Subgenre: klassische Phantastik

Alice hinter den Spiegeln von Lewis CarollIm Spiel mit ihrem kleinen schwarzen Kätzchen vertieft, überlegt das Mädchen Alice sich, wie lustig es auf der anderen Seite des Spiegels wohl sein mag, und so geht sie durch diesen ins Spiegelhaus. Sich dort umschauend sieht sie, wie die Figuren des Schachspiels lebendig werden. Auch sonst ist einiges sonderbar, und Alice beschließt sich den Garten anzusehen, was ihr zunächst sehr schwer fällt, da die Wege vom Haus weg zum Haus hinführen. Erst nach einigen Anstrengungen kann sie dem Haus entkommen. Im Garten trifft sie auf die Schwarze Königin, die dem Mädchen erklärt, wie es vom Bauern zur Königin werden kann. Alice nimmt die Herausforderung an und beginnt eine höchst bizarre Reise…

– So viel stand fest: das weiße Kätzchen hatte nichts damit zu tun – das schwarze war ganz allein an allem schuld. –
Kapitel 1, Das Haus hinterm Spiegel

Zu Alice hinter den Spiegeln liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Alice im Wunderland von Lewis CarollDer kleinen Alice ist zum Einschlafen langweilig. Da läuft plötzlich ein weißes Kaninchen vorüber, das auf seine Taschenuhr schaut und sein Zu-Spät-Kommen laut bedauert. So etwas hat Alice noch nie gesehen, daher folgt sie ihm und fällt lange Zeit durch ein Kaninchenloch an Regalen mit Marmeladengläsern (leider leer) vorbei. Auf der anderen Seite angekommen, stellt sich alles als höchst sonderbar heraus; nicht nur die Leute, auch Alice’s Körper und Gedächtnis (Ist sie überhaupt noch Alice?) verhalten sich nicht so, wie man es von ihnen erwarten sollte.

– Hinab, hinab, hinab. Wollte das denn nie ein Ende nehmen? »Wie viele Meilen ich wohl schon gefallen bin?« –
Hinab in das Kaninchenloch, S. 13

Zu Alice im Wunderland liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.

Cover von Alice's Adventures in Wonderland von Lewis CarrollDer kleinen Alice ist zum Einschlafen langweilig. Da läuft plötzlich ein weißes Kaninchen vorüber, das auf seine Taschenuhr schaut und sein Zu-Spät-Kommen laut bedauert. So etwas hat Alice noch nie gesehen, daher folgt sie ihm und fällt lange Zeit durch ein Kaninchenloch an Regalen mit Marmeladengläsern (leider leer) vorbei. Auf der anderen Seite angekommen, stellt sich alles als höchst sonderbar heraus; nicht nur die Leute, auch Alice’s Körper und Gedächtnis (Ist sie überhaupt noch Alice?) verhalten sich nicht so, wie man es von ihnen erwarten sollte.

-Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, ‘and what is the use of a book,’ thought Alice, ‘without pictures or conversation?’-
Down the Rabbit-Hole

Wahrhaftig, Alice landet im Wunderland, einer unmöglichen Version des idyllischen Englands des 19. Jahrhunderts. Klare Strukturen sind kaum erkennbar – d.h. nur dann, wenn Alice sie einfordert. Alles kann sich von Moment zu Moment kraß verändern, aber schon die Grundlagen sind reichlich grotesk. Der Glanz aber sind die außerordentlich bizarren Figuren.
Alice ist gut getroffen; sie ist ein kleines Mädchen, das gerade erst zur Schule geht. Mit Längen- und Breitengeraden kann sie nur wenig anfangen – es sind aber schwierige Worte, die der Situation sicherlich angemessen sind. Stolz darauf ein so wichtiges Wort wie “Juror” zu kennen, wiederholt sie es auch ein paar mal. Mühsam hat sie die Regeln der Höflichkeit erlernt (zumindest recht passabel) und nun reagiert sie mit der für Kinder typischen peniblen Korrektheit bei frisch Gelerntem. Einiges erschrickt die Kleine, doch da sie nicht das gesamte Ausmaß der Absonderlichkeiten überblicken kann, bleibt sie viel ruhiger, als ein Erwachsener dieses könnte. Als die Situation für das riesenhaft angewachsene Mädchen zu erdrückend ist, weint sie, nur um kurz darauf ins Zwergische zu schrumpfen und im See ihrer Tränen vom Ertrinken bedroht zu werden.
Die meisten anderen Figuren sind in irgendeiner Art Herausforderungen für Alice, die mit der Logik eines Kindes an die Sache heran geht. Doch niemand meint es böse mit ihr. Es ist ein Panoptikum von Kuriositäten, das ihr den Weg weißt: eine Wasserpfeife rauchende Raupe, die nichts für gegeben hält; die bekannte grinsende Cheshire Cat, die Alice freimütig Auskunft gibt; die verrückte Teegesellschaft – March Hare, Mad Hatter und the sleeping Dormouse – für die es immer tea-time ist, nachdem Zeit (ein er) befürchten muß, vom Hutmacher getötet zu werden; die Königin (eigentlich die Spielkarte “Herzdame”), die auf jedes Problem gleich reagiert: “Kopf-AB!”, neben unzähligen weiteren grotesken Gestalten.
Magie in Form von Zaubersprüchen oder magischen Artefakten gibt es nicht – es ist die Absurdität, die mit normalem Verstand unverständlichen Regeln der Welt, welche die Magie ausmachen.
In der Geschichte relativiert der Autor (und Dozent für Mathematik) Wahrnehmungsweisen und “Zeit” & “Raum”- Verständnis radikal. Mit diesen Unverständlichkeiten muß Alice umgehen, ihr Körper, Geist und ihre Umwelt stellen sie von Episode zu Episode vor neue Rätsel. Es dauert eine Weile, bis Alice beginnt, die vertrackte Logik zu durchschauen und ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen. Ein festes Moralverständnis und Selbstvertrauen gehören zwar dazu, aber Lewis will mit dieser Geschichte nicht missionieren.
Humor entsteht in der Geschichte durch die ins absurde geführten Konventionen der englischen Gesellschaft des 19. Jhd., die Wortspiele und den daraus entstehenden Verwechslungen. “Then you should say, what you mean,” [said the March Hare]. “I do,” Alice hastily replied; “at least – at least I mean what I say – that’s the same thing, you know.” “Not the same thing a bit!” said the Hatter. “You might just as well say that ‘I see what I eat’ is the same thing as ‘I eat what I see’!” – Sprachphilosophisch nicht uninteressant.
Sprachlich ist das Werk ebenfalls eine Meisterleistung, doch die Sätze und das Vokabular sind nicht sprachgewaltätig, sondern fließen leicht und elegant dahin, man kann sich den flinken Wendungen kaum entziehen. Wer kann, sollte Alice im Original lesen; auch wenn es eine hervorragende Übersetzung von Christian Enzensberger gibt, so ist dieser perfekte Umgang mit der englischen Sprache einfach nicht ohne zu große Verluste ins Deutsche zu übersetzten.

Cover von Das Buch der Wunder von Miriam Kronstädter/Hans-Joachim Simm (Hgg.)Miriam Kronstädter und Hans-Joachim Simm haben für dieses Buch siebenundvierzig phantastische Geschichten bedeutender Autoren aller Herren Länder zusammengetragen. Wie immer bei Anthologien gibt es mehr Informationen zum Inhalt in der Buchbesprechung.

-In einer norddeutschen Seestadt, in der sogenannten Düsternstraße, steht ein altes verfallenes Haus. Es ist nur schmal, aber drei Stockwerke hoch; in der Mitte desselben, vom Boden bis fast in die Spitze des Giebels, springt die Mauer in einem erkerartigen Ausbau, vor, welcher für jedes Stockwerk nach vorne und an den Seiten mit Fenstern versehen ist, so daß in hellen Nächten der Mond hindurchscheinen kann.-
Theodor Storm: Bulemanns Haus

Diese Anthologie ist eine Fundgrube für Freunde der phantastischen Literatur. Berühmte Autoren wie Nikolaj W. Gogol, Gabriel Garcia Márquez, Jack London, H.P. Lovecraft, August Strindberg, Ludwig Tieck, Joseph Sheridan Le Fanu, E.T.A. Hoffmann, Stanislaw Lem, Tania Blixen, Edgar Allan Poe und Prosper Mérimée teilen sich einträchtig die Seiten mit Schriftstellern, die nicht ganz so bekannte Namen tragen: Fjodor Sologub, Adolfo Bioy Casares, Stefan Grabinski, Mircea Eliade, Boris Vian oder Tommaso Landolfi. Ob weltbekannt oder nicht – erzählen können sie alle.
Die Themen ihrer Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Leser findet hier klassische Geistergeschichten wie Le Fanus Erzählung von der Gespensterhand oder Becqers Geschichte vom Geisterberg, in der eine Frau ihrem Cousin eine unheimliche Mutprobe abverlangt. Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Diese Frage stellt sich bei der Lektüre von Ludwig Tiecks Märchen Der blonde Eckbert oder von Edith Nesbits Das violette Automobil. Stefan Grabinskis Erzählung Das Abstellgleis hingegen ist so beklemmend, weil sie real wirkt, so real, daß sie jedem heute oder morgen passieren könnte und man dennoch fühlt, daß etwas Unheimliches im Gange ist, das unerbittlich und unaufhaltsam das Ende bringt. Nicht alle Geschichten sind unheimlich oder gruselig, manche sind voller Witz und Ironie wie die vom Werwolf, der sich in ein erotisches Abenteuer stürzt oder die von Wolfgang Hildesheimer, in der der Ich-Erzähler erläutert, warum er sich in eine Nachtigall verwandelt hat. Andere sind der literarische Ausdruck politischen Widerstands wie die Parabel Der Basilisk von Werner Bergengruen. Ein eitler Wichtigtuer tritt in die SA ein und spukt nach seinem Tode im Haus herum, bis das Dritte Reich endgültig zusammenbricht.
Häufig sind Künstler die Protagonisten, die, wenn sie auch nicht unbedingt mit dem Teufel im Bund sind, doch offensichtlich besonders gefährdet sind, in den Bannkreis übernatürlicher Mächte zu geraten und nur selten, wie in Beheim-Schwarzenbachs Geschichte Das Spinett sind die Begegnungen mit dieser anderen Welt hilfreich.
Allen Geschichten ist gemeinsam, daß die Normalität und die Realität durch den Einbruch des Übernatürlichen gestört werden. Das kann auf den Leser beängstigend, verstörend und beklemmend wirken oder auch nur verwunderlich, seltsam oder gar lustig, aber jedesmal ist es im doppelten Sinne des Wortes phantastisch.
Die Übersetzung hakt an manchen Stellen etwas. Das Wort Katalanin liest sich doch viel schöner als Katalanerin, schlurfende Schritte sind den schlürfenden Schritten auf jeden Fall vorzuziehen und das Wort ausgepowert gehört nicht in eine Geschichte, die im Jahre 1840 spielt. Liest man solche sprachlichen Stolpersteine, fühlt man sich als hätte man sich den Ellbogen an einer Kante gestoßen. Es wird zwar kein großer Schaden angerichtet, aber es schmerzt doch.

Cover von Das Durchdrehen der Schraube von Henry JamesEin Mann liest seinen Freunden aus dem Manuskript vor, das ihm eine Freundin vermacht hat. Darin erzählt sie eine Geschichte, die sie in ihrer Jugend erlebt hat: Die junge Frau wurde damals als Erzieherin für zwei junge Waisen, Flora und Miles, eingestellt. Als die Gouvernante ihre Stellung antritt, kann sie ihr Glück kaum fassen. Die Kinder leben in einem schloßartigen Anwesen, sie sehen aus und benehmen sich wie kleine Engel. Die junge Frau freundet sich mit der Haushälterin Mrs. Grose an. Doch die Idylle währt nicht lange. Plötzlich der ehemalige Kammerdiener und die letzte Gouvernante der Kinder wieder auf. Schnell wird klar, daß die beiden versuchen, einen fatalen Einfluß auf Miles und Flora auszuüben. Die Erzieherin und Mrs. Grose setzen alles daran, die beiden Kinder zu schützen.

