Zum 100. Geburtstag von James Tiptree, Jr.

Auch wenn es hier bei Bibliotheka Phantastika in erster Linie um Fantasy geht, schauen wir doch zwischendurch immer mal wieder gerne über den Tellerrand, wenn wir einen Anlass dazu haben (oder uns einfach mal danach ist) – und welcher Anlass könnte besser dazu geeignet sein als der 100. Geburtstag einer Autorin, die mit ihren Stories die amerikanische SF-Szene knapp zehn Jahre lang kräftig durcheinandergewirbelt hat? Denn das hat die am 24. August 1915 in Chicago, Illinois, geborene Alice Hastings Bradley (und später verheiratete Sheldon) in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts unter ihrem Pseudonym James Tiptree, Jr. getan – aber so richtig.
Her Smoke Rose Up Forever von James Tiptree Jr.Das war nicht unbedingt von Anfang an zu ahnen, doch was mit “Birth of a Salesman” (Analog, März ’68) noch recht konventionell begann, führte über erste Ausrufezeichen wie “The Last Flight of Doctor Ain” (Galaxy, März ’69) ab 1970 zu einer Flut von ebenso einzigartigen wie großartigen Geschichten, von denen hier nur beispielhaft “And I Awoke and Found Me Here on the Cold Hill’s Side” (The Magazine of Fantasy & Science Fiction, März ’72), “On the Last Afternoon” (Amazing, November ’72), “Love is the Plan the Plan is Death” (in The Alien Condition (1973)), “The Girl Who Was Plugged In” (in New Dimensions 3 (1973)), “The Women Men Don’t See” (Magazine of F&SF, Dezember ’73), “A Momentary Taste of Being” (in The New Atlantis (1975)) und “Houston, Houston, Do You Read?” (in Aurora: Beyond Equality (1976)) sowie die beiden unter dem Pseudonym Raccoona Sheldon veröffentlichten Stories “Your Faces, O my Sisters! Your Faces Filled of Light!” (ebenfalls in Aurora: Beyond Equality (1976)) und last but not least “The Screwfly Solution” (Analog, Juni ’77) genannt werden sollen.
Die Geschichten, die Alice Sheldon als James Tiptree, Jr. geschrieben hat (und das gilt auch für die in ihrer Raccoona-Sheldon-Inkarnation) sind keine locker leichte Wohlfühl-Lektüre, ganz im Gegenteil, sie sind häufig beunruhigend und verstörend, und selbst unter einer vermeintlich glatten Oberfläche verbergen sich oft Widerhaken. Sie kreisen um Themen wie Liebe und Sex, das Verhältnis von Männern und Frauen, Identität, Entfremdung und Ökologie – und immer wieder um den Tod. Mehrere von ihnen wurden mit dem Hugo und/oder dem Nebula Award ausgezeichnet, und der größte Teil des Aufsehens, den die Stories damals in der amerikanischen SF-Szene erregt haben, hat ganz gewiss mit ihrer Qualität zu tun, ein anderer, auch nicht ganz unbedeutender aber sicher auch mit dem Geheimnis, das ihren Verfasser umgab (denn es war zwar von Anfang an bekannt, dass es sich bei James Tiptree, Jr. um ein Pseudonym handelt, aber wer sich dahinter verbarg, wurde erst 1977 aufgedeckt). Lustigerweise ist kaum jemand auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Menschen hinter dem Tiptree-Pseudonym um eine Frau handeln könnte – trotz der feministischen Vibes, die in etlichen Stories spürbar sind – und dem bekannten SF-Autor Robert Silverberg verdankt die Welt die wunderbare Aussage: “It has been suggested that Tiptree is female, a theory that I find absurd, for there is to me something ineluctably masculine about Tiptree’s writing. I don’t think the novels of Jane Austen could have been written by a man nor the stories of Ernest Hemingway by a woman, and in the same way I believe the author of the James Tiptree stories is male.”*
Auch nachdem ihr Pseudonym aufgedeckt wurde, hat Alice Sheldon weitere Geschichten – und dazu mit Up the Walls of the World (1978) und Brightness Falls from the Air (1985) noch zwei Romane – geschrieben, und auch wenn diese “späten” Geschichten – nicht zuletzt zunehmenden körperlichen und psychischen Problemen geschuldet – zumeist schwächer sind als die aus ihrer besten Phase, so sind es doch größtenteils immer noch überdurchschnittliche SF-Stories. Doch die Aufdeckung des Pseudonyms, der Verlust der (geheimen) Tiptree-Identität, als der sie “einer von denen, die die Welt besitzen” gewesen war, hat Alice Sheldon auf einen Weg geführt, den zu verstehen leichter fällt, wenn man ihre von Julie Phillips verfasste ungemein lesenswerte Biographie James Tiptree, Jr. – The Double Life of Alice B. Sheldon kennt. Als ihre eigenen und vor allem die gesundheitlichen Probleme ihres zwölf Jahre älteren Mannes Huntington “Ting” Sheldon ab Mitte der 80er Jahre immer größer wurden, hat sie die einzige ihr mögliche Konsequenz gezogen: Jahre zuvor hatten “Ting” und sie einen Selbstmordpakt geschlossen, und am 19. Mai 1987 hat sie erst ihren Mann und dann sich erschossen.
Ihre Geschichten wurden bereits in den 70er Jahren in Sammelbänden zusammengefasst, die auch ins Deutsche übertragen wurden, ebenso wie einer ihrer Romane. Doch im Gegensatz zu vielen anderen SF-Autoren und Autorinnen, die es hierzulande nur zu einer Veröffentlichung im Taschenbuch in einer der einschlägigen Genrereihen gebracht haben oder bringen, gibt es – dem österreichischen Septime Verlag sei Dank – inzwischen eine ansprechend gestaltete und hervorragend übersetzte und editierte siebenbändige Werkausgabe mit sämtlichen Erzählungen von James Tiptree, Jr. im Hardcover, die pünktlich zum 100. Geburtstag mit dem Band Liebe ist der Plan im Juli diesen Jahres abgeschlossen wurde. Houston, Houston! von James Tiptree Jr.Neben den sechs übrigen Bänden – Doktor Ain, Houston, Houston!, Zu einem Preis, Quintana Roo, Sternengraben und Yanqui Doodle – ist hier auch die oben erwähnte Biographie als James Tiptree Jr. – Das Doppelleben der Alice B. Sheldon erschienen, und Übersetzungen der beiden Romane sind in Vorbereitung**; zudem soll im Herbst mit Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt noch ein Band mit Briefen, Essays und Gedichten herauskommen. So wird das Vermächtnis von Alice Sheldon aka James Tiptree, Jr. – ihr literarisches, ihr persönliches und sogar die Geschichte ihres Lebens – auch interessierten deutschsprachigen Lesern und Leserinnen (wieder) zugänglich gemacht, ein Vermächtnis, zu dem es angesichts ihres 100. Geburtstags in leichter Abwandlung des Titels einer ihrer Stories (der zugleich auch der Titel eines Best-of-Sammelbandes ist, der allen, die James Tiptree, Jr. einmal im Original lesen wollen, sehr zu empfehlen ist – aber Vorsicht, das ist teilweise harter Stoff!) nur noch eines zu sagen gibt: Her smoke will rise up forever.

* – in der Einleitung zur Tiptree-Collection Warm Worlds and Otherwise
** – und ich kenne sogar jemanden, der Brightness Falls from the Air – der im Gegensatz zu Up the Walls of the World (dt. Die Feuerschneise) noch nie auf Deutsch erschienen ist, gerne übersetzen würde … wenn er denn Zeit hätte …

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