Das Buch enthält sechs phantastische Erzählungen von Matthew Phipps Shiel: Vaila; Huguenins Frau; Elendes Los eines gewissen Saul; Die Braut, Der bleiche Affe, Der Primas der Rose. Außerdem gibt es eine vom Autor geschriebene Einleitung und im Anhang eine von ihm verfaßte, kurze, Selbstbiographie mit dem Titel Was mich betrifft. Javier Marías, der diese Kurzgeschichtensammlung herausgibt, hat ein Vorwort geschrieben und im Anhang findet man die von ihm verliehenen Titel und Ämter des (halb) fiktiven Königreiches Redonda. Näheres zum Inhalt erfahrt ihr in der Buchbesprechung.
-Vor vielen Jahren stand ich als junger Student in Paris dem großen Corat nahe und wurde an seiner Seite Augenzeuge mehrerer jener Fälle von Geisteskrankheit, die er mit unvergleichlicher Meisterschaft analysierte .-
Vaila
Wahnsinn, Tod, Rache und die Unerbittlichkeit des Schicksals sind die beherrschenden Themen in Shiels Kurzgeschichten.
Vaila ist eine von hohen Felsen umgebene, nördlich von Großbritannien, inmitten gefährlicher Strudel gelegene, sturmumtoste Insel, und der Stammsitz derer von Harfager. Als seine Mutter im Sterben liegt, bitte Haco von Harfager seinen alten Studienfreund, den Ich-Erzähler der Geschichte, ihn zu besuchen.
Schon die Überfahrt erweckt in dem Freund den Eindruck, als führte unsere Fahrt ins Jenseits dieser Welt und was ihn auf Vaila erwartet, könnte schlimmer nicht sein. Harfagers Mutter ist tot und wartet im offenen Sarg auf ihre Beerdigung. Haco selbst ist vorzeitig gealtert und wirkt verwahrlost. Er leidet unter Halluzinationen und der fixen Idee, dass ein alter Fluch das Haus und das Leben der letzten Harfangers -seines und das seiner Schwester- bedroht. Ein grauenhaft entstelltes Faktotum kümmert sich um das Haus, und die Insel scheint sich auf unerklärliche Weise zu drehen.
Jede Zeile dieser Geschichte atmet Verfall und Bedrohung und die Szenerie ist unheimlich. Dennoch geht Vaila dem Leser nicht wirklich unter die Haut. Allzu deutlich erinnert die Erzählung an Poes Untergang des Hauses Usher, allzu genau erfüllt sich die Erwartung des Lesers, die durch die Erwähnung von Wahnsinn, Tod und einem alten Fluch geschürt worden ist, und zu artifiziell ist das Gebilde, von dem die Bedrohung ausgeht – ein riesiges Stundenglas. Ein Stundenglas, auch wenn es in absehbarer Zeit seinen Dienst einzustellen droht, wirkt nicht so angsteinflößend, wie z.B. ein beständig unaufhaltsam näherrückendes Pendel wie in Poes Geschichte Die Grube und das Pendel, und schließlich darf der Leser eines von einem Ich-Erzähler verfaßten Berichtes immer darauf hoffen, daß die Geschichte wenigstens für einen der Protagonisten gut ausgeht. Dies alles trägt dazu bei, dass der Leser trotz der unheimlichen Atmosphäre eher in die Rolle eines stillen Beobachters gedrängt wird, als in die, eines unsichtbaren, mitleidenden und sich ängstigenden Beteiligten. Dennoch ist Vaila zweifellos die beste der hier versammelten Geschichten.
Die zweite Erzählung, Huguenins Frau, beginnt ähnlich wie die erste. Der Ich-Erzähler erhält den verzweifelten Brief eines alten Freundes, der allein mit zwei Dienern, die ihn beharrlich zu meiden scheinen, in einem riesigen Haus auf der griechischen Insel Delos lebt und sich nach menschlicher Nähe sehnt. Diesmal geht die Gefahr von einem schrecklichen Ungeheuer aus, das auf geheimnisvolle Weise mit Huguenins verstorbener Frau in Verbindung zu stehen scheint. Auch hier wieder findet man viel Poe, vermischt mit ein wenig griechischer Sagenwelt.
In Elendes Los eines gewissen Saul gibt es sogar zwei Ich-Erzähler. Der erste, in der Rahmenerzählung, gibt den Bericht des mittlerweile lang verstorbenen James Dowdy Saul wieder, den er in einer Manuskript-Truhe der Cowling-Bibliothek gefunden hat.
Der zweite Erzähler, Saul, erzählt um 1601 im Alter von 60 Jahren kurz, aber eindrucksvoll, von seinen Abenteuern auf See und zu Land. Er berichtet, wie er 1571 auf Hispaniola in die Hände der Spanischen Inquisition fällt, auf ein Schiff verfrachtet und während eines Sturms in einem Faß über Bord geworfen wird. Das Faß sinkt rasch mit seiner lebendigen Fracht. Saul macht alle Qualen eines Ertrinkenden durch und gelangt schließlich in eine mit Luft gefüllte Höhle, in der sich auch ein Süßwassersee befindet. Nahrung bieten ihm die Tiere und Früchte des Meeres.
