Kapitän Marsh erhält ein verlockendes Angebot von einem exzentrischen Gentleman: Gemeinsam mit dem grantelnden Flussbootfahrer will Joshua York den größten, schönsten und schnellsten Schaufelraddampfer bauen, der je den Mississippi befahren hat. Für Kapitän Marsh wird ein Traum wahr. Als der Dampfer, die Fevre Dream, gebaut ist, glaubt er sich am Ziel all seiner Wünsche. Doch Kapitän York, sein mysteriöser Teilhaber, weist ein seltsames Verhalten auf: Er lässt sich nur bei Dunkelheit an Deck blicken, er scheint nachts wie eine Katze sehen zu können und er verschwindet manchmal tagelang in den abgelegenen Uferregionen des Flusses. Kapitän Marsh hat noch nie von Vampiren gehört, doch er schöpft Verdacht …
-Abner Marsh rapped the head of his hickory walking stick smartly on the hotel desk to get the clerk’s attention. “I’m here to see a man named York,” hes said. “Josh York, I believe he calls hisself. You got such a man here?”-
St. Louis, April 1857 – Chapter One
Vergesst Anne Rice, vergesst Stephen King: George R. R. Martin erweist sich mit diesem Roman als der unangefochtene Meister der Gothic Novel. Hier wechselt sich atemlose Spannung mit blankem Schrecken und nostalgischer Schönheit ab. O ja, Martin versteht es, die Welt auf dem Mississippi des 19. Jahrhunderts genauso, wie man sie sich seit der Lektüre Mark Twains vorgestellt hat, wiedererstehen zu lassen. Der Leser fiebert im wahrsten Sinne des Wortes mit, man spürt sie förmlich die Moskitos, die Sümpfe, das schweiß- und blutüberströmte Elend der Sklaven, die Hitze der Dampfkessel und die gediegene Atmosphäre der Salons auf den wunderschönen Flussbooten. Die dekadente Welt der Pflanzeraristokratie und der kreolischen Dandies nimmt vor dem inneren Auge Gestalt an; und der breite, knorrige Südstaatenakzent der Protagonisten klingt förmlich in den Ohren (daher unbedingt im Original lesen!).
Fevre Dream (Fiebertraum) beginnt als außergewöhnlich packender Roman der düsteren Phantastik, doch Martin hatte mehr im Sinne: Geschickt verschlüsselt beherrscht das Thema der Sklaverei diesen Roman. Die afrikanischstämmige Bevölkerung des amerikanischen Südens, ihr Leid und ihre Knechtschaft, sind wirklich Thema und nicht nur malerische, romantisch verklärte Kulisse wie in Interview with the Vampire (Interview mit einem Vampir), wo Schwarze höchstens als klischeehafte Voodootrommler auftreten.
Auch Martins Vampire heben sich wohltuend von den ätherisch-androgynen, ständig an romantischen Nichtigkeiten verzweifelnden Gestalten aus Rice’ Vampire Chronicles ab. Die Vampire aus Fevre Dream sind Raubtiere, ein von den Menschen gänzlich verschiedenes Volk, die aber gerade darum lebendig und glaubhaft wirken. Doch sind sie alles andere als eindimensionale Monstren, deren Aufgabe lediglich darin besteht, sich Pfähle durch die Brust hämmern zu lassen. Sie haben ihre eigenen, nichtmenschlichen und ganz und gar unromantischen Probleme, die den Fortbestand ihrer Art bedrohen. Da sie unter Menschen leben, nehmen sie stets eine menschliche Identität an, und indem sie im Lauf der Zeit an Alter und Macht gewinnen, werden sie entweder immer menschenähnlicher oder immer raubtierhafter. Es ist diese innere Zerissenheit, die sie so faszinierend macht. Diese Vampire sind Meisterwerke der Evolution, absolut tödlich, doch sie sind nur zu eigenem Kulturschaffen in der Lage, wenn sie die Menschen imitieren, die sie doch eigentlich als bloßes Schlachtvieh verachten. So kommt es, dass sie gleichzeitig kultiviert und bestienhaft sind, ambivalent und auf eindringliche Weise glaubwürdig.
Die Parallele zu den aristokratischen Plantagenbesitzern des Südens, die ihre Kultur und ihren Wohlstand parasitär auf dem Leben und der Arbeitskraft der schwarzen Sklaven aufbauen, ist deutlich. Besonders abstoßend und zugleich mitleiderregend wird dies dem Leser in der Figur des Sklavenaufsehers vor Augen geführt, White Trash, wie er verkommener und abgerissener nicht sein könnte, der sich nach nichts anderem sehnt, als selbst einer der eleganten und tödlichen Herren der Nacht zu sein. Den Kontrast dazu bildet Kapitän Marsh, der als Flusskapitän den höheren Gesellschaftsschichten angehört, jedoch trotz seiner grimmigen Art durch und durch gutmütig ist. Aufgrund seiner Erfahrungen mit den Vampiren reift er schließlich über seine eigenen Standesdünkel hinaus und überdenkt seine Haltung zur Sklaverei von Grund auf. Überhaupt sind die Vampire selbst manchmal eher Sympathieträger als furchteinflößende Feinde der Menschheit, da sie wohl zum Aussterben verurteilt sind, wenn sie nicht, ja wenn sie nicht …
Schwere Kost, könnte man meinen. Doch gewinnt der Roman auch einen wunderbaren Humor durch die Sprache der Protagonisten und vor allem durch den Kontrast zwischen dem wuchtigen Kapitän Marsh, der ausgedehnte Mahlzeiten und halsbrecherische Dampferrennen liebt, und dem kultivierten, Gedichte lesenden Joshua York. Man kann Fevre Dream als hochspannenden, atmosphärisch dichten Abenteuer- und Gruselroman lesen, doch steht es den Absichten des Autors sicherlich nicht im Wege, wenn man durch die Lektüre zum Nachdenken über Rassismus und Ausbeutung angeregt wird.
Übrigens: wer meint, ich hätte in dieser Rezension viel zu viel verraten, dem sei gesagt, dass ich noch nicht mal erwähnt habe, ob die Fevre Dream denn nun wirklich das schnellste Dampfboot auf dem Mississippi ist, ob das Gute oder das Böse den Sieg davonträgt (und wer letzten Endes überhaupt für welche Seite steht), ob die Queste der Vampire nach ihrer mythischen Stadt, ihrem Neuen Jerusalem, tatsächlich erfolgreich ist, und ob Billy Tiptons Traum vom Dasein als Vampir sich doch noch erfüllt …