Zum 60. Geburtstag von Irene Fleiss

Bibliotheka Phantastika erinnert an Irene Fleiss, die am vergangenen Mittwoch 60 Jahre alt geworden wäre. Mit diesem Namen können vermutlich nur diejenigen etwas anfangen, die entweder schon sehr lange Fantasy lesen (auch solche, die nicht in den entsprechenden Reihen der großen Publikumsverlage erschienen ist) oder sich für Genderthemen und Matriachats-Forschung interessieren, denn Letzteres war das Hauptbetätigungsfeld der am 16. Mai 1958 wahrscheinlich in Österreich* geborenen Irene Fleiss, und man kann davon ausgehen, dass das zweibändige Sachbuch Als alle Menschen Schwestern waren (2006/2007), in dem sie ihr ganzes Wissen über dieses Gebiet zusammengefasst hat und das in der feministischen Szene sehr positiv aufgenommen wurde, nicht zuletzt für sie selbst ihr wichtigstes und bedeutendstes Werk war.
Doch der Grund für diesen Beitrag ist natürlich nicht besagtes Sachbuch und es sind auch nicht die Romane und Kurzgeschichtensammlungen, die sie Anfang der 00er Jahre als books on demand veröffentlicht hat, sondern ein “richtiger” Fantasyroman, den sie bereits viel früher geschrieben hat und der 1984 unter dem Titel Die Leibwächterin und der Magier abseits der bekannten Genrereihen im Medea Frauenverlag erschienen ist. Es scheint, als hätten damals einige Frauenverlage die SF und Fantasy für sich entdeckt, und so brachte vor allem der Medea Frauenverlag innerhalb einer relativ kurzen Zeit mehrere Romane und Kurzgeschichtenbände von feministischen Autorinnen (darunter international bekannten wie Joanna Russ, aber auch deutschsprachigen**) auf den Markt, die das Genre teilweise um sehr interessante Facetten bereicherten.***
Irene Fleiss: Die Leibwächterin und der MagierUnd einer dieser Romane war eben Die Leibwächterin und der Magier, der die Geschichte der Leibwächterin Aleme erzählt, die den Magier Calar auf einer Reise vom tiefsten Süden des Kontinents bis hoch in den Norden beschützen soll. Das erweist sich allerdings als schwieriger als gedacht, denn die beiden Reisenden werden unterwegs mehrfach überfallen und angegriffen – anscheinend hat sich der eher naiv wirkende Calar mächtige Feinde gemacht. Immerhin wird Aleme für ihren Auftrag gut bezahlt, und auf der ereignisreichen Reise lernen sich die beiden so unterschiedlichen Protagonisten immer besser kennen, entwickeln Vertrauen zueinander … und schließlich auch noch andere Gefühle …
Was an der Geschichte, die Aleme als Ich-Erzählerin erzählt, als Erstes auffällt, ist der – auch und gerade in Anbetracht des Umfelds, in dem der Roman erschienen ist° – ungewöhnlich versöhnliche Grundton, der sie durchzieht. Sowohl Aleme als auch Calar sind sympathische Figuren, die sich ebenso glaubwürdig entwickeln wie die Beziehung zwischen den beiden. Und in einer Hinsicht hat Aleme – die man durchaus als Vorläuferin vieler tougher Frauenfiguren betrachten kann, die heutzutage vor allem die YA-Fantasy bevölkern – ihren Nachfolgerinnen etwas voraus, denn sie bleibt die starke Frau, die sie vorher war, und entwickelt sich nicht schlagartig zum hilflosen Mädchen zurück, das beschützt und behütet werden muss, nur weil sie ihre große Liebe gefunden hat.
Wobei es sich bei Die Leibwächterin und der Magier keineswegs um einen Liebesroman handelt; denn auch wenn die obigen Zeilen vielleicht diesen Eindruck erwecken, ist es in erster Linie ein abenteuerlicher Fantasyroman. Das Worldbuilding ist zwar nicht allzu “tief” (was bei etwas über 200 Seiten Umfang nicht verwunderlich ist), wartet aber mit originellen Ideen wie z.B. den Schienenseglern auf, und die gelegentlich eingebauten Bezüge auf unsere Welt nähren die Vermutung, dass wir es hier mit postapokalyptischer Fantasy zu tun haben, deren Figuren interessanter und glaubwürdiger sind als die vieler anderer Werke. Ich weiß nicht, wie der Roman damals in feministischen Kreisen aufgenommen wurde, aber an der eigentlichen Fantasyleserschaft dürfte er ziemlich vorbeigegangen sein. Und letztlich ist er wohl nur eine marginale Fußnote in der Geschichte der Fantasy in Deutschland – aber eine trotz gerechtfertigter Kritik an mangelnden Hintergründen und einer vielleicht etwas zu simplen Auflösung überaus sympathische.
Außer diesem Roman hat Irene Fleiss in den 80er Jahren anscheinend noch einige Erzählungen und Kurzgeschichten geschrieben – eine davon ist in der von Karin Ivancics herausgegebenen Anthologie Der Riß im Himmel (1989) erschienen°° –, aber erst in den 00er-Jahren hat es wieder eigenständige Veröffentlichungen von ihr gegeben, die – wie eingangs erwähnt – alle als book on demand erschienen sind: Grenzenlos. Kurzgeschichten aus dem Patriarchat (2002), Der erpresste Mann (2002; nicht phantastisch), Tod eines guten Deutschen (2003) und Erinnerte Geschichten. Phantastische Erzählungen (2005). Kurz darauf folgte das o.e. Sachbuch – und am 04. April 2008 ist sie im Alter von 49 Jahren gestorben, gerade einmal zwei Wochen, nachdem bei ihr Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden war.

* – abgesehen von Fleiss’ Geburts- und Todestag sind kaum biografische Daten zu finden
** – wobei pikanterweise eine der deutschsprachigen “Autorinnen” gar keine war – aber das wusste zum damaligen Zeitpunkt vermutlich noch niemand
*** – dieser nicht allzu langlebige Trend wäre theoretisch durchaus mal einen eigenen Beitrag wert, bei dem allerdings viel Spekulation dabei wäre, denn außer den Veröffentlichungsdaten der Bücher gibt es wenig, an dem man sich festhalten kann; we’ll see …
° – in den meisten anderen Werken, die damals bei Medea und ähnlichen Verlagen erschienen sind, kommen Männer entweder überhaupt nicht vor, oder sie sind eher Monstren bzw. “Manntiere” als Menschen
°° – was Irene Fleiss’ nicht eigenständige Veröffentlichungen angeht, sind bibliografische Daten kaum bzw. nicht vorhanden

Hinterlasse einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst diese HTML Tags und Attribute nutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>