Rezensent: Marengo

Cover des Buches "Der blaue Löwe" von Mary Gentle Im späten Mittelalter kämpft die Söldnerführerin Ash an der Spitze ihrer eigenen Kompanie unter dem Wappen des blauen Löwen. Seit ihrer Jugend hört sie die Stimme eines Heiligen in ihrem Kopf, die in Sachen Strategie und Taktik stets den richtigen Rat gibt. Während das Herzogtum Burgund und das Heilige Römische Reich deutscher Nation ihre Rivalitäten ausfechten und so Söldnern wie Ash goldene Zeiten bereiten, landen in Südeuropa überraschend fremdartige Invasionstruppen, deren Waffentechnologie geradezu magisch anmutet. Ash wird tiefer in diese Auseinandersetzungen hineingezogen, als ihr lieb ist. Und sie entdeckt, dass ihre “Stimme” so heilig gar nicht ist…

Ich entschuldige mich nicht dafür, eine Neuübersetzung dieser Dokumente zu präsentieren, welche unsere einzige Verbindung zum Leben dieser außergewöhnlichen Frau darstellen, Ash (geb. 1457 [?], gest. 1477 [?]), denn eine solche Neuübersetzung war schon lange nötig.-
Einführung

Mary Gentle orientiert sich unübersehbar an neueren Vertretern des Fantasygenres wie China Miéville, George R.R. Martin oder Michael Swanwick. Ihr Vorhaben ist daher durchaus ambitioniert.

Im Gegensatz zur üblichen Vorgehensweise der genannten Autoren lässt Gentle ihre Geschichte allerdings in einer historischen Epoche Europas spielen, dem 15. Jahrhundert. Es ist die Zeit des Niedergangs des Rittertums. Anstelle feudaler Heere stehen sich auf den Schlachtfeldern Söldnerkompanien gegenüber, die von Plünderung und taktischen Seitenwechseln in den zahlreichen Kriegen dieses blutigen Jahrhunderts leben.
Die Heldin Ash ist eine Art Gegenentwurf zu Jeanne d’Arc: im Tross einer Söldnerkompanie geboren, von frühester Kindheit an ans Töten gewöhnt, für das Überleben in einer harten Männerwelt bestens ausgerüstet mit einem großen Repertoire blasphemischer Flüche und zweideutiger Witze.
Mary Gentle würzt ihre Geschichte mit zahlreichen Details über spätmittelalterliche Waffentechnik, womit sicherlich nicht jeder Leser etwas anfangen kann. Die phantastischen Elemente nehmen sich anfangs spärlich aus, treten aber im Verlauf der Handlung immer stärker hervor.
Womit wir beim großen Manko dieses Romanauftakts zu einem neuen Zyklus wären: Die Handlung zieht sich wie ein Kaugummi, schleppt sich durch nichtssagende Dialoge und zerstückelt wirkende Szenen. Man wird das Gefühl nicht los, die Autorin hätte ihr Werk auf Wunsch der Verleger so ausgedehnt, denn in komprimierter Form hätte Gentle ein- und denselben Roman wesentlich spannender und dynamischer gestalten können. Ein weiterer Minuspunkt ist die deutsche Übersetzung, die selbst für Fantasy-Verhältnisse außerordentlich holprig ist, offensichtliche Grammatik- und Ausdrucksfehler sind gar nicht mal so selten.