-Die Geschichte hatte unserer Runde am Kaminfeuer wohl hinreichend den Atem verschlagen, doch außer der naheliegenden Bemerkung, daß sie schaurig gewesen wäre, wie das am Weihnachtsabend in einem altertümlichen Haus für eine außergewöhnliche Geschichte unerläßlich sei, erinnere ich mich nichtsdestoweniger keiner Äußerung dazu, bis schließlich jemand beiläufig feststellte, dies sei der einzige ihm bekannte Fall, in dem ein Kind von einer derartigen Heimsuchung betroffen wurde.-

Oscar Wilde sagt über diese Erzählung sie sei “Eine höchst wunderbare, grausige, giftgetränkte kleine Geschichte.” Besser kann man es nicht ausdrücken. Diese Geschichte ist nichts für Leser, die leises Grauen erst dann empfinden, wenn axtschwingende Untote kreischende halbnackte Blondinen zerstückeln. Das Grauen, das sich beim Lesen von Das Durchdrehen der Schraube (The Turn of the Screw) einstellt, ist von völlig anderer Art. Es schleicht sich wie ein langsam wirkendes Gift in die Seele des Lesers -wenn er für diese Art von Schrecken empfänglich ist. Man muß sich die Zeit vergegenwärtigen, in der die Geschichte spielt -ungefähr in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also im viktorianischen Zeitalter. Zu dieser Zeit galten völlig andere moralische Standards als heute. Da verstößt es gegen die guten Sitten, wenn ein fremder Mann einer jungen Dame aufdringlich hinterher starrt, Kinder werden für ein Verhalten von der Schule gewiesen, das heute niemanden mehr aus der Fassung bringt und es gibt Dinge, über die spricht man nur in Andeutungen. Letzteres macht die Faszination der Geschichte aus. Die Spannung entsteht dadurch, daß etwas Irrationales geschieht. Mit der Rückkehr von Quint und Miss Jessel bricht das Böse in die Idylle ein, aber objektiv gesehen geschieht gar nichts. Die beiden sind einfach nur anwesend, es ist nicht so, daß sie die Kinder angreifen oder verbal bedrohen würden. Aber der Leser weiß durch die Gespräche, die die Erzieherin mit Mrs. Grose führt (und er weiß es nur aus diesen Gesprächen), daß etwas Furchtbares im Gange ist, doch er erfährt nicht, was genau geschieht. So entsteht zwischen dem Leser und der Gouvernante eine Interaktion. Dadurch, daß das Unaussprechliche nur angedeutet wird, bleibt dem Leser Raum, seine eigenen Vorstellungen zu entwickeln, was das Böse wohl sein mag, das versucht, Macht über die Kinder zu gewinnen. Oder hat es tatsächlich Macht über die Erzieherin gewonnen? Henry James’ Schachzug, aus dem Leser die ureigensten Ängste hervorzulocken, anstatt ihm explizit zu erklären, was in diesem Haus geschieht, macht diese Geschichte zu einem Klassiker der phantastischen Literatur.

James verzichtet auf eine Erklärung der Vorgänge und so wurde das Buch zu einem der meistinterpretierten Bücher der Literaturgeschichte. Tun sie sich einen Gefallen und verzichten sie auf eine Interpretation. Sie würden damit nur die Faszination der Geschichte zerstören. Damit meine ich nicht, daß Sie nicht darüber spekulieren sollen, was nun eigentlich geschehen ist. Jedem der diese Geschichte liest, drängen sich Vermutungen auf, wer der Auslöser der Ereignisse ist. Vermeiden Sie es aber, eine bestimmte Deutung als die einzig wahre anzusehen. Diese Geschichte lebt von der Vielfalt der möglichen Erklärungen und von dem offenen Ende.

Die Sprache ist in Ordnung, für jemanden, der noch nie ein Werk aus dieser Epoche gelesen hat, aber wahrscheinlich gewöhnungsbedürftig. Wie Karl Ludwig Nicol im Nachwort schreibt, ist es richtig, daß versucht wurde, den literarischen Sprachstil des neunzehnten Jahrhunderts beizubehalten. Die Sprache muß die Atmosphäre dieser Zeit widerspiegeln. Hätte man ein moderneres Deutsch gewählt, würde die Geschichte nicht funktionieren. Trotzdem klingt die Übersetzung des Titels “The Turn of the Screw” im Deutschen unglücklich. Man muß dem Übersetzer zugute halten, daß es äußerst schwierig ist, den Titel adäquat und wohlklingend ins Deutsche zu übertragen, wenn “Das Drehen der Schraube” als nicht eindeutig genug empfunden wird. Mein Sprachgefühl hätte sich in diesem Fall für “Das Anziehen der Schraube” entschieden.

Wenn Sie der englischen Sprache mächtig sind, genießen Sie das Original.

Der chronisch vom Pech verfolgte Student Anselmus wird vom Archivarius Lindhorst als Kopist für arabische Manuskripte angestellt. Anselmus verliebt sich in Lindhorst’ Tochter, die den unchristlichen Namen Serpentina trägt. Ihre Mitgift besteht aus einem goldenen Topf und als die beiden schließlich heiraten, ziehen sie nach Atlantis.

-Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches Weib feilbot, so daß alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde, und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen.-
Erste Vigilie

Wer hat eigentlich behauptet, Deutsche könnten keine gute Fantasy schreiben? E.T.A Hoffmann konnte es, aber anscheinend ging diese Kunst in Deutschland irgendwann verloren. Vielleicht sind Sie auch der Ansicht, “Der goldene Topf” sei keine Fantasy. Aber 1814 erschien die Erzählung als Teil einer Sammlung, deren Titel “Fantasiestücke (“Stücke” im Sinn von “Gemälde”) in Callots Manier” lautete. Übersetzen Sie das einmal ins Englische…Wie auch immer, dem Studenten Anselmus stoßen lauter merkwürdige Sachen zu. Er macht die Bekanntschaft einer Hexe, einer sprechenden Schlange und eines Geisterfürsten, Häuser sind von innen größer als sie von außen erscheinen und Menschen sind in Flaschen eingeschlossen. Die allerseltsamsten Dinge geschehen, die nicht nur den guten Anselmus, sondern auch den Leser in Verwirrung stürzen: Passiert all dies wirklich, spricht der Student zu sehr dem Alkohol zu, oder ist Anselmus einfach nur wahnsinnig? Die Antwort muß jeder für sich selbst finden. Er kann natürlich auch die reichlich vorhandene Sekundärliteratur zurate ziehen und sich damit den Spaß an der Erzählung ruinieren. Für Leser, die noch nie etwas aus dem 19. Jahrhundert gelesen haben, ist die Sprache sicherlich etwas gewöhnungsbedürftig. Falls dies so ist, sollten Sie sich von der Sprache genauso faszinieren lassen wie von dem Inhalt der Erzählung.

Cover von Der Golem von Gustav MeyrinkDer Erzähler der Geschichte fällt in einen ungewöhnlichen Schlaf. In diesem Zustand nimmt er die Identität des Gemmenschneiders Athanasius Pernath an, der 1885 im Prager Ghetto lebt. Zu diesem kommt eines Tages ein seltsamer Besucher, der ihm den Auftrag gibt, ein besonderes Buch auszubessern. Bald hegt Pernath den Verdacht, der mysteriöse Auftraggeber könne der Golem gewesen sein, die alte jüdische Sagengestalt, die alle dreiunddreißig Jahre im Ghetto umgehen soll. Von nun an gerät das Leben des Gemmenschneiders aus den Fugen. Nicht nur, daß ihm merkwürdige Dinge widerfahren, er wird auch in einen Rachefeldzug verwickelt und lernt den Archivar Hillel kennen, einen außergewöhnlichen Mann, in dessen Tochter Mirjam er sich verliebt.

-Das Mondlicht fällt auf das Fußende meines Bettes und liegt dort wie ein großer, heller, flacher Stein.-
Schlaf

Begehen Sie nicht den Fehler, dieses Buch mit dem Verstand zu analysieren und zu versuchen, jede okkulte Passage zu entschlüsseln. Damit würden Sie nur die Faszination des Romans zerstören. Allerdings gibt es manche Szenen, bei denen sich eine tiefenpsychologische Deutung aufdrängt. So bemüht sich Pernath, ein Zimmer zu finden, zu dem es keinen Zugang gibt. Der Leser weiß, daß der Gemmenschneider eine Zeitlang wahnsinnig war und keine Erinnerung an diese Zeit hat. Damit fehlt ihm auch der Zugang zu Teilbereichen seiner Seele. Und wenn Pernath in den unterirdischen Gängen des Ghettos herumwandert, erhält man den Eindruck, er würde eigentlich in den Tiefen seiner Seele umherirren. So simpel ist Der Golem aber nicht, daß man diese Parallelen eins zu eins ziehen könnte. Meyrink, der Zeit seines Lebens an okkulten Geheimlehren interessiert war, vermischt hier einen Kriminalfall mit kabbalistischen und theosophischen Elementen, mit altägyptischen Mysterien und der jüdischen Sage um den Golem. Zu der beklemmenden Atmosphäre des Romans trägt bei, daß Meyrink die Geschichte im alten Prager Ghetto, kurz vor seiner Sanierung, spielen läßt. Er beschreibt diesen, seit dem 13. Jhd. bestehenden Prager Stadtteil mit seinen kleinen alten Häusern, die in engen, verwinkelten Gassen stehen, so ausdrucksstark, daß der Leser sich in einen expressionistischen Film der Zwanziger Jahre versetzt fühlt. Diese unheimliche Atmosphäre wird noch durch die ausgezeichneten Illustrationen von Hugo Steiner-Prag, einem Zeitgenossen Meyrinks, gesteigert. Der Golem ist nichts für Leser, die schnelle, oberflächliche Unterhaltung für Zwischendurch suchen. Es lohnt sich aber, sich auf diesen Klassiker der phantastischen Literatur einzulassen, der trotz allem Mystischen, das er enthält, sehr realistisch erzählt wird. Auch dieser scheinbare Widerspruch trägt zum Reiz des Buches bei.

Cover des Buches "Die Handschrift von Saragossa" von Jan Graf Potocki Im Jahre 1739 macht sich der junge flämische Edelmann Alfons van Woerden, Sohn eines berühmten Fachmanns für Zweikämpfe und Ehrenhändel, auf den Weg, in die Dienste des Königs von Spanien zu treten. In der Sierra Morena wird er Zeuge mysteriöser Ereignisse und trifft auf Vagabunden, maurische Weise, den Ewigen Juden, wirrköpfige Gelehrte, Don Belial de Gehenna, Überlebenskünstler, frühe Mafiosi und zauberkräftige Kabbalisten, die allesamt voller Geschichten stecken. Alfons lauscht fasziniert und verliert sich in dem Labyrinth der Worte, bis er hinter all den Erzählungen die Umrisse einer gewaltigen Verschwörung erblickt, die mit seiner familiären Herkunft verknüpft ist …

Es war ein spanisch geschriebenes Manuskript; ich hatte nur geringe Kenntnisse des Spanischen, dennoch wusste ich genug, um zu begreifen, dass dieses Buch unterhaltsam sein konnte: es handelte von Räubern, Gespenstern, Kabbalisten, und nichts war besser geeignet, mich nach den Strapazen des Feldzuges zu zerstreuen, als die Lektüre eines Romans, der von seltsamen, ungewöhnlichen Dingen berichtet. (Seite 13)

Kann ein solcher Roman echt sein? Schon die Umstände seiner Entstehung erinnern an einen geschickt arrangierten Plot, wie er von Umberto Eco oder einem anderen Meister der Postmoderne nicht kunstvoller hätte erdacht werden können: Jan Graf Potocki (1761 – 1815), polnischer Aristokrat, Geheimrat des Zaren und heimlicher Anhänger der französischen Revolution, las seiner schwer erkrankten Frau aus Tausendundeine Nacht vor. Sie äußerte den Wunsch, mehr solche Geschichten zu hören. Der Graf setzte sich ans Schreibpult und las abends vor, was er geschaffen hatte. Nachdem die Gräfin verschieden war, feilte Potocki so lange an einer Silberkugel herum, die er von einem Samowar (ein Familienerbstück) abgebrochen hatte, bis sie in den Lauf seiner Pistole passte, und erschoss sich.
Wahrheit oder Legende? Wir wissen es nicht, doch es ist anzunehmen, dass Graf Potocki es wie jeder gute Geschichtenerzähler verstand, sich in einen Schleier von Geheimnissen zu hüllen.

Die Abenteuer in der Sierra Morena ist also im Gegensatz zu  Der Name der Rose und ähnlichen Büchern eine wirkliche Handschrift. Zunächst wurden Auszüge veröffentlicht, und einige Kapitel sind nur in einer polnischen Übersetzung erhalten. (Der Graf schrieb französisch.) Erst seit einigen Jahren liegt der Roman komplett vor – das heißt, in der Gestalt, die er zum Todeszeitpunkt des Autors hatte. Die Ausgabe im Haffmans Verlag enthält sämtliche erhaltenen Kapitel, außerdem eine Karte der Sierra Morena, ein Faksimile, einige unveröffentlichte Parallelstellen und umfangreiche Erläuterungen und Anmerkungen.

Es handelt sich um einen klassischen Schachtelroman in der Tradition des Decamerone und der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Im Unterschied zu diesen gewichtigen Vorläufern sind die einzelnen Erzählungen, die die Handschrift ausmachen, allerdings lose miteinander verbunden, wodurch sich eine äußerst komplexe Handlung ergibt. Der Leser läuft Gefahr, sich selbst im Labyrinth der Geschichten zu verlieren, welches er so bereitwillig betreten hat. Nach jeder Biegung, hinter jeder Tür tun sich neue erzählerische Räume auf, hier eine Liebesgeschichte, dort eine Räuberpistole, jenseits einer verborgenen Tür eine fein gesponnene Intrige, in einer finsteren Höhle eine Geistererscheinung. Man kann in diesem Labyrinth Jahre zubringen …

Graf Potocki war ein glühender Bewunderer der Aufklärung. Seine Liebe galt der Slawistik, der er erstmals wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse brachte. Er unternahm mehrere Reisen, förderte die polnische Kultur und verfolgte aufmerksam den Verlauf der französischen Revolution. Dem zeitgenössischen Ideal des Universalgelehrten kam er sehr nahe. All dies eröffnet noch eine weitere, völlig unerwartete Dimension in Potockis gewaltigem Werk: Es handelt sich um nichts geringeres als eine Enzyklopädie der Aufklärung, den Roman einer Epoche. Deismus, Hobbessche Staatsphilosophie, Religionskritik, materialistische Naturbetrachtung, Rationalismus, satirische Bloßlegung des überkommenen aristokratischen Ehrbegriffs – alles legt Potocki seinen Protagonisten in den Mund, wird diskutiert und erläutert. Und das in einer gleichzeitg eleganten und fieberhaft-phantastischen Weise, wie man sie einem trockenen und nüchternen Aufklärer nie zugetraut hätte.

