Die Weihnachtszeit ist die Zeit der großen Gefühle, der heimeligen Gemütlichkeit und der wohligen Wärme, die man verspürt, wenn man frisch aus dem Ofen genommene Plätzchen isst. Der Dezember ist jedoch gleichzeitig ein Monat der dunklen und langen Nächte, und da für Wohligkeit im Advent eh allerorts gesorgt wird, möchte uns das Buch des Monats für Dezember mit auf eine Reise in die Dunkelheit nehmen.
Bereits das Cover von Jeff VanderMeers Auslöschung, dem ersten Band der Southern-Reach-Trilogie, deutet an, dass wir uns als Leser auf keinen leichtfüßigen Spaziergang begeben. Ich würde von einer Augenweide sprechen, wenn da nicht dieses Gefühl wäre, dass die Naturdarstellung sich die wohlgesetzten Buchstaben des martialischen Titels langsam einverleibt. Der Grundton, der vom Cover und den ersten Worten angeschlagen wird, ist gleichzeitig ein fesselnder Misston voller Störung und Disharmonie, der einigen wohl bekannt ist: Der Roman beginnt mit einem Picknick am Wegesrand.
Seit einem mysteriösen Ereignis ist ein bestimmtes Gebiet des Landes, Area X, fortan Ort seltsamer Vorkommnisse und unheimlicher Begegnungen. Während die Bevölkerung über die Jahre hinweg das Interesse daran verliert – man kann schließlich nicht allen Folgen der Umweltverschmutzung Herr werden – entsendet die nicht weniger mysteriöse Organisation Southern Reach regelmäßig Expeditionen, um das Gebiet zu erforschen. Auch eine namenlose Biologin sucht ihr Glück und Vergessen in einer Expedition; ihr Tagebuch liegt nun also gebunden vor uns.
Aus der bekannten Ausgangslage erwächst ein Roman, der virtuos die Saiten zweier Urantriebskräfte mal leise, mal betäubend laut zum Schwingen bringt: Angst und Neugier. Die Biologin erfährt Area X als eine Art Urwildnis, in der Namen, Gesetze oder Regeln evolutionäre Verlierer sind. Wesen und Vorkommnisse bleiben namenlos, und die Unfähigkeit der Biologin, Geschehnisse und Anblicke in erklärende Worte zu fassen, macht das Unglaubliche, Unbenennbare nur noch realer und beklemmender. Das Menschliche scheint sich immer weiter zurückzuziehen, je mehr Seiten man umblättert, es macht einer Natur Platz, deren Schlingpflanzen sich tief in unsere Seele bohren und ein Gefühl der Ausgeliefertheit hinterlassen. Wahrlich beunruhigend ist es jedoch, wie beruhigend dieses Gefühl wirken kann; doch so wie die Hauptfigur nicht anders kann, als dem dunklen, unbekannten Tunnel nur noch eine weitere Biegung zu folgen – nur noch eine! – so können wir nicht anders, als ihr atemlos und auf Zehenspitzen nachzulaufen.
Es ist eine herausragende Qualität des Romans, dass Area X im Roman nicht nur auf einer Landkarte existiert: auch die Geheimnisse, Gefühle und Antriebe der Figuren sind weiße Flecken, die langsam erkundet werden müssen. Hier ist der Leser völlig auf sich allein gestellt, und so manches Mal scheint die unmöglichste Natur noch fassbarer zu sein als ein Einblick in ein Seelenleben.
Auslöschung ist ein perfektes Buch für LeserInnen, für die weitere Rätsel und Fragen die perfekte Antwort auf ihre Neugier sind. Und lieber das Buch jetzt im Dezember lesen, wenn die Natur ihrer Kraft beraubt und das Dickicht durchschaubar scheint – im Januar 2015 geht es dann mit Band 2 Autorität weiter. Auslöschung war nämlich nur der Anfang.