Dies ist keine Horror-Geschichte im Stile Poes. Elendes Los eines gewissen Saul ist eine Abenteuergeschichte und wäre der Autor unbekannt, könnte man die Theorie verfechten, dies sei eine von Jules Verne verfaßte Version von Robinson Crusoe.
“Die Braut heißt Rachel Evans.”, teilt Walter Teeger dem Standesbeamten mit, als er sein Aufgebot bestellt. Dies ist die reine Wahrheit, der Beamte weiß allerdings nicht, daß es zwei Schwestern gibt, die beide nach ihrer Großmutter “Rachel” heißen.
Die eine, “Annie Rachel” wird “Annie” gerufen, die andere, “Mary Rachel”, “Rachel”. Walter liebt Annie, aber Rachel liebt Walter und zeigt ihm dies überdeutlich, obwohl zu dieser Zeit von Frauen Zurückhaltung im Ausdruck ihrer Gefühle erwartet wurde. Walter ist von Rachels so offensiv zur Schau getragener Leidenschaft berückt und gebannt und kann sich nicht entscheiden, welche von beiden er nun heiraten soll. Da entscheidet das Schicksal für ihn, – um dann seinen unvermeidlichen Lauf zu nehmen. Wieder finden sich eindeutige Anklänge an Poe.
Der bleiche Affe spukt angeblich im Hause Sir Philip Listers, in das eine Gouvernante kommt, um die zwölfjährige Esmé, Vollwaise und Nichte Sir Philips, zu unterrichten. Das Mädchen behauptet steif und fest, es habe den Geist eines riesigen Affen gesehen, der früher zusammen mit den anderen, noch lebenden Affen in einem Käfig nahe eines Wasserfalls lebte. Um die Spannung nicht zu verderben, soll hier nur so viel gesagt werden, daß Shiel sich ganz offensichtlich an einen berühmten Roman der Weltliteratur anlehnt.
In Der Primas der Rose hat der verheiratete E.P.Crooks ein Verhältnis mit der 25 Jahre alten Minna Smyth, deren Bruder Crichton er kennt. Crichton erzählt Crooks von einem exklusiven Geheimbund, der eine geheimnisvolle Wohnung in London unterhält, von der nur das Oberhaupt, der sogenannte Primas der Rose weiß, wo sie sich befindet. Crooks beschwatzt Crichton, ihm den geheimnisvollen Raum zu zeigen. Der stimmt nach langem Zögern zu, besteht aber darauf, Crooks die Augen zu verbinden, damit er den Weg nicht wiederfinden kann. Schließlich steht Crooks allein in dem ominösen Raum und nimmt die Binde von den Augen…
Was mich betrifft ist Shiels kurze, mit Selbstironie gespickte Lebensbeschreibung, in der er auch sehr warmherzig über seinen Vater spricht.
Die Auflistung der von Javier Marías verliehenen Titel und Ämter des Königreiches Redonda ist eher ein Insidergag zwischen Marías und den Genannten, von denen nur wenige so bekannt sind wie Pedro Almodovar, Antonia Susan Byatt, John Michael Coetzee und Francis Ford Coppola.
Redonda ist ein fiktives Königreich auf der gleichnamigen unbewohnten Antilleninsel. Shiel wurde im Jahr 1880 von seinem Vater zum ersten König dieser Insel gekrönt. Der vierte König ist nun Javier Marías, der dafür die Erinnerung an das Königreich, die Legende und die früheren Könige wachhalten muß und dafür die Rechte an Shiels Werk geerbt hat und so viele Ämter und Titel verleihen darf, wie er möchte. Sehr viel mehr sagt er über Redonda nicht, denn wie Javier Marías in seinem Vorwort Nur Luft und Rauch und Staub mitteilt, hat er das schon in seinen Romanen Alle Seelen und Schwarzer Rücken der Zeit getan und gedenkt nicht, sich zu wiederholen. Dieses “Fischen nach Lesern” für seine eigenen Werke hat Marías eigentlich nicht nötig und es ist für den Leser nur ärgerlich.
Fazit: Auch wenn die Erzählungen häufig an Poe und andere berühmte Schriftsteller erinnern, und das schreckliche Ende oft vorhersehbar ist, so sind die Geschichten doch höchst unterhaltsam und decken ein breites Spektrum der Phantastik, von der Horrorgeschichte (Vaila), über den Schauer”roman” bzw. die Prosaversion einer Ballade (Die Braut) bis hin zur Entdeckung fremder, außergewöhnlicher Welten (Elendes Los eines gewissen Saul), ab. Außerdem hat Shiel sich nicht nur von berühmten Autoren inspirieren lassen, sondern hat unzweifelhaft auch anderen als Vorbild gedient. Für Freunde der Phantastik sind Shiels Erzählungen ein Muss – lesenswert sind sie allemal.