Typische Fantasymotive und -figuren versucht die Autorin (wie ihre angenommenen Vorbilder auch) zu vermeiden. Stattdessen bedient sie sich der Technik alternativer Geschichtsverläufe. So ist das Christentum in diesem fiktiven 15. Jahrhundert weniger von der jüdischen Tradition als vielmehr vom Mysterienkult des Sonnengottes Mithras geprägt, dem in der Antike zum Beispiel Kaiser Konstantin anhing und der vor allem unter Soldaten Verbreitung fand. Es ist eine interessante Spekulation, wie das mittelalterliche Christentum ausgesehen haben könnte, wenn es sich in eine stärker synkretistische Richtung entwickelt hätte. Konstantin, der das Christentum zur römischen Staatsreligion machte, identifizierte schließlich Christus zeitlebens mit “seinem” Sonnengott. Auf mit der Materie weniger vertraute Leser dürften solche Anspielungen aber eher irritierend wirken. Auch die geheimnisvollen Invasoren im Roman sind ein im Nebel der (bekannten) Geschichte versunkenes Volk. Um wen es sich handelt, sei hier nicht verraten. Die Phantastik beschränkt sich jedoch nicht auf Alternativgeschichte: Priester und Rabbis wirken Wunder, es gibt Heiligenerscheinungen und im Hintergrund tut sich eine Welt geheimnisvoller Wesenheiten auf, die über steinerne Köpfe und Statuen mit den Menschen kommunizieren.

Cover des Buches "Fevre Dream" von George R. R. Martin Kapitän Marsh erhält ein verlockendes Angebot von einem exzentrischen Gentleman: Gemeinsam mit dem grantelnden Flussbootfahrer will Joshua York den größten, schönsten und schnellsten Schaufelraddampfer bauen, der je den Mississippi befahren hat. Für Kapitän Marsh wird ein Traum wahr. Als der Dampfer, die Fevre Dream, gebaut ist, glaubt er sich am Ziel all seiner Wünsche. Doch Kapitän York, sein mysteriöser Teilhaber, weist ein seltsames Verhalten auf: Er lässt sich nur bei Dunkelheit an Deck blicken, er scheint nachts wie eine Katze sehen zu können und er verschwindet manchmal tagelang in den abgelegenen Uferregionen des Flusses. Kapitän Marsh hat noch nie von Vampiren gehört, doch er schöpft Verdacht …

-Abner Marsh rapped the head of his hickory walking stick smartly on the hotel desk to get the clerk’s attention. “I’m here to see a man named York,” hes said. “Josh York, I believe he calls hisself. You got such a man here?”-
St. Louis, April 1857 – Chapter One

Vergesst Anne Rice, vergesst Stephen King: George R. R. Martin erweist sich mit diesem Roman als der unangefochtene Meister der Gothic Novel. Hier wechselt sich atemlose Spannung mit blankem Schrecken und nostalgischer Schönheit ab. O ja, Martin versteht es, die Welt auf dem Mississippi des 19. Jahrhunderts genauso, wie man sie sich seit der Lektüre Mark Twains vorgestellt hat, wiedererstehen zu lassen. Der Leser fiebert im wahrsten Sinne des Wortes mit, man spürt sie förmlich die Moskitos, die Sümpfe, das schweiß- und blutüberströmte Elend der Sklaven, die Hitze der Dampfkessel und die gediegene Atmosphäre der Salons auf den wunderschönen Flussbooten. Die dekadente Welt der Pflanzeraristokratie und der kreolischen Dandies nimmt vor dem inneren Auge Gestalt an; und der breite, knorrige Südstaatenakzent der Protagonisten klingt förmlich in den Ohren (daher unbedingt im Original lesen!).

