aufschrift über den kryokonservierten Journalisten im Raumschiff der Menschen, dessen Insassen sich alle auf unterschiedliche Art und Weise auf den ersten Kontakt mit einem Alien vorbereiten, das sich auf dem anvisierten Planeten hinter einem Busch versteckt. Und eine Top-Story ist es, die Sheckley uns mit Ein erster Kontakt präsentiert: seine Version des ersten Kontaktes zwischen Mensch und Extraterrestrier ist eine humorvolle und entlarvende Studie über das ewig Menschliche, dessen Skurrilität in den Weiten des Alls weitaus außerirdischer erscheint als der schuppige Extraterrestrier Detringer, der wegen Impertinenz von seinem Heimatplaneten verbannt wurde. Gemeinsam mit seinem metallenen Diener Ichor bekommt er es mit dem Militär, der Bürokratie und der Regenbogenpresse unserer Erde zu tun, und die Geschichte seines ersten und letzten Kontaktes mit den uns allzu vertrauten Vertretern unseres Planten lässt sich mühelos mit dem weisen Ausspruch von Calvin bzw. Bill Watterson zusammenfassen: »Sometimes I think the surest sign that intelligent life exists elsewhere in the universe is that none of it has tried to contact us«. (Colophonius)
Deutsche Übersetzung in: Der widerspenstige Planet (2009). S. 617-653.

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Wer trotz vielfältiger, dezenter Hinweise in unserem Forum und hier Matt Stover und seinen grimmigen Helden Caine noch nicht kennt, bekommt jetzt eine neue Gelegenheit: Es gibt eine frische Caine-Kurzgeschichte, die ihr sogar gleich hier vor Ort nachlesen könnt (oder augenfreundlicher hinter dem Link). Sie ist nur minimal blutig, bietet so gut wie keine Spoiler und ist ein Schmankerl für Connaisseurs der klassischen Sword & Sorcery, wie der Titel schon ahnen lässt.
Entstanden ist sie als Nachklapp zum diesjährigen Suvudu Cage Match und spielt auch im entsprechenden Setting, in dem die größten Fantasy-HeldInnen gegeneinander antreten können. Wer übrigens noch nicht gelesen hat, wie Matt Stover Douglas Adams channelt und wie Caine sich gegen einen edlen weiblichen Paladin schlägt, sollte es nachholen, auch wenn es keine Voraussetzung für diese Geschichte ist. Viel Spaß!

So Conan and Elric Walk Into a Bar, by Matt Stover

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Kurzgeschichten können Keimzellen von Romanen sein, oder etwas völlig anderes als Romane, ein erster Ort zum Austoben und Veröffentlichen für Autoren, und für manche sind sie auch langfristig die Form, in der sie am besten glänzen können (man denke an Stephen King oder Neil Gaiman). Bei den großen Publikumsverlagen finden phantastische Kurzgeschichten allerdings  von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht statt, und das, obwohl sie eigentlich hervorragend zur angeblich verkürzten Aufmerksamkeitsspanne der modernen Leserschaft passen sollten.
Es gab und gibt zwar Versuche, auch in Deutschland Magazine mit einem Fokus auf Kurzgeschichten einzuführen (z.B. die Pandora), und kleine Verlage, Zines und Internetseiten bieten eine gewisse Plattform dafür; eine große Rolle spielen sie bislang in der Fantasy-Rezeption allerdings nicht.

Da in unserem eab Kurzgeschichten durchaus geschätzt werden, wollen wir euch in nächster Zeit immer wieder Hinweise auf interessante, lesenswerte Geschichten geben. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Phantastik- und SF-Kurzgeschichten, denn die klassische Fantasy ist in der kurzen Form häufig nicht stark vertreten und noch seltener gelungen.
Wir wünschen euch viel Spaß und hoffen, euch zur ein oder anderen Entdeckung verhelfen zu können!

1. Ted Chiang: Liking What You See: A Documentary
Ted Chiangs Erzählung spielt in der ferneren Zukunft, wo es mittels ungefährlicher Manipulation des Gehirns möglich ist, Diskriminierung aufgrund des Aussehens “abzuschalten”, indem die Assoziation eines Gesichtes mit Schönheit oder Hässlichkeit verhindert wird. Oder zumindest dreht sich die fiktive Dokumentation darum, ob dieses Ziel mit Hilfe eines technischen Eingriffs erreicht werden kann (oder sollte) und wie die Menschen darauf reagieren. Schauplatz der Doku ist ein Campus, auf dem diese Manipulation eingeführt werden soll, und verblüfft mit der Vielfalt an Meinungen, Argumentationen und Assoziationen, die zu diesem Thema vorgebracht werden, manche klischeehaft, manche überraschend und radikal, viele sehr persönlich und alle bringen einen zum Nachdenken. Man sieht sich bald hineingezogen in diesen Konflikt zwischen Freiheit und Diskriminierung, Befreiung und Unterdrückung. Neben dieser philosophischen Ebene klingen auch ganz konkrete politische und wirtschaftliche Aspekte an und in den fiktiven Interviews und Nachrichtentexten entfalten sich einige Narrative, die für einen Spannungsbogen sorgen. (Fremdling)
In: Chiang, Ted: Stories of Your Life and Others. Tor Books 2004, S. 283-324.
Eine deutsche Übersetzung ist in Pandora 2. Das Magazin für internationale Science Fiction & Fantasy zu finden.