Wer Umberto Eco, Jorge Luis Borges und Patrick Süskind liebt, wird von der Handschrift begeistert sein.

Cover des Buches "Huguenins Frau" von Matthew Phipps ShielDas Buch enthält sechs phantastische Erzählungen von Matthew Phipps Shiel: Vaila; Huguenins Frau; Elendes Los eines gewissen Saul; Die Braut, Der bleiche Affe, Der Primas der Rose. Außerdem gibt es eine vom Autor geschriebene Einleitung und im Anhang eine von ihm verfaßte, kurze, Selbstbiographie mit dem Titel Was mich betrifft. Javier Marías, der diese Kurzgeschichtensammlung herausgibt, hat ein Vorwort geschrieben und im Anhang findet man die von ihm verliehenen Titel und Ämter des (halb) fiktiven Königreiches Redonda. Näheres zum Inhalt erfahrt ihr in der Buchbesprechung.

-Vor vielen Jahren stand ich als junger Student in Paris dem großen Corat nahe und wurde an seiner Seite Augenzeuge mehrerer jener Fälle von Geisteskrankheit, die er mit unvergleichlicher Meisterschaft analysierte .-
Vaila

Wahnsinn, Tod, Rache und die Unerbittlichkeit des Schicksals sind die beherrschenden Themen in Shiels Kurzgeschichten.
Vaila ist eine von hohen Felsen umgebene, nördlich von Großbritannien, inmitten gefährlicher Strudel gelegene, sturmumtoste Insel, und der Stammsitz derer von Harfager. Als seine Mutter im Sterben liegt, bitte Haco von Harfager seinen alten Studienfreund, den Ich-Erzähler der Geschichte, ihn zu besuchen.
Schon die Überfahrt erweckt in dem Freund den Eindruck, als führte unsere Fahrt ins Jenseits dieser Welt und was ihn auf Vaila erwartet, könnte schlimmer nicht sein. Harfagers Mutter ist tot und wartet im offenen Sarg auf ihre Beerdigung. Haco selbst ist vorzeitig gealtert und wirkt verwahrlost. Er leidet unter Halluzinationen und der fixen Idee, dass ein alter Fluch das Haus und das Leben der letzten Harfangers -seines und das seiner Schwester- bedroht. Ein grauenhaft entstelltes Faktotum kümmert sich um das Haus, und die Insel scheint sich auf unerklärliche Weise zu drehen.
Jede Zeile dieser Geschichte atmet Verfall und Bedrohung und die Szenerie ist unheimlich.  Dennoch geht Vaila dem Leser nicht wirklich unter die Haut. Allzu deutlich erinnert die Erzählung an Poes Untergang des Hauses Usher, allzu genau erfüllt sich die Erwartung des Lesers, die durch die Erwähnung von Wahnsinn, Tod und einem alten Fluch geschürt worden ist, und zu artifiziell ist das Gebilde, von dem die Bedrohung ausgeht – ein riesiges Stundenglas. Ein Stundenglas, auch wenn es in absehbarer Zeit seinen Dienst einzustellen droht, wirkt nicht so angsteinflößend, wie z.B. ein beständig unaufhaltsam näherrückendes Pendel wie in Poes Geschichte Die Grube und das Pendel, und schließlich darf der Leser eines von einem Ich-Erzähler verfaßten Berichtes immer darauf hoffen, daß die Geschichte wenigstens für einen der Protagonisten gut ausgeht. Dies alles trägt dazu bei, dass der Leser trotz der unheimlichen Atmosphäre eher in die Rolle eines stillen Beobachters gedrängt wird, als in die, eines unsichtbaren, mitleidenden und sich ängstigenden Beteiligten. Dennoch ist Vaila zweifellos die beste der hier versammelten Geschichten.
Die zweite Erzählung, Huguenins Frau, beginnt ähnlich wie die erste. Der Ich-Erzähler erhält den verzweifelten Brief eines alten Freundes, der allein mit zwei Dienern, die ihn beharrlich zu meiden scheinen, in einem riesigen Haus auf der griechischen Insel Delos lebt und sich nach menschlicher Nähe sehnt. Diesmal geht die Gefahr von einem schrecklichen Ungeheuer aus, das auf geheimnisvolle Weise mit Huguenins verstorbener Frau in Verbindung zu stehen scheint. Auch hier wieder findet man viel Poe, vermischt mit ein wenig griechischer Sagenwelt.
In Elendes Los eines gewissen Saul gibt es sogar zwei Ich-Erzähler. Der erste, in der Rahmenerzählung, gibt den Bericht des mittlerweile lang verstorbenen James Dowdy Saul wieder, den er in einer Manuskript-Truhe der Cowling-Bibliothek gefunden hat.
Der zweite Erzähler, Saul, erzählt um 1601 im Alter von 60 Jahren kurz, aber eindrucksvoll, von seinen Abenteuern auf See und zu Land. Er berichtet, wie er 1571 auf Hispaniola in die Hände der Spanischen Inquisition fällt, auf ein Schiff verfrachtet und während eines Sturms in einem Faß über Bord geworfen wird. Das Faß sinkt rasch mit seiner lebendigen Fracht. Saul macht alle Qualen eines Ertrinkenden durch und gelangt schließlich in eine mit Luft gefüllte Höhle, in der sich auch ein Süßwassersee befindet. Nahrung bieten ihm die Tiere und Früchte des Meeres.
Dies ist keine Horror-Geschichte im Stile Poes. Elendes Los eines gewissen Saul ist eine Abenteuergeschichte und wäre der Autor unbekannt, könnte man die Theorie verfechten, dies sei eine von Jules Verne verfaßte Version von Robinson Crusoe.
“Die Braut heißt Rachel Evans.”, teilt Walter Teeger dem Standesbeamten mit, als er sein Aufgebot bestellt. Dies ist die reine Wahrheit, der Beamte weiß allerdings nicht, daß es zwei Schwestern gibt, die beide nach ihrer Großmutter “Rachel” heißen.
Die eine, “Annie Rachel” wird “Annie” gerufen, die andere, “Mary Rachel”, “Rachel”. Walter liebt Annie, aber Rachel liebt Walter und zeigt ihm dies überdeutlich, obwohl zu dieser Zeit von Frauen Zurückhaltung im Ausdruck ihrer Gefühle erwartet wurde. Walter ist von Rachels so offensiv zur Schau getragener Leidenschaft berückt und gebannt und kann sich nicht entscheiden, welche von beiden er nun heiraten soll. Da entscheidet das Schicksal für ihn, – um dann seinen unvermeidlichen Lauf zu nehmen. Wieder finden sich eindeutige Anklänge an Poe.

Der bleiche Affe spukt angeblich im Hause Sir Philip Listers, in das eine Gouvernante kommt, um die zwölfjährige Esmé, Vollwaise und Nichte Sir Philips, zu unterrichten. Das Mädchen behauptet steif und fest, es habe den Geist eines riesigen Affen gesehen, der früher zusammen mit den anderen, noch lebenden Affen in einem Käfig nahe eines Wasserfalls lebte. Um die Spannung nicht zu verderben, soll hier nur so viel gesagt werden, daß Shiel sich ganz offensichtlich an einen berühmten Roman der Weltliteratur anlehnt.
In Der Primas der Rose hat der verheiratete E.P.Crooks ein Verhältnis mit der 25 Jahre alten Minna Smyth, deren Bruder Crichton er kennt. Crichton erzählt Crooks von einem exklusiven Geheimbund, der eine geheimnisvolle Wohnung in London unterhält, von der nur das Oberhaupt, der sogenannte Primas der Rose weiß, wo sie sich befindet. Crooks beschwatzt Crichton, ihm den geheimnisvollen Raum zu zeigen. Der stimmt nach langem Zögern zu, besteht aber darauf, Crooks die Augen zu verbinden, damit er den Weg nicht wiederfinden kann. Schließlich steht Crooks allein in dem ominösen Raum und nimmt die Binde von den Augen…
Was mich betrifft ist Shiels kurze, mit Selbstironie gespickte Lebensbeschreibung, in der er auch sehr warmherzig über seinen Vater spricht.
Die Auflistung der von Javier Marías verliehenen Titel und Ämter des Königreiches Redonda ist eher ein Insidergag zwischen Marías und den Genannten, von denen nur wenige so bekannt sind wie Pedro Almodovar, Antonia Susan Byatt, John Michael Coetzee und Francis Ford Coppola.
Redonda ist ein fiktives Königreich auf der gleichnamigen unbewohnten Antilleninsel. Shiel wurde im Jahr 1880 von seinem Vater zum ersten König dieser Insel gekrönt. Der vierte König ist nun Javier Marías, der dafür die Erinnerung an das Königreich, die Legende und die früheren Könige wachhalten muß und dafür die Rechte an Shiels Werk geerbt hat und so viele Ämter und Titel verleihen darf, wie er möchte. Sehr viel mehr sagt er über Redonda nicht, denn wie Javier Marías in seinem Vorwort Nur Luft und Rauch und Staub mitteilt, hat er das schon in seinen Romanen Alle Seelen und Schwarzer Rücken der Zeit getan und gedenkt nicht, sich zu wiederholen. Dieses “Fischen nach Lesern” für seine eigenen Werke hat Marías eigentlich nicht nötig und es ist für den Leser nur ärgerlich.
Fazit: Auch wenn die Erzählungen häufig an Poe und andere berühmte Schriftsteller erinnern, und das schreckliche Ende oft vorhersehbar ist, so sind die Geschichten doch höchst unterhaltsam und decken ein breites Spektrum der Phantastik, von der Horrorgeschichte (Vaila), über den Schauer”roman” bzw. die Prosaversion einer Ballade (Die Braut) bis hin zur Entdeckung fremder, außergewöhnlicher Welten (Elendes Los eines gewissen Saul), ab. Außerdem hat Shiel sich nicht nur von berühmten Autoren inspirieren lassen, sondern hat unzweifelhaft auch anderen als Vorbild gedient. Für Freunde der Phantastik sind Shiels Erzählungen ein Muss – lesenswert sind sie allemal.

Cover von Im Land der Frauen von Li Ju-tschenT’ang Ao gelingt es zwar im fortgeschrittenem Alter, die Doktorprüfung als einer der besten abzuschließen, doch aufgrund einer Intrige bleibt ihm die weitere Beamtenlaufbahn verwährt. Mißmutig umherziehend beschließt er, seine Heimkehr so weit wie möglich aufzuschieben. Da kommt es ihm gerade recht, daß sein Schwager Lin, ein Kaufmann, eine längere Seereise antritt und er ihn begleiten kann. Es geht auch alles ganz gut, bis die beiden ins Land der Frauen gelangen und der König sich in Lin verliebt…

-Unter der Herrschaft der Kaiserin Wu lebten in der Provinz Ling-nan im Kreise Ho-yüan zwei leibliche Brüder, T’ang Ao und T’ang Min geheißen.-
Erstes Kapitel

Auch wenn die Geschichte im China des 7. Jhd. n. Chr. beginnt, spielt doch der größte Teil im Land der Frauen, einem Phantasieland, in dem die Geschlechterrollen umgekehrt sind. Mit Ausnahme eines Flusses, der regelmäßig über die Ufer tritt, werden weder Natur noch Architektur weiter beschrieben, das ist aber auch nicht weiter nötig, denn im Zentrum der Erzählung steht das Geschlechterverhältnis und insbesondere die Rolle der Frau. Anzumerken ist hier eine für Leser der westlichen Welt sonderbare Eigenart: Die Bezeichnung “Frau” wird nicht nach physischen Geschlechtsmerkmalen, sondern nach der gesellschaftlich besetzten Rolle vergeben. So kommt es, daß die Frauen lange Bärte im Alter haben und die Männer Kinder zur Welt bringen. Ausführlich wird der Alltag der Frauen dargestellt, wenngleich dieser überspitzt wird – so faulen dem Kaufmann Lin beispielsweise die Zehen der eingebundenen Füße in nur wenigen Tagen ab.
Die Handlung wird vor allem von T’ang Ao und Lin Tschi-yang getragen. T’ang ist ein Gelehrter im fortgeschrittenem Alter, aufgrund einer Intrige ist ihm die weitere Beamtenlaufbahn verwehrt. Da er gerne reist – aber schon ganz China in den letzten 20 oder 30 Jahren gesehen hat – und nach dem Debakel nicht zurück nach Hause mag, schließt er sich seinem Schwager Lin an. Er ist ein kluger, doch bisweilen etwas weltfremder Mensch, auch wenn er den Gesetzesbruch scheut, schreckt er nicht davor zurück, nur Gewalt wendet er nicht an. Lin ist ein junger Kaufmann, er besitzt ein Schiff und versucht mit den geladenen Gütern ein möglichst vorteilhaftes Geschäft (bei möglichst wenig Aufwand) abzuschließen. Lin ist außerdem recht gutaussehend – alles Eigenschaften, die ihm zum Verhängnis werden. Auch wenn er kein Held ist, der alles stoisch erträgt und zuweilen verzagt, so hält er doch seine Versprechen und geht dafür manches Risiko ein.
Daneben gibt es noch ein paar weitere Figuren, wie den Steuermann To, die geborene Lü, die Ehefrau Lins, und deren Tochter Wan-ju neben einigen namenlosen Anderen. Ihre Rolle ist jedoch relativ untergeordnet. Doch allen Charakteren ist eine Glaubwürdigkeit zu eigen, die man selten findet, es sind eben keine Helden und Schurken, sondern Menschen, die ganz menschlich auf ihr Umfeld entsprechend der Rolle, die sie in der Gesellschaft haben, reagieren.
Die Geschichte befaßt sich hauptsächlich mit Lins Leiden als Frau, hinzu kommt noch T’angs Handeln um Lin zu befreien; dieses fällt allerdings sehr zahm aus, ist er doch ein Gelehrter, der zudem um das Gute bemüht ist (sich also nicht in seinen Charakterfehlern sonnt).