Fevre Dream (Fiebertraum) beginnt als außergewöhnlich packender Roman der düsteren Phantastik, doch Martin hatte mehr im Sinne: Geschickt verschlüsselt beherrscht das Thema der Sklaverei diesen Roman. Die afrikanischstämmige Bevölkerung des amerikanischen Südens, ihr Leid und ihre Knechtschaft, sind wirklich Thema und nicht nur malerische, romantisch verklärte Kulisse wie in Interview with the Vampire (Interview mit einem Vampir), wo Schwarze höchstens als klischeehafte Voodootrommler auftreten.
Auch Martins Vampire heben sich wohltuend von den ätherisch-androgynen, ständig an romantischen Nichtigkeiten verzweifelnden Gestalten aus Rice’ Vampire Chronicles ab. Die Vampire aus Fevre Dream sind Raubtiere, ein von den Menschen gänzlich verschiedenes Volk, die aber gerade darum lebendig und glaubhaft wirken. Doch sind sie alles andere als eindimensionale Monstren, deren Aufgabe lediglich darin besteht, sich Pfähle durch die Brust hämmern zu lassen. Sie haben ihre eigenen, nichtmenschlichen und ganz und gar unromantischen Probleme, die den Fortbestand ihrer Art bedrohen. Da sie unter Menschen leben, nehmen sie stets eine menschliche Identität an, und indem sie im Lauf der Zeit an Alter und Macht gewinnen, werden sie entweder immer menschenähnlicher oder immer raubtierhafter. Es ist diese innere Zerissenheit, die sie so faszinierend macht. Diese Vampire sind Meisterwerke der Evolution, absolut tödlich, doch sie sind nur zu eigenem Kulturschaffen in der Lage, wenn sie die Menschen imitieren, die sie doch eigentlich als bloßes Schlachtvieh verachten. So kommt es, dass sie gleichzeitig kultiviert und bestienhaft sind, ambivalent und auf eindringliche Weise glaubwürdig.

Die Parallele zu den aristokratischen Plantagenbesitzern des Südens, die ihre Kultur und ihren Wohlstand parasitär auf dem Leben und der Arbeitskraft der schwarzen Sklaven aufbauen, ist deutlich. Besonders abstoßend und zugleich mitleiderregend wird dies dem Leser in der Figur des Sklavenaufsehers vor Augen geführt, White Trash, wie er verkommener und abgerissener nicht sein könnte, der sich nach nichts anderem sehnt, als selbst einer der eleganten und tödlichen Herren der Nacht zu sein. Den Kontrast dazu bildet Kapitän Marsh, der als Flusskapitän den höheren Gesellschaftsschichten angehört, jedoch trotz seiner grimmigen Art durch und durch gutmütig ist. Aufgrund seiner Erfahrungen mit den Vampiren reift er schließlich über seine eigenen Standesdünkel hinaus und überdenkt seine Haltung zur Sklaverei von Grund auf. Überhaupt sind die Vampire selbst manchmal eher Sympathieträger als furchteinflößende Feinde der Menschheit, da sie wohl zum Aussterben verurteilt sind, wenn sie nicht, ja wenn sie nicht …

Schwere Kost, könnte man meinen. Doch gewinnt der Roman auch einen wunderbaren Humor durch die Sprache der Protagonisten und vor allem durch den Kontrast zwischen dem wuchtigen Kapitän Marsh, der ausgedehnte Mahlzeiten und halsbrecherische Dampferrennen liebt, und dem kultivierten, Gedichte lesenden Joshua York. Man kann Fevre Dream als hochspannenden, atmosphärisch dichten Abenteuer- und Gruselroman lesen, doch steht es den Absichten des Autors sicherlich nicht im Wege, wenn man durch die Lektüre zum Nachdenken über Rassismus und Ausbeutung angeregt wird.
Übrigens: wer meint, ich hätte in dieser Rezension viel zu viel verraten, dem sei gesagt, dass ich noch nicht mal erwähnt habe, ob die Fevre Dream denn nun wirklich das schnellste Dampfboot auf dem Mississippi ist, ob das Gute oder das Böse den Sieg davonträgt (und wer letzten Endes überhaupt für welche Seite steht), ob die Queste der Vampire nach ihrer mythischen Stadt, ihrem Neuen Jerusalem, tatsächlich erfolgreich ist, und ob Billy Tiptons Traum vom Dasein als Vampir sich doch noch erfüllt …

