Warum verbringt man so viele Stunden mit einem Spiel, dass man in der Zeit gut und gerne 20 Romane hätte lesen können?
In Spielen kann man genauso wie in Büchern grandiosen Geschichten begegnen, und Skyrim ist sozusagen der Leviathan unter den Fantasy-Spielen, das Äquivalent zur mehrbändigen Saga, in die man abtaucht und aus der man im besten Fall Einiges mitnimmt. Vordergründig widersetzt es sich aktuellen Spieletrends, es gibt auch in diesem fünften Teil der Elder-Scrolls-Reihe beharrlicherweise keinen Mehrspielermodus, keine Cut-scenes, und der primär angebotene rote Faden ist eine klassische Heldengeschichte, bei der der Spieler oder die Spielerin sein/ihr Schicksal zu erfüllen hat. Dem Erfolg hat das aber keinen Abbruch getan, und das völlig zurecht: Wäre diese Heldenreise im eisigen Norden ein Roman, würde man immer noch ein Kapitel lesen, auf der nächsten Seite ein neues Wunder entdecken und sich behaglich ins Sofa kuscheln, wenn der aufflammende Bürgerkrieg und das gnadenlose, wilde Land dunkle Untertöne in die Saga einbringen.
Der rote Faden der Hauptgeschichte ist dabei nur eine grobe Richtlinie: an jeder Ecke gibt es Einladungen, den Pfad zu verlassen, und so schreibt jeder Held seine eigene Geschichte. Ob er sich als Vogelfreier mit himmelhohem Kopfgeld durch Skyrim metzelt oder als Gutmensch, -ork oder -elf sogar soweit geht, Handzettel für den Tempel von Mara, der Göttin der Liebe, zu verteilen, bleibt jedem selbst überlassen. Jede Geschichte ist individuell, jede Entscheidung definiert den Helden ein Stückchen mehr.
Das macht, wenn man SpielerInnentypen betrachtet, Skyrim eher zu einem Genuss für Leute, die gerne in einer gut simulierten Welt eintauchen, als für solche, die grandiosen Gegenständen und guten Werten hinterherjagen. Die Weltschöpfung kann sich sehen lassen und würde neben epischen Fantasyromanen mit langen Glossaren eine gute Figur machen – die Elder-Scrolls-Reihe blickt mittlerweile auf eine lange Geschichte zurück, und dieses Gefühl von Geschichtlichkeit kann im Spiel auch glaubhaft vermittelt werden. Man trifft sowohl auf die (ideologisch verfälschte) Überlieferung von Ereignissen, an denen man als SpielerIn der vorhergehenden Teile selbst beteiligt war, als auch auf etliche Hinweise, wie die Lücken zwischen den Spielen zu füllen sind.
Skyrim belohnt Neugierde, Entdeckergeist, Ideenreichtum. Man wird immer wieder auf verschiedenste Lösungswege für Aufgaben stoßen, wenn man experimentierfreudig ist, genau hinsieht und zwischen den Zeilen liest. Nur selten werden die Entscheidungen forciert, auf dem Silbertablett präsentiert oder führen zu einer prägnanten Gabelung in zwei alternative Stränge wie beim Bürgerkrieg, bei dem man die Wahl zwischen einer prinzipienlosen Diktatur und vaterlandstreuen Rassisten hat (oder die Bande einfach sich selbst überlassen kann). Meistens entscheidet man sich für Tun oder Nichttun und bekommt Entscheidungshilfen, wenn man den Gesprächen lauscht oder die Dinge genau unter die Lupe nimmt.
Die Geschichten stecken häufig in den Details, in gefundenen Notizen, verlassenen Lagerplätzen, kleinen Dramen am Straßenrand und großen an den Höfen. Man stößt auf liebevoll ausgearbeitete Szenen und Einzelheiten, die keine größere (spieltechnische) Relevanz haben, als eine kleine Geschichte zu erzählen, doch die Summe dieser Geschichten macht Skyrim zu einer so lebendigen, vielfältig erfahrbaren Welt.