Wer hier spannende Intrigen und aufregende Kämpfe erwartet, wird enttäuscht – zwar fließt auch Blut, aber nur als Ergebnis von Strafe, die auch nur begrenzt hart ausgeführt wird um den schönen Körper nicht zu beschädigen.
Die Geschichte schwankt zwischen humorvoll, aufgrund der grotesken Situationen, in die die beiden Schwager geraten – wenn z. B. von einer langbärtigen Palastdame die “beiden reizenden Arschbäckchen” mit den Gesichtern von Pan An und Sung Yü (sprichwörtlichen Schönheiten des chinesischen Altertums) verglichen werden – und tragisch, wenn Lin die Schmerzen nicht länger ertragen kann und darum bettelt getötet zu werden, die Qualen der langsamen Hinrichtung aber auch nicht erträgt und sich schließlich in sein Schicksal fügt.
Sprachlich ist das Werk durchaus gelungen; die Sätze sind zumeist kurz und trocken, was mitunter etwas ungewöhnlich ist, aber das Vokabular beschreibt sehr treffend und vielschichtig die Szenen.
Im Land der Frauen ist eigentlich kein eigenständiges Werk, sondern eine Auswahl an Szenen aus dem Werk Djing Hua Yuan (Spiegel und Blume in seltsamer Beziehung); das Ende wirkt daher auch etwas seltsam und die Kürze ist auch das größte Manko der Geschichte: Man wünscht sich mehr.

20.000 Meilen unter dem Meer von Jules VerneAls Ende des 18. Jh. die Meldung von einem ,,riesigen Seeungeheuer” durch die Weltpresse geht, schließen sich der Naturkundler Pierre Arronax zusammen mit seinem Diener und der Walfänger Ned Land einer Expedition an, die das Tier finden und zur Strecke bringen soll. Bald ist das Objekt ausgemacht, doch als die Jagd beginnt, setzt sich der vermeintliche Wal heftig zur Wehr; die drei Freunde werden über Bord gespühlt. So gelangen sie an Bord des unglaublichen Unterseebootes “Nautilus”, mit dem sie sich, gemeinsam mit dem rätselhaften Kapitän Nemo und seiner Mannschaft, auf eine phantastische Kreuzfahrt durch die sieben Weltmeere begeben …

-Eine seltsame, unerklährliche Naturerscheinung erregte im Jahr 1866 großes Aufsehen.
Die Bevölkerung war durch Gerüchte beunruhigt; Matrosen und Kapitäne, Kaufleute und Reeder sowie Offiziere der Kriegsmarine gerieten in Aufregung, ja sogar die Regierungen in Europa und Amerika schalteten sich ein.-

Eines vorweg: Wer actiongeladene, rasante Unterwassergefechte und ergreifende Romantik erwartet, der wird von diesem Buch enttäuscht sein. In weiten Teilen gleicht es nämlich eher einer utopischen Studie als einem Roman.
Jules Verne schickt den Leser mit seinen Helden auf eine Entdeckungsreise in die Welt unter Wasser, bei der sein Gespür für Zukunftstrends deutlich wird. Es ist schon erstaunlich, wie die beschriebenen Technologien den heutigen ähneln, obgleich Autor und Gegenwart über ein Jahrhundert trennen.
Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht des Forschers Pierre Arronax, der eher ein Mittel zum Zweck denn ein echter Charakter zu sein scheint. Die Ereignisse werden meist (wie für die damalige Literatur üblich) recht neutral und unbeteiligt geschildert, so dass auch der Leser stets eine gewisse Distanz wahrt. Nur gelegentlich sind dramatische oder emotionale Momente zu spüren. Zumal ist Arronax ein Forscher, das heißt, er interessiert sich meist nur für die naturwissenschaftliche Komponente der Reise.
Und hier liegt auch einer der Schwachpunkte der Geschichte: Viel von dem, was Jules Verne erdachte, ist heute entweder wissenschaftlich belegt und bekannt, sodass der Leser eher gelangweilt ist, oder es ist widerlegt, was die auf Realitätsnähe ausgelegte Geschichte unglaubwürdig werden lässt. Was heutzutage ebenfalls befremdlich anmutet, ist der Umgang mit Natur und Tierwelt. Da werden schonmal die “bösen” Pottwale herdenweise von der “guten” Nautilus abgeschlachtet, weil sie ja so fies sind. Damals sicher ein verbreiteter Standpunkt, heute eher empörend.

Aber das Buch hat durchaus auch seine guten Seiten. Gerade am Anfang kann man sich unglaublich gut in die Geschichte hineinträumen, in die einmalige Atmosphäre unter dem Meer und an Bord der Nautilus. Jules Verne beschreibt das Panorama der unterseeischen Wildnis und die barock anmutende Borddeko des Bootes oft so lebendig (wenn auch sparsam), dass man sich sehnsüchtig dorthin wünscht. Der zweite grosse Pluspunkt ist die Figur des Kapitän Nemo. Geheimnisvoll und verschlossen, aber dennoch höflich, wird der Leser bis zuletzt im Unklaren über dessen Identität gelassen. Der Kapitän ist das Mysterium, das Unbekannte, das die Spannung stets aufrechterhält.
Gegen Ende wiederholt sich der Autor dann oft; das Buch bietet wenig neues mehr, nur zum Showdown wird’s nochmal spannend. Ab und an werden seitenweise unwichtige geschichtliche Zusammenhänge erörtert, was der Spannung auch nicht gerade gut tut. Dennoch habe ich die Lektüre dieses Buches nicht bereut; am Ende überwogen doch die positiven Aspekte.
Wer ein wenig vom Ozean träumt, der sollte einen Blick riskieren.

Cover des Buches "Der Meister und Magarita" von Michail BulgakowMoskau in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts: Berlioz, der Chefredakteur einer Literaturzeitschrift und der Lyriker Iwan Ponyrew, genannt Besdomny, diskutieren auf offener Straße darüber, ob Jesus je gelebt hat. Da mischt sich ein Fremder in das Gespräch, der behauptet, er wisse genau, daß Jesus gelebt hat, denn er sei bei der Passion Christi dabeigewesen, übrigens habe er auch mit Kant gefrühstückt und Berlioz würde noch heute abend der Kopf vom Rumpf getrennt. Offensichtlich haben es Berlioz und Besdomny mit einem Irren zu tun. Doch als am gleichen Abend Berlioz tatsächlich seinen Kopf verliert, weiß Besdomny, daß der Unbekannte keineswegs verrückt ist. Er versucht, die Miliz zu alarmieren, was zur Folge hat, das Besdomny in die Psychiatrie eingeliefert wird, da ihm natürlich kein Mensch glaubt. Dort trifft er auf den Meister, der gerade seinen Roman über Pontius Pilatus verbrannt hat. Währenddessen treibt der Teufel höchstpersönlich sein Unwesen in Moskau und verwandelt die ganze Stadt in ein Tollhaus.

-An einem ungewöhnlichen heißen Frühlingstag erschienen bei Sonnenuntergang auf dem Moskauer Patriarchenteichboulevard zwei Männer.-
Sprechen Sie nie mit Unbekannten

Der Meister und Margarita (Master i Margarita) ist eine phantastische Satire auf das stalinistische Moskau, mit Anspielungen auf Goethes Faust und auf russische Schriftsteller wie Dostojewski oder Gogol.

Dieser Roman spielt auf verschiedenen Ebenen.
Bulgakow schildert einmal, was der Satan in Moskau anrichtet. Er nennt sich “Voland”, tritt im Varieté als Magier auf und entlarvt mit seinen grotesken Zauberkunststückchen die Habgier, die Heuchelei und die Schlechtigkeit der Menschen. Außerdem gibt er einen Frühlingsball, auf dem die Geister verstorbener Sünder erscheinen. Alle, die nähere Bekanntschaft mit Voland schließen, wandern in die Psychiatrie, nur eine nicht: Margarita.

Margaritas Liebesgeschichte mit dem Meister bildet die zweite Ebene des Romans. In die Schilderung des Moskauer Geschehens werden Kapitel aus dem Roman des Meisters eingestreut. Dieser Roman behandelt verfremdet die Passion Christi und das Verhältnis zwischen Jesus und Pontius Pilatus.

Das ist die dritte Ebene des Romans. Die unverhohlenste Kritik an dem real existierenden Kommunismus unter Stalin äußert Bulgakow in der Passionsgeschichte und sagt damit gleichzeitig den Untergang des Sowjetregimes voraus. Jeschua erwidert Pontius Pilatus, der ihn verhört:

“Ich habe ihm unter anderem gesagt, … daß von jeder Staatsmacht den Menschen Gewalt geschehe und daß eine Zeit kommen werde, in der kein Kaiser noch sonst jemand die Macht hat.”

Zwar handelt es sich bei Der Meister und Margarita um anspruchsvolle Literatur, trotzdem ist das Buch leicht zu lesen, auch wenn dem Leser ab und an ein Wort begegnet, das ihm nicht geläufig ist. Um den Roman zu verstehen, ist es aber hilfreich, wenn man eine Vorstellung über das Leben im Moskau der dreißiger Jahre besitzt oder wenn man zumindest Erfahrungen mit der DDR gemacht hat. Sonst wird man kaum nachvollziehen können, warum die Menschen sich wegen einer Wohnung korrumpieren lassen oder warum Devisen eine so wichtige Rolle spielen.

Cover des Buches "Münchhausen erzählt" von Gottfried August BürgerDer Baron Münchhausen, ein passionierter Waidmann und Reisender aus Leidenschaft, erzählt am Abend bei einem Glas von seinen haarsträubenden Abenteuern. So erzählt er, wie er sich selbst am eigenen Zopf samt Pferd aus dem Sumpf zog, wie er auf einer Kanonenkugel ritt um den Feind auszuspähen, wie er von Riesenfischen verschlungen wurde, zum Mond reiste und unzähliges mehr.

-Ich trat meine Reise nach Rußland von Haus ab mitten im Winter an, weil ich ganz richtig schloß, daß Frost und Schnee die Wege durch die nördlichen Gegenden von Deutschland, Polen, Kur- und Livland, welche nach der Beschreibung aller Reisenden fast noch elender sind als die Wege nach dem Tempel der Tugend, und man, ohne besondere Kosten hochpreislicher wohlfürsorgender Landesregierungen, ausbessern müßte.-
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Angesiedelt ist die Erzählung in den verschiedensten Regionen der Erde des späten 18. Jahrhunderts (das zweite Seeabenteuer beginnt 1766). Es werden so unterschiedliche und exotische Gebiete besucht wie das winterliche Russland, Ceylon oder das Osmanische Reich mit Konstantinopel und Alexandria. Doch eingehende Beschreibungen gibt es nicht – ganz explizit sagt Münchhausen, er wolle seine Zuhörer nicht mit derartigen Alltäglichkeiten langweilen. Erst in der zehnten Seereise, in der er zum Mond segelt, und der Reise durch die Erde wird etwas über die Bewohner und Umwelt an sich berichtet, da sie selbst schon Lügen sind. Kurzum: Kein Ding, welches der Leser kennen könnte, wird eingehend beschrieben.

Eine Geschichte im herkömmlichen Sinne gibt es nicht; Münchhausen erzählt seinen Zuhörern eine Reihe von erlogenen Anekdoten, die im besten Falle marginal mit einander verknüpft sind. Münchhausens Abenteuer als kohärente Geschichte ist eine Leistung des modernen Films, eine Konzession an die Sehgewohnheiten der Zuschauer.
Die Lügenmärchen aber haben es in sich: Es sind nicht bloß unglaubwürdige Lügen, sondern Parodien jeglicher Form auf die (damaligen) Verhältnisse und Reiseerzählungen, insbesondere des sprichwörtlich gewordenen “Jägerlateins” und des “Seemannsgarns”. So bekennt ein Begleiter Münchhausens der Sohn einer Prostituierten und des Papstes zu sein oder Münchhausens Hündin wirft (auf der Jagd) natürlich ebenso viele Welpen, wie die verfolgte Häsin selbst Junge wirft – selbstverständlich werden alle gefangen.
Aufgrund dieser extremen Zuspitzung können weder Alltäglichkeiten noch Charaktere beschrieben werden.