Cover des Buches "Die Handschrift von Saragossa" von Jan Graf Potocki Im Jahre 1739 macht sich der junge flämische Edelmann Alfons van Woerden, Sohn eines berühmten Fachmanns für Zweikämpfe und Ehrenhändel, auf den Weg, in die Dienste des Königs von Spanien zu treten. In der Sierra Morena wird er Zeuge mysteriöser Ereignisse und trifft auf Vagabunden, maurische Weise, den Ewigen Juden, wirrköpfige Gelehrte, Don Belial de Gehenna, Überlebenskünstler, frühe Mafiosi und zauberkräftige Kabbalisten, die allesamt voller Geschichten stecken. Alfons lauscht fasziniert und verliert sich in dem Labyrinth der Worte, bis er hinter all den Erzählungen die Umrisse einer gewaltigen Verschwörung erblickt, die mit seiner familiären Herkunft verknüpft ist …

Es war ein spanisch geschriebenes Manuskript; ich hatte nur geringe Kenntnisse des Spanischen, dennoch wusste ich genug, um zu begreifen, dass dieses Buch unterhaltsam sein konnte: es handelte von Räubern, Gespenstern, Kabbalisten, und nichts war besser geeignet, mich nach den Strapazen des Feldzuges zu zerstreuen, als die Lektüre eines Romans, der von seltsamen, ungewöhnlichen Dingen berichtet. (Seite 13)

Kann ein solcher Roman echt sein? Schon die Umstände seiner Entstehung erinnern an einen geschickt arrangierten Plot, wie er von Umberto Eco oder einem anderen Meister der Postmoderne nicht kunstvoller hätte erdacht werden können: Jan Graf Potocki (1761 – 1815), polnischer Aristokrat, Geheimrat des Zaren und heimlicher Anhänger der französischen Revolution, las seiner schwer erkrankten Frau aus Tausendundeine Nacht vor. Sie äußerte den Wunsch, mehr solche Geschichten zu hören. Der Graf setzte sich ans Schreibpult und las abends vor, was er geschaffen hatte. Nachdem die Gräfin verschieden war, feilte Potocki so lange an einer Silberkugel herum, die er von einem Samowar (ein Familienerbstück) abgebrochen hatte, bis sie in den Lauf seiner Pistole passte, und erschoss sich.
Wahrheit oder Legende? Wir wissen es nicht, doch es ist anzunehmen, dass Graf Potocki es wie jeder gute Geschichtenerzähler verstand, sich in einen Schleier von Geheimnissen zu hüllen.

Die Abenteuer in der Sierra Morena ist also im Gegensatz zu  Der Name der Rose und ähnlichen Büchern eine wirkliche Handschrift. Zunächst wurden Auszüge veröffentlicht, und einige Kapitel sind nur in einer polnischen Übersetzung erhalten. (Der Graf schrieb französisch.) Erst seit einigen Jahren liegt der Roman komplett vor – das heißt, in der Gestalt, die er zum Todeszeitpunkt des Autors hatte. Die Ausgabe im Haffmans Verlag enthält sämtliche erhaltenen Kapitel, außerdem eine Karte der Sierra Morena, ein Faksimile, einige unveröffentlichte Parallelstellen und umfangreiche Erläuterungen und Anmerkungen.

Es handelt sich um einen klassischen Schachtelroman in der Tradition des Decamerone und der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Im Unterschied zu diesen gewichtigen Vorläufern sind die einzelnen Erzählungen, die die Handschrift ausmachen, allerdings lose miteinander verbunden, wodurch sich eine äußerst komplexe Handlung ergibt. Der Leser läuft Gefahr, sich selbst im Labyrinth der Geschichten zu verlieren, welches er so bereitwillig betreten hat. Nach jeder Biegung, hinter jeder Tür tun sich neue erzählerische Räume auf, hier eine Liebesgeschichte, dort eine Räuberpistole, jenseits einer verborgenen Tür eine fein gesponnene Intrige, in einer finsteren Höhle eine Geistererscheinung. Man kann in diesem Labyrinth Jahre zubringen …