2. David Gerrold: Report from the Near Future: Crystallization
Um die Erwartungen nicht zu hoch zu schrauben, zunächst eine kleine Info über den Autor: David Gerrold hat die Tribbles-Folge für Star Trek geschrieben. Noch Fragen?
In Crystallization macht er allerdings ernst – wir verfolgen aus einer nüchternen nachträglichen Beobachterposition eine Art “end of the world as we know it”, das sich im Kollaps des Verkehrsnetzes von Los Angeles anbahnt: Der Verkehrsfluss kristallisiert aus. Nichtige Ursachen führen zu immer größeren Wirkungen, erst im Nachhinein, im vorliegenden Bericht, kann nachvollzogen werden, was womöglich schief gelaufen ist. Während der distanzierte, beinahe dokumentarische Stil der Geschichte, in dem der Autor besonders zu Beginn viele – dem LA-Fremden weitgehend unbekannte – Straßennamen abspult, nicht sonderlich ins Geschehen hineinzieht, sind es die katastrophalen Abläufe und ihre Unaufhaltsamkeit, die ihre Faszination ausmachen.
Crystallization zeigt die Anfälligkeit unserer vielfach ineinander verzahnten Systeme (und das Verkehrssystem kann man symbolisch sehen, auch wenn Gerrold die Kritik am Auto-Wahn durchaus ein Anliegen ist), die vor dem Hintergrund von Fortschrittglauben und Machbarkeitsphantasien vielleicht lächerlich wirken, aber bei Katastrophen wie Fukushima schmerzlich real werden. (mistkaeferl)
In: Savile, Steven/Konthis, Alethea (Hgg.): Elemental. The Tsunami Relief Anthology, Tor Books 2006, S. 19-35; 2011 als eBook: Crystallization

3. Terry Pratchett: Troll Bridge
Und es gibt sie doch, die Klassische-Fantasy-Kurzgeschichte. Oder zumindest was Terry Pratchett daraus macht. Aber hey, es gibt Trolle und einen Barbaren, das ist doch zumindest etwas, oder?
Die Handlung ist typisch Sword-and-Sorcery: Ein einsamer Held zieht, tapfer den Elementen trotzend, seiner letzten großen Aufgabe entgegen, nämlich einen Troll im heldenhaften Zweikampf zu besiegen.
Natürlich driftet dieses Grundgerüst in Pratchetts Händen schnell ins Absurde ab: Cohen der Barbar, der Held, hat Rücken, sein Pferd wäre viel lieber in wärmeren Gefilden und der Troll leidet unter seiner nörgelnden Ehefrau.
Doch was für mich das gewisse Etwas dieser Geschichte ausmacht ist, dass es Pratchett nicht, wie in seinen frühen Romanen, bei einer reinen Parodie belässt, sondern der Geschichte auch eine gewisse melancholische Note verleiht. Hier treffen sich zwei Angehörige einer untergehenden Welt: die alten düsteren Wälder aus Cohens Jugend müssen Ackerland weichen, die jungen Trolle ziehen lieber in die Stadt, anstatt wie ihre Väter unter Brücken zu leben und auch Frau Troll liegt ihrem Mann in den Ohren, er solle doch lieber im Sägewerk seines Schwagers arbeiten.
“What’s wrong with being a troll under a bridge?” he said. “I was brought up to be a troll under a bridge. I want young Scree to be a troll under a bridge after I’m gone. What’s wrong with that? You’ve got to have trolls under bridges. Otherwise, what’s it all about? What’s it all for?” (maschine)
Zuerst erschienen in: Greenberg, Martin H. (Hrsg.): After the King. Stories In Honour of J.R.R. Tolkien, Tor Books 1991.
Deutsch als Troll Dich in: Andersson, Melissa (Hrsg.): Das große Lesebuch der Fantasy, Goldmann 1995. (In anderen Anthologien auch als Die Trollbrücke)

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Einmal mehr hat das eab das Internet durchstöbert und wieder ein paar Künstler entdeckt, die Augenweiden aus Büchern schaffen – auf die eine oder andere Weise….

Anonyme Buchsculptur in Edinburgh
Quelle: www.thisiscentralstation.com

1. Mysterious Paper Sculptures
Wir beginnen die Sammlung mit einem anonymen Künstler, dessen Werke in verschiedenen Buchhandlungen Schottlands aufgetaucht sind und als Geschenke mit einer persönlichen Widmung zurück gelassen wurden.

Buchbindung von Alexander Solarov
Quelle: Alexander Solarov bei flickr.com

2. Alexander Solarov
Dieser Künstler schafft nicht Kunst aus Büchern, er macht aus dem Buch ein Kunstwerk in seiner ursprünglichsten Form und beglückt uns mit wahren Schmuckstücken aufwendig gestalteter Bucheinbände.

Das Silmarillion illustriert von Benjamin Harff
Quelle: www.herr-der-ringe-film.de

3. Benjamin Harff
Ein schon etwas älterer Beitrag, der uns erst kürzlich in die virtuellen Hände fiel, ist die Diplomarbeit von Benjamin Harff, für die er das Silmarillion von J.R.R. Tolkien nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Handschrift mit detailreicher Kalligrafie illustrierte. In einem Interview verrät er außerdem ein paar Details zu seiner Arbeitsweise und der Entstehung des Buches.

Skulptur von Georgia Russel
Quelle: www.funforever.net

4. Georgia Russel
Diese aus Schottland stammende Künstlerin geht es wieder scharf an und nutzt ein Skalpell für die Erschaffung ihrer Werke. Anders als der im letzten Beitrag erwähnte Brian Dettmar, seziert Georgia Russel ihre Bücher bis in die kleinsten Schnipsel und formt daraus abstrakte Skulpturen und Bilder.

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