Sprachlich ist das Werk ebenfalls sehr gelungen und den Gegebenheiten wunderbar angemessen; manchen mag allerdings dieses altertümliche Deutsch, welches bisweilen reichlich verschachtelt ist, abschrecken. Bürger gelingt es immer wieder bekannte Ausdrücke einzuflechten und dem Stil der volkstümlichen Erzählung anzupassen.
Die Bewertung fällt sehr schwer, da es ein sehr spezielles Werk ist; vieles, was in anderem Zusammenhang negativ zu werten ist, ist hier beabsichtigt. Wer also die Prämissen akzeptieren kann, der wird ein einmaliges Lügenmärchen aufgetischt bekommen. Wer die Prämissen nicht teilen mag, der sollte einen großen Bogen um den Münchhausen machen.

Eine Bemerkung zur Textgeschichte: Die erste schriftliche Fassung dürfte das 1781 in Berlin veröffentlichte Vade Mecum für lustige Leute, enthaltend eine Sammlung angenehmer Scherze, witziger Einfälle und spaßhafter kurzer Historien aus den besten Schriftstellern zusammengetragen, Achter Teil sein. In diesem hatte ein Unbekannter einige Geschichten des berüchtigten (realen) Münchhausen aufgeschrieben. 1785 erschien in England allerdings Baron Munchhausen’s Narative of his Marvellous Travels and Campaigns in Russia, geschrieben hatte es der flüchtige Rudolf Erich Raspe (er hatte eine Münzsammlung gestohlen und verkauft; darauf musste er nach England fliehen). 1786 schon erschien eine zweite Auflage, (von Raspe) erweitert um die Seeabenteuer. Im selben Jahr erschien in Göttingen (London als Druckort war vorgetäuscht) das Werk Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abenteuer des Freyherrn von Münchhausen, wie er dieselben bey der Flasche im Cirkel seiner Freunde selbst zu erzählen pflegt. Doch dieses war keineswegs eine bloße Übersetzung; vielmehr hat Bürger dem Text die gelungene Form gegeben und wohl auch etwas erweitert.
Seitdem erfreut sich der Text enormer Beliebtheit und auch andere Herausgeber behandelten diesen nach eigen Gesichtspunkten; Episoden wurden in eine neue Reihenfolge gebracht oder ganz ausgelassen (die Prostituierte und der Papst fehlen häufig), sie wurden nacherzählt und umformuliert, schließlich wurden sie (durch den Film) in einem kohärentem Zusammenhang gebracht; es lassen sich also kaum zwei textidentische Auflagen finden.
Doch das Lügenmärchen hörte durchaus nicht mit Lord Dunsanys Jorkens-Geschichten auf zu bestehen; auch in neuester Zeit finden sich Lügenmärchen. Dem Fantasy-Leser könnten Geschichten wie Wilde Reise durch die Nacht oder Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär, jeweils von Walter Moers, bekannt sein.

Wer die Geschichte Online lesen mag, der kann dieses auf den Seiten des “Gutenberg-Projektes” machen; weitere interessante Details finden sich hier: http://www.munchausen.org/.

Cover des Buches "Pique Dame" von Alexander PuschkinLisaweta Iwanowna lebt als Pflegetochter bei einer über achtzigjährigen Gräfin. Die junge Frau leidet unter den Schrullen der alten Dame und auf den Bällen der guten Gesellschaft bleibt ihr nur die Rolle des Mauerblümchens. Umso erfreuter ist Lisaweta als Hermann, ein junger Offizier, ihr den Hof macht. Sie ahnt nicht, dass Hermann sie nur als Mittel zum Zweck benutzt. Er will von der Gräfin das Geheimnis erfahren, wie man im Kartenspiel gewinnen kann, das diese in ihrer Jugend von dem Grafen Saint-Germain  gelernt haben soll. Um sich der Greisin nähern zu können, bändelt der junge Offizier mit Lisaweta an.

-Bei Narumow, einem Offizier der Gardekavallerie, spielte man Karten. Die lange Winternacht ging fast unbemerkt, vorüber; zum Abendbrot setzte man sich um fünf Uhr morgens.-
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Pique Dame (Pikawaja Dama) fasziniert den Leser durch die Ironie, die immer wieder aufblitzt und durch die realitätsnahe Erzählweise. Puschkins Charaktere scheinen direkt aus dem Leben gegriffen: Die alte Gräfin, die ihrer verlorenen Jugend nachtrauert und sich immer noch kleidet wie vor sechzig Jahren; Lisaweta, die keineswegs solch ein armes, unglückliches, vom Leben benachteiligtes Geschöpf ist, wie man zunächst glaubt und Hermann, der habgierig ist, sich aber so lange das Kartenspiel verbietet, bis er die Gewissheit hat, dass er ohne Risiko gewinnen kann. Eigentlich sind sie alle miteinander bemitleidenswerte Figuren, doch Puschkins bisweilen fast bösartige Ironie mit der er z.B. schildert, wie die Gräfin ausgekleidet wird, verhindert, dass wirkliches Mitgefühl aufkommt.

Wie bei jeder guten phantastischen Erzählung fragt sich der Leser am Ende der Novelle, ob sich tatsächlich etwas Übernatürliches ereignet hat, oder ob einer der Protagonisten nicht von Anfang an unter Wahnvorstellungen leidet. Investieren Sie eine knappe halbe Stunde für einen Ausflug in die Weltliteratur und finden Sie es selbst heraus.

Cover des Buches "Prinzessin der Haie" von Thomas Burnett Swann Als Charlie auf einen Schlag Mutter und Bruder verliert, verfällt er in eine tiefe Depression. Damit endet sein bisher so glückliches und behütetes Leben. Er verlässt die Universität und bewirbt sich für eine Stelle als Hauslehrer auf einer einsamen Karibikinsel.
Dort findet er nicht nur einen guten Freund und seine erste große Liebe, sondern er begegnet auch dem seltsamen Mädchen Jill und Curk, einem mysteriösen Fremden, der der eigentliche Herr der Insel zu sein scheint. Während Charlie versucht, Jill ein wenig Benehmen und klassiche Bildung zu vermitteln, gerät er in große Gefahr.

-Ich richte meine Geschichte nicht an meine Mitdelphine, obwohl ich sie natürlich, wie es bei meiner Rasse üblich ist, immer und immer wieder meinem erstgeborenen Sohn erzählen werde, bis er sie, Wort für Wort, einmal an seinen Erstgeborenen weitergeben kann.-
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In Prinzessin der Haie (The Goat without Horns) wendet sich Thomas Burnett Swann von der klassischen antiken Mythologie ab und verarbeitet Elemente aus der Sagenwelt der Karibik und der Seefahrt.
Gleich zu Beginn lernt der Leser “Grübler”, den Erzähler, kennen. Dessen Perspektive wechselt im Laufe der Geschichte mehrfach: so gehen Passagen, die in der ersten Person erzählt werden, nahtlos in Kapitel über, in denen Grübler eine reine Beobachter- oder Nacherzählerstellung einnimmt. Diese für Swann typische Art des Erzählens schafft eine fast authentische Atmosphäre, da sie das Gefühl vermittelt, die Geschichte von einem direkt Beteiligten zu hören.
Und wie für Swann auch typisch, ist Grübler nicht einfach ein Mensch, sondern diesmal lässt er die Geschichte von einem Delphin erzählen. Ähnlich wie Charlie, die Hauptperson der Erzählung, hat Grübler vor kurzem seine Mutter verloren und hat sich von seinen Artgenossen zurückgezogen. So ist es nur logisch, dass die Beiden gleich bei ihrer ersten Begegnung einen Seelenverwandten im jeweils anderen finden und sofort Freundschaft schließen. Nachdem Grübler kurz erzählt hat, wie er selber zur Insel “Oleandra” kam und den Leser bei dieser Gelegenheit mit der Welt der Delphine vertraut gemacht hat, wendet er sich bald Charlie und dessen Geschichte zu.

Charlie wirkt, aus Grüblers Sicht beschrieben, wie der perfekte Held einer romantischen Geschichte: gutaussehend, sportlich, empfindsam, bescheiden und klug. Auf Grund des Erzählstils wird aber schnell klar, dass Grübler ein sehr junger Delphin ist. So relativiert sich die beschriebene Perfektion zur Schwärmerei eines Jugendlichen, dessen fehlende Lebenserfahrung einen Großteil seines Urteilsvermögens ausmacht. Genauso unerfahren kommt auch Charlie auf die Insel. Bis zum gleichzeitigen Tod seiner Mutter und seines Zwillingsbruders wohlbehütet aufgewachsen, in einer Atmosphäre der Liebe und Harmonie, begegnet er seiner Umwelt mit einer Selbstgerechtigkeit, die nahezu kindlich wirkt und den Leser eher nachsichtig lächeln lässt, als dass er Charlies Verhalten übel nimmt.
Sicher trägt auch Swanns leichte und poetische Sprache zu diesem Lächeln bei, die gerade in den Begenungen Charlies mit Elisabeth, seiner Arbeitgeberin, so weit aufblüht, dass sie fast ironisch wirkt.

Elisabeth, um einiges älter als Charlie, doch in ewiger Jugend erstarrt, ist die Frau, in der Charlie seine erste große Liebe findet. Beide schwärmen für die gleichen Dichter und nehmen ihre Umwelt durch einen romantisch verklärten Schleier der Melancholie wahr. So erschafft Swann mit Elisabeth einen Charakter, der für Charlie tröstende Mutter, geheimnisvolle Fremde und romantische Geliebte zugleich sein kann.
Ihre Tochter Jill ist so ganz anders als Elisabeth. Ihre direkte, forsche Art des Auftretens, frei von jeglicher Konvention, wirkt fast brutal in diesem Umfeld und lässt Charlie anfangs heftig erschrecken. Da ihre Mutter gesundheitlich stark angeschlagen ist, wurde Jill von Curk erzogen.
Dieser wiederum ist ein Eingeborener, der fest in den Werten und Mythen seines Volkes verankert ist. Er besetzt für Jill die Vaterrolle und Elisabeth kann seiner kraftvollen und düsteren Ausstrahlung wenig entgegensetzen. Da erstaunt es den Leser wenig, dass Jill mit einer Art Geringschätzung auf ihre Mutter herabschaut und Curk nahezu vergöttert.

Erscheint Curk dem Leser geheimnisvoll und stark, so kommen seine Stammesgenossen gar nicht gut weg. Sie werden durchgehend als böse, faul und degeneriert dargestellt. Ob Swann mit dieser Art der Beschreibung provozieren wollte, ob er der Meinung war, dass diese Darstellung einer richtigen Abenteuergeschichte angemessen ist oder ob er wirklich in dieser typisch kolonialen Sichtweise gefangen war, muss wohl jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Auch verlangt die Erzählung die Bereitschaft, sich auf die Idealisierung des viktorianischen Frauenbildes einzulassen: wunderschön, gebildet aber auch zurückhaltend und wohlerzogen soll SIE sein. Zwar wird dieses Idealbild zwischendurch gebrochen – erst durch die Grenzüberschreitung Elisabeths wird die Romanze zwischen ihr und Charlie möglich, und auch Jill fasziniert diesen anfangs mit ihrem betont “unweiblichen” Auftreten – doch am Ende unterwerfen sich beide Protagonistinnen wieder dem klassischen Frauenbild ganz bewusst und nahezu begeistert: “Auf dem Schiff werde ich mein Haar wachsen lassen. Es wächst sehr schnell. In ein paar Monaten müßte ich eigentlich präsentabel aussehen.” (Jill, Kap. 12) und können nur dadurch wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden.

So begegnet dem Leser hier also eine Erzählung, die nicht frei von Ecken und Kanten ist. Doch hier ist es nun wieder Grübler, dessen ganz eigene Sicht auf das menschliche Verhalten die Ecken abmildert, der Geschichte ihre Unschuld bewahrt und ihr einen heiteren Nebenton verleiht. Grüblers jugendliche, ja fast kindliche Sicht auf die Geschehnisse, gepaart mit Swanns schon erwähntem blumigen Schreibstil und einem fast schwülen kolonialen Setting, machen aus Prinzessin der Haie das, was es ist: eine unterhaltsame Geschichte für Liebhaber poetisch-melancholischer Abenteuer mit einem Hauch Mystik.

Cover von Reise durch das Sonnensystem von Jules VerneAls sich Hauptmann Hector Servadac und Graf Timascheff am Morgen des 1. Januar zu einem Duell gegenüberstehen, reißt ein Komet aus Gold ein Stück Algerien mit einem Teil des Mittelmeers und ein wenig Gibraltar aus der Erdkruste. Auf diesem Brocken treten nun die beiden Kontrahenten, zusammen mit einer handvoll Menschen, auf einer elliptischen Bahn die Reise durch das Sonnensystem an. Die äußeren Planeten Jupiter und Saturn rücken näher – es wird eiskalt. Die Menschen flüchten sich in das Höhlensystem eines aktiven Vulkans – sind Hauptmann Servadac und seine Schicksalsgenossen in der Tiefe des Weltraums verloren oder gibt es noch Hoffnung, zur Erde zurückzukehren?