Graf Potocki war ein glühender Bewunderer der Aufklärung. Seine Liebe galt der Slawistik, der er erstmals wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse brachte. Er unternahm mehrere Reisen, förderte die polnische Kultur und verfolgte aufmerksam den Verlauf der französischen Revolution. Dem zeitgenössischen Ideal des Universalgelehrten kam er sehr nahe. All dies eröffnet noch eine weitere, völlig unerwartete Dimension in Potockis gewaltigem Werk: Es handelt sich um nichts geringeres als eine Enzyklopädie der Aufklärung, den Roman einer Epoche. Deismus, Hobbessche Staatsphilosophie, Religionskritik, materialistische Naturbetrachtung, Rationalismus, satirische Bloßlegung des überkommenen aristokratischen Ehrbegriffs – alles legt Potocki seinen Protagonisten in den Mund, wird diskutiert und erläutert. Und das in einer gleichzeitg eleganten und fieberhaft-phantastischen Weise, wie man sie einem trockenen und nüchternen Aufklärer nie zugetraut hätte.

Wer Umberto Eco, Jorge Luis Borges und Patrick Süskind liebt, wird von der Handschrift begeistert sein.

Cover des Buches "Das Hohe Haus" von James Stoddard Carter wächst als Sohn von Lord Ashton Anderson in dem geheimnisvollen alten Herrenhaus Abendsee auf. Seine glückliche, wenn auch durch den Verlust der Mutter etwas einsame Kindheit verbringt er mit dem skurrilen Personal des Hauses. Jedoch wird der Friede durch die Präsenz seiner Stiefmutter, der kalten und intriganten Lady Murmur, getrübt. Carter wird der Obhut von Freunden Lord Ashtons anvertraut, da der Verbleib in Abendsee zu gefährlich für ihn wird. Jahre später kehrt er in Begleitung des jungen Anwalts William Hope zurück und versucht die Geschäfte seines Vaters zu übernehmen, doch Gefahr und Verantwortung sind groß, denn er weiß, dass Abendsee weit mehr als nur ein verwinkeltes englisches Landhaus ist.

-Das Hohe Haus, Abendsee, das seine Giebeldächer zwischen den großen Hügeln erhebt, die eine Landschaft voller Efeu, Rotdorn und Brombeersträuchern überragen, deren Früchte so süß und klein sind wie die Fingerspitze eines Kindes, das Hohe Haus haben normale Sterbliche nur selten gesehen.-
Ein großes Haus

In der Fantasy spielt der Schauplatz eine eigenständige Rolle. Dies versichert uns George R. R. Martin, und wer jemals in Westeros, Mittelerde, Hogwarts oder Narnia gewesen ist (andere mögen an dieser Stelle Zamonien, Gormenghast, Glorianas Schloss oder New Crobuzon einfügen), der wird ihm lebhaft beipflichten. Dieser Satz trifft auf wenige Fantasies so stark zu wie auf Stoddards Debütroman.

Abendsee, das Hohe Haus, ist der eigentliche Star dieser Geschichte. Es macht einfach Spaß, sich in seinen Räumen und Fluren aufzuhalten. Es vermittelt dem Leser das warme Kribbeln im Unterleib, das man nur dann empfindet, wenn man es sich in einem vertrauten, gemütlichen Zimmer bequem gemacht hat, und den angenehmen Schauer, der einem den Rücken hinunterläuft, wenn man ein labyrinthisches Schloss oder eine alte Bibliothek erkundet.
Von außen sieht Abendsee wie ein ganz gewöhnliches Herrenhaus mit leicht verwunschener Atmosphäre aus, das sich mit seinen Türmchen, Galerien, Wasserspeiern und Bogenfenstern als architektonisches Durcheinander präsentiert, doch im Inneren birgt es Flüsse, Fürstentümer und Ozeane, Urwälder und Agrikulturen. Enge Korridore und Geheimgänge wechseln sich mit majestätischen Hallen ab. Mal trifft man monatelang kein lebendes Wesen, wenn man seine Zimmerfluchten durchstreift, mal bereist man dichtbevölkerte Reiche. Auf den Dachböden hausen Drachen und in den Kellern Raubtiere, die sich als Möbel tarnen. Es gibt Salons, in denen tropische Vegetation alles überwuchert, Flure, in denen über Meilen der Nebel wabert, Säle, in denen Märkte abgehalten werden, und Innenhöfe, auf denen Getreide kultiviert wird. Gelegentlich haben sich skurrile Gesellschaftssysteme entwickelt – so genießen in Gegenden mit Dielenböden und hölzernen Geländern und Wandverkleidungen die Feuerwehrleute das höchste Ansehen, während anderswo die Kaste des häuslichen Reinigungspersonals sogar die Regierung stellt.

