Bibliotheka Phantastika erinnert an Vera Chapman, deren Geburtstag sich vor zehn Tagen zum 120. Mal gejährt hat.* Die am 08. Mai 1898 als Vera Ivy May Fogerty in Christchurch in der Nähe von Bournemouth an der englischen Südküste geborene Chapman verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Südafrika und war nach ihrer Rückkehr nach England eine der ersten Frauen, die sich am Lady-Margaret-Hall-College – dem erst wenige Jahre zuvor gegründeten ersten reinen Frauen-College der University of Oxford – immatrikulierte. Nach dem Abschluss ihres Studiums heiratete sie 1924 den Vikar Charles Sydney Chapman, dem sie den Nachnamen verdankt, unter dem sie mehr als 50 Jahre später als Autorin bekannt werden sollte. Diese Ehe tat allerdings ihrem lebenslangen Interesse für das Heidentum bzw. den Paganismus keinen Abbruch, und sie war viele Jahre lang Mitglied des ADO (Ancient Druid Order), des ältesten druidischen Ordens im Vereinigten Königreich.
Viel interessanter als all diese Details aus ihrem Leben ist aber wahrscheinlich die Tatsache, dass Vera Chapman 1969 die britische Tolkien Society gegründet hat – nicht zuletzt, weil sie befürchtet hat, dass der Kult, der vor allem um The Lord of the Rings entstanden war, eine mehr wissenschaftlich orientierte Auseinandersetzung mit den Werken Tolkiens verhindern könnte und sie dem durch die Gründung der Tolkien Society entgegenwirken wollte.
Der Erfolg von The Lord of the Rings und der daraus (nicht nur, aber vor allem) resultierende Fantasy-Boom hatten allerdings noch einen ganz anderen Effekt, denn durch das gestiegene Interesse an Fantasy bzw. die Etablierung der Fantasy als eigenständiges Genre ergab sich für Vera Chapman plötzlich die Möglichkeit, die Literatur zu schreiben, die sie schon immer hatte schreiben wollen, und so veröffentlichte sie im Alter von 77 Jahren (!) ihren ersten Roman The Green Knight (1975), auf den mit The King’s Damosel (1975) und King Arthur’s Daughter (1976) rasch zwei weitere folgten; alle drei zusammen bilden die Trilogie The Three Damosels (auch als Sammelband, 1978).
Im Mittelpunkt der drei zum Artus-Mythos zu zählenden bzw. in dessen Umfeld angesiedelten Romane stehen Frauen, doch bei ihnen handelt es nicht etwa um die “üblichen Verdächtigen” wie Guinevre oder Morgan Le Fay (auch wenn Letztere vor allem in The Green Knight eine wichtige Rolle spielt), die man aus anderen Versionen der Sage kennt, sondern um solche, die bislang am Rande des Geschehens angesiedelt waren oder von Chapman erfunden wurden: Im ersten Band – einer sehr freien “Nachdichtung” der Ritterromanze Sir Gawain and the Green Knight aus dem späten 14. Jahrhundert – muss sich Vivian, die Nichte Morgan Le Fays, mit den Ränken ihrer Tante herumschlagen, im zweiten wird die junge Lynette erst zu Artus’ Botin und begibt sich dann auf die Suche nach dem Heiligen Gral, und im dritten versucht Artus’ Tochter Ursulet das Reich und die Ideale ihres Vaters zu bewahren.
Die Fokussierung auf weibliche Hauptfiguren und die Art und Weise, wie Vera Chapman diese Figuren agieren lässt (oder auch, welche Hintergrundgeschichte sie ihnen mitgibt), machen The Three Damosels zum ersten aus einem feministischen Blickwinkel geschriebenen Bestandteil des Artus-Mythos – und das immerhin acht bzw. sieben Jahre bevor Marion Zimmer Bradley mit The Mists of Avalon (aka Die Nebel von Avalon) zu Weltruhm gelangte.** Dies und die Tatsache, dass das sehr magische, von allerlei phantastischen Kreaturen bevölkerte Britannien dieser Trilogie einen starken Kontrast zu vielen neueren, zumeist um “Realismus” (was auch immer das in diesem Zusammenhang heißen mag) bemühten Versionen des Mythos bildet, machen die drei vergleichsweise schmalen Bändchen für alle, die sich für den Sagenkreis um König Artus interessieren, immer noch lesenswert.