-Gallia??? Ab sole, au 15. fév., dist. 236 000 000 km! Chemin parcouru de janv. à fév.: 128 000 000 km.
Va bene! All right! Parfait!!!-
Kapitel 12

Jules Verne gestaltet die Romanhandlung so, daß Hauptmann Servadac, der Held der Geschichte, seine Ordonnanz Ben-Zouf, der russische Graf und Servadacs Rivale Timascheff und all die anderen erst einmal keine Ahnung haben, was eigentlich passiert ist. Es wird lange herumgerätselt ob denn die Erde ihre angestammte Umlaufbahn verlassen habe, da jetzt die Sonne statt im Osten im Westen aufgeht… Ob die Erde durch den Zusammenstoß mit dem Kometen an Masse verloren habe, da man nun mit einem Sprung eine Höhe von bis zu 12 m erreichen kann …

Dieses Rätselraten bildet zunächst das Hauptmotiv des Romans – die Beschreibung und Erforschung des Himmelskörpers “Gallia” nimmt einen Großteil der Handlung in Anspruch. Dynamik wird dadurch ins Geschehen gebracht, daß sich der Komet in einer elliptischen Bahn zunächst zur Sonne hin (was die Temperaturen dramatisch ansteigen läßt) und dann sehr weit von der Sonne wegbewegt. Proportional zur Entfernung von der Sonne sinken die Temperaturen drastisch ab.

Die Originialausgabe erschien 1877 zweibändig in Paris unter dem Titel Hector Servadac. Voyages et aventures á travers le monde solaire, wovon der erste Band am 19. Juli 1877 und der zweite am 7. November des gleichen Jahres erschien. Der Verlag Bärmeier u. Nikel hat diesen Roman neu übersetzt und stark gekürzt, wobei besonders, wie der Verlag mitteilt, die allzu polemischen Äußerungen Vernes über den im Roman als Händler auftretenden Juden Hakhabut herausgestrichen bzw. abgemildert wurden. Doch auch in dieser überarbeiteten Ausgabe werden Vernes Meinungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen seiner Zeit deutlich. Nicht nur bei dem jüdischen Händler wird mit antisemitischen Äußerungen nicht gespart – auch eine Begegnung von Hector Servadac mit ein paar Briten auf einem Reststück von Gibraltar läßt erahnen, wie der Autor zum “Empire” stand. Dementsprechend sind die auftretenden Figuren hauptsächlich kulturelle (und nationalchauvinistische) Stereotpye, von den untadeligen Franzosen über die machtgierigen Briten bis hin zum geldgierigen Juden.

In dieser Geschichte reihen sich Vermessungsdaten mit Berechnungen zu Masse und Gewicht, Beobachtungen zum Stand der Sterne, der Sonne und Planeten, der Beschaffenheit von Küstenlinien und Landschaften aneinander, ohne daß irgendetwas nennenswertes passiert. Der Verlag unterstützt diese an einen wissenschaftlichen Text erinnernde Erzählweise noch, indem er die Angaben zu Maßen und Gewichten, Zeit und Entfernungen mit ihren physikalisch-mathematischen Kürzeln versieht. Hinzu kommt noch, daß der Zusammenstoß des Kometen mit der Erde zu Beginn der Geschichte von niemandem bemerkt wird. Weder die herausgesprengten Teile von Algerien noch von Gibraltar werden vermißt, so daß man sämtlich glücklich Heimgekehrten ihre Abenteuer nicht glaubt. Es löst sich alles zuvor Beobachtete und Berechnete in einem bloßen Traumgespinst auf, daß nur der Phantasie der Heimgekehrten entsprungen zu sein scheint. Dieses Ende ist zu einfach und zu glatt, um glaubwürdig zu sein und ist deshalb auch leider nicht befriedigend.

Cover von Reise zum Mond und zur Sonne von Savinien de Cyrano de BergeracNachdem der Ich-Erzähler mit einigen Freunden über das Wesen und die Funktion des Mondes philosophiert hat, beschließt er auf den Mond zu reisen. Er landet auf dem Mond und zwar genau an der Stelle, an der sich das irdische Paradies befindet. Dort trifft er den Propheten Elias. Die beiden beginnen ein Streitgespräch, in dem Cyrano solch lästerliche und ketzerische Thesen vertritt, daß Elias ihn aus dem Paradies wirft. Cyrano wird von den Mondbewohnern aufgegriffen, die ihn für einen Affen halten, weil er sich nicht wie sie auf allen Vieren fortbewegt und er wird dort zu einem anderen “Affen”, einem Spanier, in einen Käfig gesperrt. Schließlich kommt er auf die Erde zurück, nur um zur Sonne zu reisen und schließlich einiges über die Liebe zu erfahren.

– Es war Vollmond, klarer Himmel, und es hatte neun Uhr abends geschlagen, als wir, vier meiner Freunde und ich, aus einem Haus in Clamart bei Paris zurückkehrten, wo der junge Monsieur de Cuigy, der dort der Grundherr ist, uns bewirtet hatte. –

Eine kurze Inhaltsangabe kann Cyrano de Bergeracs Reise zum Mond und zur Sonne nicht gerecht werden. Cyrano ergreift in seinem mutigen Werk Partei für die Aufklärung und gegen die Kirche und andere Autoritäten seiner Zeit. Nun hält er aber keine Philippica gegen Aberglauben und Volksverdummung, seine Waffen sind Esprit und Witz, Ironie und Satire. De Bergeracs Florett ist die geschliffene Sprache, mit der er für seine Überzeugungen ficht. Auf dem Mond wird Cyrano von den Priestern beim König angezeigt, weil er es gewagt hat zu behaupten, daß die Welt der Lunarier nur ein Mond sei und keine Erde, er hingegen von der Erde käme und nicht etwa vom Mond, wie die Lunarier glauben. Man holt ihn aus seinem Käfig, der Groß-Pontifex hält eine Anklagerede und am Ende wird Cyrano an alle Ecken der Stadt geführt, wo er seine Überzeugung widerrufen muß: “Untertanen, ich erkläre, daß dieser Mond hier kein Mond ist, sondern eine Erde, und daß diese Erde dort keine Erde ist, sondern ein Mond. Das ist, was die Priester für gut erachten, das Ihr glauben sollt.” Die ganze Schilderung ist eine geistreiche Anspielung auf den Prozeß gegen Galileo Galilei.

Köstlich und außerordentlich einleuchtend ist auch die Episode, in der der Dämon des Sokrates Cyrano vor Augen führt, daß Gott den Menschen keineswegs mehr liebt als Kohlgemüse, ja warum ihm wahrscheinlich am Kohl mehr gelegen ist als an den Menschen. Und alle, die noch der Auffassung anhängen, die Sonne drehe sich um die Erde, versucht de Bergerac mit diesem Beispiel zu überzeugen: “Es wäre gerade so lachhaft zu glauben, der große leuchtende Körper drehe sich um einen Punkt, mit dem er nichts zu schaffen hat, als sich vorzustellen, wenn wir eine gebratene Wachtel sehen, man habe, um sie zu rösten, den Kamin um sie herum gedreht.”
Cyrano de Bergerac bezieht sich immer wieder auf philosophische und wissenschaftliche Werke zeitgenössischer Geistesgrößen wie Pierre Gassendi, Hieronymus Cardanus, Tommaso Campanella und anderen, die dem heutigen Leser nicht mehr geläufig sind. In solchen Fällen leistet der hervorragende Anhang mit seinen Anmerkungen ausreichend Hilfe.

Aber nicht nur Cyranos Umgang mit den philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit faszinieren, sondern auch die Tatsache, daß ganz offensichtlich sich andere und dazu völlig unterschiedliche Künstler von ihm haben inspirieren lassen. Die futuristischen Flugmaschinen erinnern an Jules Verne, Swift scheint sich Anregungen für Gullivers Reisen geholt zu haben, in Schillers “Die Räuber” finden sich Gedanken über Vaterschaft, die denen Cyrano de Bergeracs verblüffend ähnlich sind und daß die Herrschaftsverhältnisse umgekehrt werden, die Tiere die Menschen in Käfige sperren und sie als minderwertige Geschöpfe ansehen, hat man unter anderem in Planet der Affen gesehen.
Savinien de Cyrano de Bergerac findet ohne Mühe dreieinhalb Jahrhunderte nach seinem Tod den Weg in die Herzen seiner Leser.

Cover von Der rote Löwe von Mária SzepesHans Burger, geboren im Jahr 1535, verläßt schon früh sein trostloses Elternhaus und verdient sich seinen Lebensunterhalt als Hausbursche in einem Gasthaus. Dort lernt er den Alchimisten Rochard kennen, der den wißbegierigen Jungen bei sich aufnimmt und ihn in die Wissenschaft der Weißen und Schwarzen Magie einweist.
Schon bald entdeckt Hans, daß sein Lehrmeister das Geheimnis des ewigen Lebens kennt, ein Elixier mit Namen “Der Rote Löwe”…

– Adam Cadmons Brief erreichte mich vor vielen Jahren im Sommer 1940 in jenem kleinen Haus, von dem außer einigen engen Freunden niemand etwas wußte. –

Mária Szepes ist eine wunderbare Erzählerin. Ihre Sprache ist kraftvoll, präzise und sehr plastisch, so daß der Leser die Beweggründe ihrer Charaktere, deren Emotionen und Beziehungen untereinander sehr gut nachvollziehen kann. Leider ist die Autorin nicht beim reinen Erzählen geblieben.

Der rote Löwe (A vörös oroszlan) ist in drei Teile gegliedert. Schon in den ersten beiden Teilen gibt es einige Abschnitte, in denen die Sprache sehr ins mystisch-esoterische abgleitet und die daher reichlich abgehoben wirken. Man könnte dies noch als Versuch der Autorin ansehen, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Handlungsweise der Protagonisten verdeutlicht -zwar etwas störend, aber vertretbar. Am Anfang des dritten Teils wird aber unmißverständlich deutlich, daß Szepes nicht nur eine Geschichte erzählen will, sondern daß sie versucht, eine neue Religion, bzw. eine esoterische Weltanschauung zu etablieren. Und tatsächlich ist Mária Szepes die Gründerin einer esoterischen Schule. Der Leser merkt die Absicht und ist verstimmt, jedenfalls dann, wenn er Romane liest, um sich zu unterhalten und nicht, um indoktriniert zu werden. Die Autorin tritt stellenweise unverhüllt hinter ihren handelnden Personen hervor und propagiert plakativ ihre esoterische Philosophie. Dies vergällt einem völlig die Lust an einem ansonsten gut geschriebenen Roman und trägt auch die Schuld daran, daß das Ende äußerst unbefriedigend ist.
Ein Wort an den Verlag: Da man nicht von jedem Leser, der das Buch zufällig in die Hand bekommt, annehmen darf, daß er sich mit dem esoterisch/alchimistischen Fachvokabular auskennt und dazu noch so gut in Latein ist, daß er die lateinischen Wörter und Inschriften versteht, von denen hier die Rede ist, wäre ein Glossar am Ende des Buches angebracht.

Cover des Buches "Der Sandmann" von E.T.A. HoffmannNathanael ist Student in einer kleinen Stadt, zu Hause wartet seine Verlobte Clara auf ihn – ein scheinbar perfektes Leben. Doch die Vergangenheit holt Nathanael ein: als Kind beobachtete er seinen Vater bei geheimen alchimistischen Versuchen mit dem Advokaten Coppelius, einem kinderhassenden, unfreundlichen Riesen. Bei einem letzten Experiment geht etwas schief und Nathanaels Vater stirbt bei einer Explosion, Coppelius ist aber verschwunden. Eines Tages klopft es an Nathanaels Tür und der Wetterglashändler Coppola tritt ein. Nathanael ist zu Tode erschrocken: Coppola sieht genauso aus wie Coppelius! Aber ist er es wirklich, oder tut er dem Wetterglashändler unrecht? Und was ist mit der seltsamen Nachbarstochter, die ihn die ganze Zeit beobachtet?

-Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. »Augen her, Augen her!« rief Coppelius, mit dumpfer, dröhnender Stimme.-
Seite 9, Zeile 19 ff.

Der Sandmann war eine Pflichtlektüre im Deutschunterricht und ich war anfangs gar nicht davon begeistert. Der Titel versprach anscheinend Einschlafgarantie, aber das Buch hat mich sehr positiv überrascht.

Die Novelle beginnt mit einem Briefwechsel von Nathanael an Clara bzw. Lothar, deren Bruder, in welchem Nathanael seine Situation schildert. Bereits auf den ersten Seiten erfährt man, wie sehr der Besuch des Coppola ihn mitnimmt und welch starken Gefühle Nathanael ergreifen. Schon allein dieser eine Besuch und die Erinnerung an das Unglück bringen ihn völlig aus der Fassung und zerstören fast sein Liebesglück, denn er kann sich nicht von seinen Gefühlen trennen. Zunächst flacht dann die Spannungkurve etwas ab, bevor sie wieder rassant steigt: eine weitere Person betritt das Geschehen, Olympia, die Tochter eines Professors. Doch wie passt sie da hinein und warum beobachtet sie die ganze Zeit Nathanael?

Ob Nathanael nun einen Sinn für das “böse Prinzip” in der Welt hat oder vielleicht geisteskrank ist, wird vom Autor nicht verraten. Clara versucht durch den ganzen Roman einen guten Einfluss auf ihren Verlobten auszuüben, doch der entzieht sich immer mehr ihren beruhigenden Worten. Realität und Phantasie verschwimmen und am Ende bleibt es dem Leser überlassen, über Nathanael zu urteilen.
Hoffmanns Bild von Nathanael zeigt die Gefährdung des Menschen, wenn dieser nicht mehr in der Lage ist, zwischen Traum und Realität zu unterscheiden. Nathanael ist gefangen in seiner Vorstellung, dem Mörder seines Vaters gegenüberzustehen. Doch ob Coppola und Coppelius ein und dieselbe Person sind, wird nicht verraten.