Die Handlung scheint im viktorianischen England zu spielen. Es könnte sich aber auch um einen gewollten Anachronismus handeln, da Stoddards wohl größtes Vorbild, George MacDonald, in dieser Zeit lebte. Abendsee selbst liefert in dieser Hinsicht kaum Anhaltspunkte, da sich hier Ritterheere bekämpfen, während anderswo Männer in Hüten und dunklen Mänteln mit Pistolen und Messern aufeinander losgehen. In der Tat macht gerade auch dieses kunterbunte Durcheinander den Reiz der Geschichte aus.
Der Plot selbst ist, wie bei vielen Fantasyromanen, eine geradlinige Abenteuergeschichte mit Ansätzen zum Entwicklungsroman. Carter und seine Verbündeten bekämpfen die Gesellschaft der Anarchisten, deren Ziel – Bescheidenheit ist ihre Sache nicht – die völlige Vernichtung des Universums ist. Wer hier konservative Instinkte wittert, liegt ganz richtig: Die traditionellen Staatssysteme der verschiedenen Reiche von Abendsee sind stets volksnah und sinnstiftend, während die Anarchisten verantwortungslose Brandstifter und Hetzredner sind, berauscht von ihrer eigenen Machtgier und Zerstörungswut. Da aber die Absicht der Anarchisten keineswegs wie im politischen Anarchismus die Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft ist, sollte man die politische Lesart nicht überstrapazieren. Allenfalls ließe sich sagen, dass “Gesellschaft der Nihilisten” vielleicht ein passenderer Name gewesen wäre, da eher den Zielsetzungen dieser Bösewichter entsprechend.
Auffällig ist, dass Stoddard auf explizite Sex- und Gewaltdarstellungen vollständig verzichtet und sich somit von vielen zeitgenössischen Fantasyautoren stark abhebt. Tiefgehende Charakterzeichnungen sucht man außer bei der Hauptfigur vergeblich, herauszuheben ist aber auf jeden Fall, dass Stoddard dem Gros der Fantasyautoren stilistisch überlegen ist.

Das Hohe Haus ist eine Hommage an die Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger von Lin Carter herausgegebene Reihe Ballantine Adult Fantasy, in der stilbildene Werke von AutorInnen wie Lord Dunsany, Poul Anderson, Hope Mirrlees, George MacDonald, James Branch Cabell und Joy Chant erschienen. Unter diesen sind auch Stoddards Vorbilder zu suchen, und entsprechend steckt Das Hohe Haus voller Anspielungen und Querverweise, die auf liebevolle Art in den Roman integriert wurden, so dass niemals die Eigenständigkeit unter der Größe der Vorbilder leidet.

Cover des Buches "Sturm über Windhaven" von Georg R.R. Martin und Lisa Tuttle Auf dem fremden Planeten “Windhaven”, dessen Oberfläche zum größten Teil aus Wasser, durchsetzt nur von einigen Inseln, besteht, existiert eine Klasse von Fliegern, die mittels der Reste eines uralten Sternensegels, das einst von einem havarierten Raumschiff zurückgelassen wurde, als Botschafter zwischen den Inseln fungieren. Die Flieger gelten als privilegiert; die kostbaren Flügel werden innerhalb der Familie vererbt, und niemand, der nicht ein “geborener Flieger” ist, also einer solchen Familie angehört, hat jemals die Möglichkeit sich den Traum vom Fliegen zu erfüllen. Maris von Amberly, eine so genannte “Landgebundene” begehrt gegen diese Tradition auf, um ihre unstillbare Sehnsucht nach dem Fliegen zu erfüllen.