The Three Damosels ist auch auf Deutsch erschienen, und das sogar in zwei unterschiedlichen Übersetzungen: zuerst als Die drei Demoiselles (Einzeltitel: Der grüne Ritter, Die Rückkehr des Lichts, König Artus’ Tocher (alle 1984) in Heynes auf märchenhafte bzw. YA-Fantasy ausgerichteter Subreihe Phantasia, und neu übersetzt als Die Braut des grünen Ritters, Des Königs dunkle Botin und König Artus’ Tochter (alle 2001) bei dtv in der Allgemeinen Reihe.
Vera Chapmans sonstige Werke – zu denen u.a. Blaedud the Birdman (1978; eine in die keltische Sagenwelt verlegte Adaption bzw. Variation des Ikarus-Mythos), Miranty and the Alchemist (1983; ein Kinderbuch) und The Notorious Abbess (1993; eine Sammlung von Kurzgeschichten um die zur Zeit der Kreuzzüge agierende, in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Äbtissin Hodierna) zählen – wurden bislang nicht ins Deutsche übertragen. Eine Ausnahme bildet die ursprünglich in der Anthologie Fantastic Imagination II (1978) enthaltene und u.a. in der Asimov/Greenberg/Waugh-Anthologie Cosmic Knights (1984) nachgedruckte Story “Crusader Damosel”, die unter dem Titel “Die Kreuzrittermaid” in Märchenwelt der Fantasy (1987), einem “Zusammenschnitt” aus zwei Asimov/Greenberg/Waugh-Anthologien, enthalten ist.
Vera Chapman war bis ins hohe Alter schriftstellerisch aktiv, so dass ihr letzter, wiederum im Artus-Sagenkreis angesiedelter Roman The Enchantresses erst 1998 und somit zwei Jahre nach ihrem Tod am 14. Mai 1996 erschienen ist.
* – all denen, die sich jetzt Sorgen machen, weil wir schon wieder mit verspäteten Beiträgen anfangen, sei gesagt, dass die Verspätung dieses Mal Absicht ist (nun gut – sie ist etwas größer geworden als geplant 😉 ); da sich die für uns relevanten bzw. interessanten Jubiläen fast alle in der ersten Monatshälfte ballen, haben wir beschlossen, das Ganze ein bisschen zu entzerren – und dass die betreffenden Autorinnen und Autoren auch alle schon seit mehreren oder gar vielen Jahren verstorben sind, hat die Entscheidung noch einmal deutlich leichter gemacht.
** – über Marion Zimmer Bradley ließe sich – auch und vor allem im Licht der Erkenntnisse der letzten Jahre – viel sagen, doch das gehört nicht hierher und soll dem Beitrag vorbehalten bleiben, der (vielleicht) zu MZBs nächstem rundem Geburtstag erscheinen wird.
Endlich wieder neue Geburtstagsbeiträge, die den Horizont erweiter. Vera Chapman kannte ich bisher auch nicht. Sehr schöner Artikel. Willkommen zurück!
Wollte nur kurz sagen, wie schön ich es finde, dass ihr dem Blog eine Wiederauferstehung angedeihen lasst.
Von Vera Chapman habe ich außer der “Kreuzrittermaid” nichts gelesen, könnte mir aber vorstellen, dass “The Three Damosels” vielleicht was für mich wäre.
Vielen Dank für die Blumen! Ich hoffe mal, dass auch bei den nächsten Beiträgen was Interessantes dabei ist, auch wenn es zunächst hauptsächlich um relativ obskure Autoren und Autorinnen gehen wird. 😉
@ Markus:
Sorry, ich habe deinen Kommentar gerade erst gesehen und ihn freigeschaltet. Ich verstehe zwar nicht so recht, warum der nicht durchgegangen ist, aber … so what. (In Zukunft sollte ich vielleicht sicherheitshalber einmal am Tag in die Kommentare schauen.)