Neben den romantischen Leitbildern lässt Hoffmann auch bitterböse Ironie über die damalige Gesellschaft mit einfließen. Genau diese Ironie rundet den Roman hervorragend ab.
Nur wenige Bücher haben mich so überzeugt wie dieses. Obwohl es schon fast 200 Jahre alt ist, erzeugt es immer noch Spannung und ein gewisses Gänsehautgefühl, gerade heute, da die eigentliche Thematik aktueller denn je ist.

Stimme in der Nacht von William Hope HodgsonDie Boote der Glen Carrig sind zwei Rettungsboote, die sich durch unbekannte Gewässer schlagen und auf Inseln mit geheimnisvollen  Bewohnern treffen, immer auf der Suche nach Nahrung, Wasser und einer Möglichkeit, wieder in die Heimat zu gelangen.
Die Herrenlose ist ein treibendes Wrack, das von der Besatzung eines vorüberkommenden Schiffes entdeckt wird und ein unheimliches Geheimnis verbirgt.
Die Nachtwache eines kleinen Schiffes hört eine Stimme in der Nacht. Der Sprecher sitzt in einem kleinen Boot und fleht um Nahrung, aber er will sich um keinen Preis zeigen.
Die Crew der Lancing segelt durch tropische Gewässer, als plötzlich Dampf aus dem Meer aufsteigt. Ein fremdes Schiff nimmt ihre Verfolgung auf.

-Wir waren nun seit fünf Tagen in den Booten und hatten während dieser ganzen Zeit kein Land entdeckt.-
Die Boote der “Glen Carrig”: 1 Das Land der Einsamkeit

In vier Geschichten wendet sich der britische Autor William Hope Hodgson seinem Lieblingsthema – der See – zu. Aber nicht Riffe, Haie, Piraten oder Skorbut sind es, gegen die die Seeleute hier bestehen müssen, sondern vielmehr übernatürliche Schrecken der Meere. Hodgson, der selbst zur See gefahren ist, plaudert aus dem Nähkästchen und verlangt dem Leser einiges an maritimem Vokabular ab, aber die Geschichten sind auch ohne Spezialkenntnisse verständlich – auf die Gefahr hin, nicht ganz genau zu wissen, welcher der Masten gerade vom Sturm geknickt wurde …
Die Crew der Lancing ist die längste der vier Geschichten, mit 160 Seiten eigentlich ein eigener Roman. Sie wartet mit dem unkommodesten der vier Ich-Erzähler auf – keinem einfachen Seemann, sondern eine wohlhabenden, gebildeten Passagier, der einen affektierten, sehr ausführlichen Sprachstil pflegt. Deshalb eignet sich die Geschichte nicht sonderlich gut zum Einlesen ins Hodgsons Stil; sie ist auch die am wenigsten überzeugende der Sammlung. Ursprünglich als Fortsetzungsroman erschienen, gibt es in den kurzen Episoden zwar massenhaft Abenteuer zu bestehen, Kämpfe gegen tückische Meeresteufel, schleimige Blutsauger und heulende Bäume; Stürme werden überstanden und fremde Länder erkundet – aber einen großen Spannungsbogen oder eine Entwicklung der Geschichte gibt es nicht.
Die Herrenlose wird von einem Schiff entdeckt, das mit dem Schiffsarzt und dem naturwissenschaftlich interessierten Ich-Erzähler eine Besatzung aufbietet, die eine wissenschaftliche Erklärung für die übernatürlichen Vorgänge auf dem Wrack sucht – aber sie scheitert und erfährt, daß die See unerklärlich und unerfassbar bleibt. Auch in dieser Geschichte gibt es Kämpfe und Action, und Hodgson versteht es, die Atmosphäre des Übernatürlichen langsam aufzubauen und in Form eines treibenden Wracks in den Alltag der Seeleute eindringen zu lassen.
Die beeindruckendste Geschichte der Sammlung ist allerdings das titelgebende Stimme in der Nacht. Hier erfährt nicht der Ich-Erzähler und mit ihm die Besatzung des Schiffes am eigenen Leib, welche Schrecken das Meer bereithält, sondern nur durch die Worte der geheimnisvollen Stimme, die ihr Schicksal von einem Rettungsboot aus erzählt, wird das reine Grauen vermittelt. Hodgson vermag es, den Leser an die unglaublich Erzählung des Fremden zu bannen. Die Thematik ist eine ähnliche wie bei der vorausgehenden Geschichte, aber hier läuft alles ohne Action ab und das Unheimliche stiehlt sich leise und eindringlich in die Vorstellung des Lesers.
Die Crew der Lancing schließlich setzt auch auf eine unheimliche Begegnung mit einem anderen Schiff, und hat aufgrund des tropischen Settings einen etwas anderen Charakter als die vorausgehenden Erzählungen. Dennoch ist sie nach einem ähnlichen Muster aufgebaut.

Wenn man sich auf Hodgsons mittlerweile etwas antiquierten Stil einläßt, wird man feststellen, daß die Faszination des Unbekannten, das auf und unter den endlosen Wassern lauert, bis heute nicht nachgelassen hat. Der Autor versteht es, der Nachtseite des Meeres erschreckende Gesichter zu verleihen. Anklänge an den Cthulhu-Mythos werden wach bei den Gestalten, die die See in diesen Geschichten ausspuckt, und es verwundert nicht, daß H.P. Lovecraft Hodgsons Werk schätzte.

Cover des Buches "Through the looking glass" von Lewis CarollIm Spiel mit ihrem kleinen schwarzen Kätzchen vertieft, überlegt das Mädchen Alice sich, wie lustig es auf der anderen Seite des Spiegels wohl sein mag, und so geht sie durch diesen ins Spiegelhaus. Sich dort umschauend sieht sie, wie die Figuren des Schachspiels lebendig werden. Auch sonst ist einiges sonderbar, und Alice beschließt sich den Garten anzusehen, was ihr zunächst sehr schwer fällt, da die Wege vom Haus weg zum Haus hinführen. Erst nach einigen Anstrengungen kann sie dem Haus entkommen. Im Garten trifft sie auf die Schwarze Königin, die dem Mädchen erklärt, wie es vom Bauern zur Königin werden kann. Alice nimmt die Herausforderung an und beginnt eine höchst bizarre Reise…

-One thing was certain, that the white kitten had had nothing to do with it: – it was the black kitten’s fault entirely.-
Chapter 1 Looking-Glass House

Die Welt hinter dem Spiegel ist eine höchst eigenartige, verzerrte und verdrehte Variante des “realen” Englands des späten 19. Jh., auch wenn es nirgends explizit erwähnt wird, so schimmert doch das Britische überall durch.
Um ihr Ziel zu erreichen, muss Alice zur anderen Seite des Landes reisen, welches in schachbrettartige Felder unterteilt ist. Wobei es beim Überqueren der Feldergrenzen zu drastischen Veränderungen kommen kann – während sie im ersten Feld noch auf einer Wiese geht, sitzt sie nach dem Übergang plötzlich in einem fahrenden Zug und wird von einem Schaffner angeschnauzt.

Unterwegs trifft Alice auf äußerst bizarre Figuren; so unterhält sie sich mit sprechenden Blumen – einige sind hilfsbereit, andere sind besserwisserisch; sie lernt die Weiße Königin, eine etwas hilflos wirkende Dame, die in der Zeit rückwärts lebt, und die Schwarze Königin, die sich Alice gegenüber sehr ambivalent verhält, kennen; sie muss sich mit den aufgeblasenen Brüdern Tweedledum und Tweedledee auseinandersetzen, die Höflichkeit einfordern, aber selbst unhöflich sind; sie lässt sich vom eiförmigen Humpty Dumpty das Gedicht vom Jabberwocky erklären und vom tolpatschigen Weißen Ritter, der viele fragwürdige Erfindungen macht, gegen den Schwarzen Ritter, der die Kleine gefangen nehmen will, verteidigen.
Daneben trifft sie ein Schaf, das einen Kaufmannsladen führt, den Weißen König und seine Boten, den Löwen und das Einhorn und zahllose andere groteske Gestalten.

Das die Figuren irgendwie plausibel seien, wird niemand behaupten, denn sie verhalten sich dermaßen absurd, dass selbst die einfachsten Gespräche zur Herausforderung werden – die anderen akzeptieren kaum die alltäglichen Deutungen. Besonders deutlich wird dieses bei Redewendungen: Als Humpty Dumpty erklärt, dass er lieber Un-Geburtstagsgeschenke möge, bittet Alice mit “Beg your pardon?” um eine Erläuterung, doch ihr Gesprächspartner nimmt es wörtlich: “I’m not offended.” Dennoch sind die Figuren alle einzigartig, keine ist ein bloßes Klischee oder unausgereift.

Alice selbst ist genau sieben Jahre und sechs Monate alt, sie hat viel Phantasie und Abenteuerlust. Während sie in der “Realität” die Unvernünftige ist, wird sie in der Spiegelwelt scheinbar zur Vernünftigsten, gemessen an den normalen Maßstäben; gemessen an denen der anderen Welt ist sie auch hier unvernünftig. In der ganzen Geschichte ist sie die einzige plausible Figur, Carroll trifft die Eigenarten eines Kindes wieder sehr gut.

Der Plot an sich ist relativ nebensächlich: Um eine Königin zu werden muss Alice, die als Weißer Bauer startet, ins achte Feld und so macht sie sich auf die Reise. Der Schwerpunkt der Story liegt ganz deutlich auf den grotesken Begegnungen, die mal komisch sind (oder furchterregend, wenn man sie ernst nimmt) und mal zum Nachdenken über Sinn und Unsinn von Sprache und Gebräuchen anregen.
Dieses erreicht Carroll einerseits durch seine Wortspiele und andererseits durch die (alp-)traumhaften Wandlungssequenzen. Im Vergleich zum ersten Buch ist Through the Looking Glass (Alice hinter den Spiegeln) düsterer geraten; es fehlt zwar an einer Bedrohung, aber durch die schnellen Verwandlungen und abrupten Wechsel wird das gewohnte Kausalitätsgefüge noch stärker aufgebrochen.

Außerdem werden viele Gedichte und Lieder zum Besten gegeben, die durchaus gelungen und nicht bloßer Selbstzweck sind. Der geneigte Leser sollte einmal das Jabberwocky-Gedicht mit getragener Stimme vortragen; gerade die erste Strophe klingt sehr bedeutsam und bedeutet doch nichts. Das Lied vom Walross und Tischler, welche die Austern zum Picknick überreden und diese dann verspeisen, dient dazu, ein moralisches Dilemma aufzuwerfen: Wer ist schlimmer, das Walross, welches mehr Austern aß, aber den Tod der Austern betrauert, oder der Tischler, der weniger aß, aber soviel, wie er bekam? Das Gedicht regte Terry Gilliam (Monty Python) zum Film Jabberwocky an und auf das Lied bezieht sich Matt Damon als Loki in dem Film Dogma, als er der Nonne erklärt, warum er seinen Glauben verlor. Man sieht, auch der zweite Teil ist nicht ohne Wirkungsgeschichte.

Zum ersten Teil, Alice’s Adventures in Wonderland (Alice im Wunderland), gibt es allerdings nahezu keine Beziehung – Alice ist dieselbe, allerdings etwas selbstsicherer, und es gibt ein paar Andeutungen, so ist wohl Haigha der Hase und Hatta der Hutmacher der verrückten Teeparty.

Die Sprache ist wiederum unglaublich elegant und flüssig, allerdings nicht ganz so kunstvoll wie im Vorgänger. Außerdem wird es etwas schwieriger, da Carroll ungebräuchlichere Worte wählt. Dennoch sollte man sich nicht von der englischen Ausgabe abschrecken lassen.

Cover von Tochter der Nacht von Marion Zimmer BradleyDas Buch erzählt die Geschichte der Zauberflöte aus der allseits bekannten Oper nach: Der edle Prinz Tamino soll im Auftrag der Königin der Nacht ihre Tochter Pamina aus den Fängen des Sarastro retten. An dessen Hof angekommen, stellt sich jedoch heraus, dass die Rollen von Gut und Böse nicht so verteilt sind wie anfangs gedacht, und so müssen sich Tamino und Pamina gemeinsam den vier Prüfungen der Elemente unterziehen.

„Die zierliche und zarte Prinzessin Pamina stand auf dem Balkon und blickte erschrocken auf den fahlen, blutroten Nebel, der über das Gesicht der silbernen Scheibe, über das Gesicht des Mondes kroch.“

Es gibt Bücher von der Autorin, die ich mit Begeisterung gelesen habe – aber dieses gehört eindeutig nicht dazu.
Der Prolog ist extrem verwirrend. Er erinnert an eine misslungene Kopie aus dem Silmarillion, denn es werden die Namen von allerlei Göttern und deren Rollen bei der Schaffung der Welt aufgezählt. Von Anfang an wirken die Welt und die darin wohnenden Personen dennoch platt und zu wenig durchdacht. Die Charaktere bleiben blass und stets in ihrer Rolle, die stattfinden Entwicklungen verlaufen so, wie es zu erwarten war. Wer die Oper kennt, darf auch von der Handlung her kaum Überraschungen erwarten.
Warum Tamino die verschiedenen Prüfungen ablegen soll und möchte, ist unklar. Es scheint, als müsste die Antwort auf alle Fragen nach dem Sinn der Handlung „weil es im Libretto steht“ lauten.
Die Prüfungen an sich wurden schön ausgestaltet und an phantastischen Elementen und Moral angereichert, diese Szenen lassen sich gut lesen .