Wem das noch nicht genügt, der kann sogar im Spiel eine Leseratte sein – es gibt Unmengen von Büchern in Skyrim, und einige davon hätten beinahe eine bp-Rezension verdient, so gerne blättert man sich durch. Kolb and the Dragon ist ein waschechtes Abenteuerspielbuch, bei dem man sich entscheidet, wie es weitergehen soll, und dann zur richtigen Seite gelenkt wird. Das bretonische Kochbuch Uncommon Taste bietet erbaulich geschilderte Rezepte und ist sogar signiert erhältlich. Legend of Krately House ist ein grusliges Theaterstück, bei dem es einem eiskalt den Rücken hinunterläuft. Glücklicherweise kann man ein Haus mit Bücherregal kaufen, um diese Schätze aufzubewahren, auch wenn einem – ein Problem, das merkwürdig vertraut wirkt – der Regalplatz allzu schnell ausgeht.
Wenn man das Buch zuschlägt und das Lagerfeuer verlässt, geht das Abenteuer erst los. Vor allem in den Hauptquesten warten interessante Wendungen und inspirierte Dialoge, die von großartigen Sprechern synchronisiert wurden (in der Voice-Cast findet man z.B. Max von Sydow oder Claudia Christian – auch die deutsche Synchronisation ist gelungen, von einigen Ausnahmen wie den Bardenliedern einmal abgesehen). Und nicht nur die Hauptrollen sind perfekt besetzt: Allerorten kommentieren meist charmante und gut informierte Wachen das Weltgeschehen und mit der Zeit auch die Heldenlaufbahn, überhaupt reagiert die Umwelt sehr lebendig auf die Ereignisse, die sich abspielen. Und wenn man gerade nichts besseres zu tun hat und die Lektüre alle ist, kann man immer noch den Pilgerpfad auf den höchsten Gipfel nehmen und dem Anführer eines Ordens, der den Einsatz der Stimme vervollkommnet hat, zuhören. Er könnte dabei auch aus dem bretonischen Kochbuch vorlesen, es wäre trotzdem ein Ereignis.
Als besonderer Bonus ist Skyrim auch noch erfreulich unsexistisch, sowohl beim Aussehen der Figuren als auch in der Welt herrscht Gleichstellung und es ist eine wahre Freude, wie wenig das Geschlecht zum Thema gemacht wird. Das macht gerade für Spielerinnen viel her und stellt die kognitive Dissonanz ab, die man sonst beim Spielen häufig verspürt.
Wie es sich auch für einen epischen Fantasyroman gehören würde, ist einer der Hauptdarsteller von Skyrim das Land selbst. Und ganz besonders der Himmel – noch nie war Wolkengucken in einem Spiel schöner: Das Farbenspiel von Sonnenuntergängen über dem Eismeer, die klare Luft nach einem Schneesturm, das Nordlicht über der Tundra.
Man begegnet Kriegerpoeten, mit denen man die verlorenen Teile der (in Stabreimen gedichteten!) Edda wiederbeschafft, kann der Stadtwache beim Aufspüren eines Serienmörders zur Hand gehen (und mitunter grandios danebenliegen bei der Auflösung), macht besser einen großen Bogen um Riesen mit ihren wohlbehüteten Mammutherden, fiebert beim ersten Drachenkampf mit wie nur selten vor dem Bildschirm, und wird sich beim Abschluss der Hauptquest ein wenig fühlen, als wäre man gerade einer nordischen Saga entstiegen.
Habe ich mehr erlebt als in 20 Büchern? Die Frage stellt sich nicht und war letztlich nur ein müßiges Zahlenspiel für diesen Artikel, denn das Erleben in Spielen ist trotz der Parallelen ein anderes als in Romanen, und das Erleben in Skyrim ein anderes als in anderen Spielen, die keine so offene und riesige Welt bieten. Wenn man epische Fantasy mag, durchdachte und liebevolle Details schätzt und das Interesse mitbringt, die unzähligen Geschichten der Welt selbst zu erkunden und zu ergründen – und sich für Drachen erwärmen kann –, wird man lange Freude an Skyrim haben und eine Menge Bücher weniger lesen 😉 .
Für alle, die längst wissen, was es mit „Sky above, Voice within“ auf sich hat oder für die ich mit diesem Artikel ohnehin nur Cliffracer nach Ald’ruhn getragen habe, gibt es als Schmankerl noch ein wenig Dovahkiin-Alltag im untenstehenden Filmchen, und zwei Valentinskarten, zu denen man auch als Verächter des Herzchenkommerzes nicht Nein sagen kann. Mond über Solitude oder Drache über Whiterun bieten genug romantisches Flair, um sich vor allem nach einem zu sehnen – einem weiteren Ausflug nach Skyrim.
'Pingback: Damals war das halt so … in Westeros (Teil II) in der Bibliotheka Phantastika