-Maris ließ sich von den Sturmböen über das Meer dahintreiben. Sie zähmte die Winde mit breiten Flügeln aus Metallfolie. Waghalsig flog sie über die Wellen, die Gefahr und die Gischtspritzer bereiteten ihr Vergnügen, die Kälte störte sie nicht im Geringsten. Der Himmel hatte eine ominöse kobaltblaue Färbung angenommen, der Wind frischte auf, und sie hatte Flügel, das reichte ihr. Sie hätte jetzt sterben können und wäre glücklich gestorben, im Flug.-
Teil 1: Stürme

Vorsicht: Wer George R.R. Martins glänzende Meisterwerke wie The Ice Dragon oder A Song of Ice and Fire kennt und liebt, wird von diesem Roman vielleicht enttäuscht sein. In Sturm über Windhaven (Windhaven) steht nicht wie in den obengenannten Werken die Erschaffung einer epischen Sekundärwelt mit ausgereifter Mythologie im Mittelpunkt. Stattdessen hat das kleine, aber feine Büchlein ganz andere Qualitäten. Je weiter man liest, desto bestimmter wird jedenfalls die Überzeugung, dass man eine echte Perle vor sich hat.

In dieser Zusammenarbeit mit Lisa Tuttle treten – anstelle von haarsträubenden Horroreffekten, düster-realistischen Kriegsbeschreibungen und eingängig beschriebenen, originellen Charakteren – eher die inneren Beweggründe der Charaktere und ihre Konflikte mit den gesellschaftlichen Normen in den Vordergrund.
Vergangene Ereignisse wie Kriege zwischen einzelnen Inseln, frühere Konflikte innerhalb der Fliegerkaste und die Besiedelung der Meeres- und Felsenwelt von Windhaven werden eher beiläufig erwähnt. Auch typische Elemente wie Seeungeheuer oder Priesterkasten und Fliegerfürsten, die man in einem solchen Roman geradezu erwarten würde, spielen eher nebensächliche Rollen.
So kann man sich ganz auf den der Handlung zugrundeliegenden Konflikt, die sich anbahnenden gesellschaftlichen Veränderungen auf den nahezu isolierten Inseln und die Rollen und Beweggründe der einzelnen Protagonisten darin konzentrieren.

Dreh- und Angelpunkt des gesamten Plots ist die Hauptfigur Maris von Klein Amberly, welche die elitäre Kaste der Flieger herausfordert und damit eine Dynamik auslöst, die wiederum Maris’ anfänglich feste Überzeugung erschüttert, auf jeden Fall richtig zu handeln. Insbesondere muss sie sich die Frage stellen, ob sie wirklich im Namen des Allgemeinwohls überkommene Strukturen aufbrechen wollte oder den Stein nur ins Rollen gebracht hat, um ihren persönlichen Traum wahr werden zu lassen.
Wer jetzt glaubt, es handele sich hier um eine kitschige, typisch amerikanische Du-kannst-es-schaffen-wenn-du-nur-an-dich-selbst-glaubst-Geschichte – weit gefehlt. Stattdessen wird deutlich gemacht, dass auch immer dann größere Umwälzungsprozesse im Hintergrund stehen, wenn scheinbar eine einzelne Person die Welt auf den Kopf stellt, und dass man nie ganz Herr seiner Taten ist, da man als soziales Wesen stets in Interaktion mit seiner Umwelt steht. Sicherlich ein ungewöhnliches Thema für einen Fantasyroman, jedoch eigentümlich berührend und in der Größe der Darstellung einer klassischen Tragödie angemessen.