In einem trostlosen englischen Küstendorf fristet der Schäferssohn Jack ein eintöniges Dasein. Harte Arbeit, die verhätschelte kleine Schwester und der verbitterte Vater bestimmen seinen Alltag. Als der unheimliche Barde des Dorfes den Jungen zu seinem Lehrling erwählt, hält Jack dies zunächst für ein Missverständnis. Doch schon bald beginnt er seine Verbindung zur Magie zu spüren. Bevor er aber seine Ausbildung beenden kann, werden seine Kräfte auch schon aufs Härteste geprüft: Die Berserker kommen und ihre Segel am Horizont verheißen Blut und Feuer. Ausgerechnet um seine Schwester zu schützen, muss Jack nun all seinen Mut zusammen nehmen und sich auf eine Reise begeben, die ihn ins barbarische Nordland – und zu den Quellen der Magie – führen wird.
-“Mach dir um mich keine Sorgen”, sagte der alte Mann barsch. “Ich habe schon mehr als einem Ungeheuer die Haut abgezogen. Und jetzt lass uns Nebel machen.”-
Die Schutzrune
Drachenmeer (Sea of Trolls) ist ein Jugendbuch, mit einem linearen Aufbau, einem junge Helden und einer Entwicklungsgeschichte – aber definitiv eines von der besseren Sorte. Jack mit seinem leicht fanatischen Vater, der verhätschelten kleinen Schwester und der bodenständigen, aber zurückhaltenden Mutter ist eine Figur, mit der man sich schnell identifiziert und die einen leichten Einstieg in die Welt der Angelsachsen im frühen Mittelalter ermöglicht – schließlich kommen einem seine Probleme zumindest vage bekannt vor. Von Anfang an fällt dabei die gute Recherchearbeit der Autorin auf (die auch in einer Bibliographie im Anhang nachvollziehbar gemacht wird): Das Leben der einfachen Menschen wird nicht geschönt oder glorifiziert, und die kleinen Einblicke, die in die damalige Landwirtschaft oder Wohn- und Esskultur gegeben werden, wirken authentisch. Dabei ist Drachenmeer keineswegs ein historischer Roman, denn sobald Jack als Lehrling des alten Barden des Dorfes angenommen wird, taucht er in die Welt von Trollen, Erdmagie und Zauberern ein. Natürlich hat Jack eine Begabung für die Magie, und natürlich fällt ihm ihr Einsatz am Anfang schwer, ist aber dann zur Hand, sobald sie gebraucht wird – gerade zu Beginn der Handlung gibt es einige sehr schnell durchschaubare Handlungsmuster, die ein wenig zu sehr an schon oft Dagewesenes erinnern. Aber im Verlauf des Romans fährt die Autorin noch einige andere Kaliber auf, und Jack löst seine Probleme mit Köpfchen statt mit gerade passend kommender Erdmagie.
Einprägsame Figuren sind das Sahnehäubchen des Buches – sind die Nordmänner anfangs noch furchtbare Feinde, halbe Tiere sogar, stellt sich ihr Anführer Olaf Einbraue als durchaus liebenswerter Charakter heraus , und die auf Raubzügen basierende Lebensweise der Wikinger wird als -wenn auch nicht unbedingt erstrebenswerte- Alternative aufgezeigt, statt das Volk einfach als böse zu klassifizieren.
Auffallend ist der charmante Umgang mit den drei aufeinanderprallenden Glaubensvorstellungen den Nordens – Christentum, Glauben an nordische Gottheiten und Mythen und keltische Vorstellungen. Alle drei Glaubensrichtungen und auch ihr Zusammenspiel werden mit einem Augenzwinkern beschrieben – wie überhaupt ein schalkhafter Humor durch das ganze Buch hindurch immer wieder aufblitzt – ohne, daß sich über Religionen oder Überzeugungen lustig gemacht wird.
Das vollständige Happy End des Buches wirkt auf erfahrene Leser vielleicht ein bißchen zu rund – da wird möglichst alles gerade gebogen, was jemals krumm war; trotzdem gab es vorher so viel zu entdecken, erleben und auch erleiden, daß man das Buch sicherlich befriedigt aus der Hand legen kann.
Drachenmeer ist ein spannendes und kluges Abenteuervergnügen, das nach anfänglichen Längen tatsächlich an Klassiker wie Der Hobbit erinnert und die nordische Kultur und Mythenwelt zu einem bunten, eingängig geschilderten Leben erweckt.