In Atlas-Alamesios, der Welt von Tochter der Nacht (Night’s Daughter), spielen Halblinge, also Mischwesen aus Mensch und Tier, eine große Rolle. Diese sind durch genetische Experimente entstanden und werden in der Gesellschaft meist unterdrückt – was irgendwie überhaupt nicht zum ansonsten märchenhaften und auch so erzählten Rest des Romans passt. Auch wurde das Thema der Rassenideologie nicht immer angemessen behandelt und meiner Meinung nach zuweilen zu unkritisch betrachtet.

Ein wenig Positives kann man jedoch auch finden. Die kurzen Kapitel und die Beschränkung auf wenige Handlungsorte und -personen erleichtert dem Leser die Übersicht. Die Autorin hat glücklicherweise darauf verzichtet, die Vorlage in dieser Hinsicht unnötig auszuweiten und zu verkomplizieren. So fällt der Roman auch relativ dünn aus und lässt sich schnell weglesen. Streckenweise kommt auch ein wenig Spannung auf, vor allem im Verlauf der Prüfungen.

An sich ist die Umsetzung der Zauberflöte in Romanform eine schöne Idee. Es ist Marion Zimmer Bradley jedoch nicht geglückt, das im inneren Klappentext als „krude und nicht immer einleuchtend“ bezeichnete Libretto in eine nachvollziehbare Geschichte umzuschreiben, sondern auch durch ihren Roman ziehen sich Logiklöcher. Zudem ist der Stil zu plakativ und wenig magisch, daher würde ich das Buch selbst Opernliebhabern nicht empfehlen – schade um die Idee.

Cover von Der Wurm Ouroboros von E.R. EddisonKrieg ist entbrannt im Lande Merkurien zwischen Hexen und Dämonen. Doch König Gorice von Hexenland kämpft mit dunklen Mächten an seiner Seite und so müssen die Dämonenfürsten Juss und Brandoch Daha den Gipfel des höchsten aller Berge erklimmen, von dem kein Sterblicher je zurückgekehrt ist, um das Schicksal zu ihren Gunsten zu wenden. Vor den Toren Carcës wird die gewaltigste Schlacht geschlagen, die die Welt je erblickte, und entscheidet über Untergang oder zeitlosen Ruhm. Und um all dies Geschehen windet sich der Wurm Ouroboros, der Drache, der seinen eigenen Schweif verschlingt.

-Von den Schätzen, dergleichen in dem hohen Audienzsaal waren gar schön und lieblich anzuschaun, und von den Vorzügen und dem Stande des Dämonenlandes; und von der Botschaft, welchselbige ihnen König Gorice XI. gesandt, und der Antwort darob.-

Der Wurm Ouroboros (The worm Ouroboros) ist das letzte unentdeckte Meisterwerk der Fantasy und, wenn mich nicht alles täuscht, sogar noch ein wenig älter als der Herr der Ringe. Wer jetzt aber eine wunderschöne, durchdachte, magische Welt à la Tolkien erwartet, wird wahrscheinlich enttäuscht werden. Über die Landschaft und Geographie Merkuriens lässt sich nur reichlich wenig sagen und die Völker wie Hexen, Dämonen oder Gnomen sind nur halb so magisch, wie sie sich anhören. Im Grunde haben sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem, was man sich darunter vorstellt. Eher kann man sie mit den Figuren aus den Islandsagas gleichsetzen, denen Eddisons Leidenschaft galt. Das tut der Spannung der Geschichte, die voller gewaltiger Schlachten und schwerer Prüfungen ist, aber keinen Abbruch. Vor allem Eddisons Stil, der sich am elisabethanischen Drama orientiert (Eddisons zweite Leidenschaft), sorgt für eine ganz eigene Athmosphäre.

Zugleich erschwert gerade dieser Stil das Lesevergnügen. Sprache und Satzstellung sind teilweise extrem schwierig zu verstehen, einige Phrasen und Begriffe waren schon zu Eddisons Zeiten vom Aussterben bedroht oder entstammen literarischen oder volksmundlichen Vorbildern, die heute vor allem nur Anglisten zuordnen können. Ein wenig Abhilfe schaffen hier die Anmerkungen im ausführlichen Index von Herausgeber P.E. Thomas und Übersetzer Helmut W. Pesch und das ausführliche Vorwort beider Herren, dessen Lektüre sich wirklich lohnt, um den Wurm besser zu verstehen und etwas über seine Ursprünge zu erfahren. Obwohl Eddisons Sprache so schwierig ist, kann sie trotzdem mitreißen. Andererseits ergeht sich Eddison gerne seitenweise in Beschreibungen, was dem Fortgang der Handlung abträglich ist (aber dank des Indexes lernt man hierdurch eine Menge über Edelsteine, Stoffe und klassische englische Literatur).

Die Charaktere des Wurms sind leider etwas unnahbar. Die Männer sind tugendhafte Helden, wahre Übermenschen, für die der Kampf die größte Ehre ist. Mit dem Frauenbild konnte zumindest ich mich nur schwerlich anfreunden. Die Frauen sind zwar starke Persönlichkeiten und natürlich voller Tugenden, aber bis auf eine Ausnahme entweder intrigante Biester, vollkommen unselbstständig oder sie bieten sich jedem männlichen Wesen an, das bei drei nicht auf den Bäumen ist. Dennoch verteilt man seine Sympathie recht schnell, auch wenn Eddison versucht, möglichst objektiv und ohne Wertung zu erzählen.

Man könnte noch einiges mehr über das Für und Wider des Wurms schreiben, aber ich möchte jetzt mit einer abschließenden Wertung zum Ende kommen. Zuerst einmal muss man sagen, dass die Übersetzung von Helmut W. Pesch durchaus gelungen ist. Er hat sehr schön die Sprache des elisabethanischen Dramas eingefangen, die man hierzulande ja vor allem von Shakespeare kennt, wodurch der Wurm authentisch bleibt. Gedichte und Lieder hat er jedoch nicht übersetzt, sondern sich barocker Gedichte deutschsprachiger Dichter bedient, die einen gleichwertigen Inhalt wie das Original haben. Eine gute Idee, wie ich finde, da Lyrik noch schwieriger zu übersetzen ist als Prosa, wenn es nicht sogar unmöglich ist. Eddison selbst hat sich übrigens ebenfalls barocker Gedichte englischsprachiger Autoren bedient und nicht selbst gedichtet. Der Wurm Ouroboros ist eine durchaus spannende Geschichte in kunstvoller Sprache, die man jedoch eher durcharbeitet als liest. In jedem Fall ist der Wurm in keinster Weise mit der heutigen Fantasy zu vergleichen und selbst von Tolkiens Werk, das ihm zeitlich noch am nächsten ist, grenzt er sich weit ab. Für heutige Verhältnisse, wo wir eine Flut von magischen Welten und Völkern sowie wendungsreichen und intriganten Handlungsmustern zur Auswahl haben, mag der Wurm vielleicht ein wenig einfallslos wirken. Aber man muss sich vor Augen führen, dass zu Eddisons Zeiten die Fantasy noch in den Babyschuhen steckte.
Für Freunde der leichten Unterhaltung wird der Wurm wohl zu anstrengend sein, und ich persönlich fand den Schluss auch etwas frustrierend, obwohl er vorhersehbar ist, wenn man sich die Symbolik des Ouroboros vor Augen führt. Aber wer sich nicht scheut, Zeit und auch ein paar Nerven zu investieren, wird mit Fantasy der besonderen Art belohnt.
Für alle, die lieber Originale lesen: Bisher habe ich nur die deutsche Übersetzung gelesen. Aber ich glaube, dass man sich an die englische Version nur heranwagen sollte, wenn man Shakespeare oder ältere Werke der klassischen englischen Literatur ohne Probleme und Vokabelhilfe bewältigt, da die Sprache schwierig und stark veraltet ist.
Kleine Warnung am Schluss: Wer sich den Wurm kaufen will, muss ein wenig suchen. Meist kriegt man ihn nur noch gebraucht.

Ob man nun dem Wurm oder dem Ring die Treue hält, bleibt jedem selbst überlassen. Ich halte es wie Herr Pesch und bleib beim Ring.

Zwischen neun und neun von Leo PerutzStanislas Demba muß dringend Geld auftreiben. Aus diesem Grund läuft er seit dem Morgen durch das kaiserlich-königliche Wien und trifft dabei auf alle möglichen Leute. Doch warum benimmt er sich ihnen gegenüber so merkwürdig? Unterhält er sich zunächst freundlich mit Fremden und Bekannten, wechselt sein Ton aus heiterem Himmel und Demba wird ausfallend und aggressiv, einmal tritt er sogar einen Hund, der ihm nichts getan hat. Gibt es einen Grund für Dembas Stimmungsschwankungen? Und was noch wichtiger ist: Wird es ihm gelingen, an das benötigte Geld zu kommen?

-Die Greislerin in der Wintergasse, Frau Johanna Püchl, trat an diesem Morgen gegen halb acht Uhr aus dem Laden auf die Straße. Es war kein schöner Tag. Die Luft war feucht und kühl, der Himmel bewölkt.-
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Stellen Sie sich vor, ein Hollywood-Produzent möchte den Kinohit des Jahres produzieren. Er hat ein großartiges Drehbuch, er engagiert die besten Schauspieler und damit der Clou der Geschichte nicht vorzeitig verraten wird, müssen alle am Film beteiligten eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben. Der Produzent tut alles, was ihm möglich ist, um den Zuschauern einen spannenden und überraschenden Film zu präsentieren. Und wenn dann der Film in Deutschland anläuft, engagiert der Filmverleih viele, viele Studenten, stellt sie vor die Kinos, stattet sie mit Megaphonen aus und läßt sie den gespannt an den Kinokassen wartenden Zuschauern zwar nicht das Ende der Geschichte, aber immerhin ein entscheidendes Detail lautstark verraten.
Sie meinen, das ist völlig irrsinnig und das macht doch keiner??? Sie haben vollkommen recht, Filmverleiher sind viel zu intelligent, um ihre Zuschauer auf diese Weise zu verärgern. Nur, warum ist dieses irrationale Verhalten gängige Praxis bei den Buchverlagen? Der Rezensent redet von dem Klappentext, bzw. von den Inhaltsangaben, die Verlage auf/in ihre Bücher drucken und in wenigen Zeilen so viel von der der Geschichte verraten, daß man sich die Lektüre sparen kann. Um so ägerlicher ist dies, wenn es einen so hervorragenden Schriftsteller wie Leo Perutz trifft.

Mehr als sieben Kapitel hindurch verschweigt Leo Perutz meisterhaft auf sehr originelle und kunstvolle Weise dem Leser, warum Stanislas Demba sich so merkwürdig verhält. Statt dessen schildert Perutz humorvoll die aberwitzigen und skurrilen Situationen, in die Demba gerät. Die Leute, die er trifft, stellen sehr phantasievolle Vermutungen über den Grund seines Benehmens an: Steht er unter Haschischeinfluß, ist er ein Krüppel oder ein schrulliger Gelehrter? Und der Leser spekuliert fröhlich mit. Es sei denn, er hat den Fehler gemacht und die Inhaltsangabe auf der Rückseite des Buches gelesen. Dort steht nämlich die Auflösung, die sozusagen die erste Hälfte der Pointe der Geschichte ist und wenn man die kennt, dann ist das Buch natürlich nur noch halb so vergnüglich und spannend. Also tun Sie sich selbst, Leo Perutz und dem Rezensenten den Gefallen und lesen Sie NICHT die Inhaltsangabe des Buches und da zu befürchten ist, daß Internet-Buchhandlungen die Angaben des Verlages treu und brav übernommen haben, vermeiden Sie es, dieses Buch im Internet zu bestellen. Die Gefahr ist zu groß, daß es Ihnen nicht gelingt, die Inhaltsangabe zu ignorieren. Gehen Sie zum Buchhändler Ihres Vertrauens, betrachten Sie nur den Buchrücken und die Vorderseite und schlagen Sie sofort die Seite fünf auf, dort beginnt das erste Kapitel.

Noch ein Wort an die Leser, die dem Rat des Rezensenten gefolgt sind und schon Nachts unter der steinernen Brücke gelesen haben. Die Sprache, die Perutz in diesem Buch verwendet, ist eine ganz andere. Zwischen neun und neun ist in der modernen, zeitgemäßen Sprache des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben und weit entfernt von dem poetischen Stil des Novellenromans. Auch ist die Geschichte realistisch und hat nichts mit der von Mythen und Legenden durchwobenen Erzählung über Kaiser Rudolf und seine Liebe zu der schönen Jüdin gemeinsam. Warum stellt Bibliotheka Phantastika Zwischen neun und neun dann eigentlich vor, wenn es sich doch um einen realistischen Roman handelt? Das, liebe Leser, ist sozusagen die zweite Hälfte der Pointe der Geschichte und wird deshalb nicht verraten…