Zum 65. Geburtstag von James P. Blaylock

Bibliotheka Phantastika gratuliert James P. Blaylock, der heute 65 Jahre alt wird. Der am 20. September 1950 in Long Beach, Kalifornien, geborene James Paul Blaylock debütierte 1977 mit der SF-Story “Red Planet” im Magazin Unearth, und schon seine zweite Veröffentlichung – die nach Meinung mancher Kritiker erste, bewusst als solche verfasste Steampunk-Geschichte “The Ape-Box Affair” (1978, ebenfalls in Unearth) – kann man als Schatten betrachten, den große Ereignisse bekanntlich vorauswerfen, denn Mitte der 80er Jahre sollte Blaylock zu einem der Gründerväter des Steampunk (zusammen mit seinen Freunden Tim Powers und K.W. Jeter) werden. Zuvor versuchte er sich allerdings noch an etwas traditionellerer Fantasy, wobei sich “traditioneller” am ehesten auf das Setting bezieht – und selbst das stimmt nur begrenzt.
The Elfin Ship von James BlaylockIn seinem Romanerstling The Elfin Ship (1982) – den Blaylock mehrfach umschreiben musste und der erst 2002 als The Man in the Moon in seiner ursprünglichen Fassung erschienen ist – kommen zwar Elfen, Zwerge und Trolle vor, und es gibt auch eine Queste, aber damit enden die Gemeinsamkeiten mit Tolkien bzw. typischen tolkienesken Questenromanen auch schon wieder. Denn der schrullige Meisterkäser Jonathan Bing und dessen ebenso skurrile Gefährten (zu denen auch Bings Hund Ahab gehört) verlassen nur deshalb ihren Heimatort Twombly Town und brechen – nicht ohne Vorbehalte – flussabwärts ins große Abenteuer auf, weil die Händler aus der Handelsstadt Willowwood Village verschwunden sind, was bedeutet, dass es an Weihnachten keine Honigkuchen von zwergischen Bäckermeistern oder elfisches Spielzeug geben wird – und das kann man den Kindern von Twombly Town nun wirklich nicht zumuten. Natürlich müssen sie allerlei Gefahren überstehen, aber die Geschehnisse an sich und vor allem die Figuren verleihen diesem, offensichtlich von Kenneth Grahames The Wind in the Willows aka Der Wind in den Weiden inspirierten Roman und seiner Fortsetzung The Disappearing Dwarf (1983) die Atmosphäre abends am Kamin erzählter, nicht so recht ernstzunehmender Schnurren. Die gesamte, ein paar Jahre später um das etwas düsterere Prequel The Stone Giant (1989) ergänzte und als Balumnia Trilogy bezeichnete Sequenz, die als Elfen-Zyklus auch auf Deutsch erschienen ist (Einzeltitel: Das Elfenschiff (1994), Die Festung des Selznak (1995) und Der Steinriese (1999)), sollte Blaylocks einziger Beitrag zur Fantasy im engeren Sinne bleiben (und ist – dies sei noch einmal angemerkt – gewiss gewöhnungsbedürftig und ganz sicher nichts für Freunde action-orientierter Romane).
Nach den ersten beiden Bänden der Balumnia Trilogy wandte Blaylock sich in The Digging Leviathan (1984) zum ersten Mal einem Setting zu, das später noch häufiger als Spielwiese seiner Romane dienen würde, nämlich dem modernen Kalifornien bzw. in diesem Fall konkret Los Angeles, wo ein ganzer Haufen exzentrischer Figuren (um es vorsichtig auszudrücken) versucht, ins (hohle) Erdinnere vorzustoßen, das dann Schauplatz der Handlung der direkten Fortsetzung Zeuglodon (2012) ist.
Thematisch und durch bestimmte Figuren mit den beiden eben genannten Romanen verbunden sind die Romane und Geschichten, in deren Mittelpunkt der Wissenschaftler und Entdecker Langdon St. Ives steht, allerdings spielt Homunculus (1986), der erste dieser Romane, in einem düsteren viktorianischen London, das – abgesehen von den phantastischen Elementen – auch ein Charles Dickens so hätte schildern können. In besagtem London sind Langdon St. Ives und seine Freunde vom Trismegistus Club ebenso wie ihre Gegenspieler – in erster Linie der mad scientist und Zauberer Doktor Narbondo und der Sektenführer Shiloh – auf der Jagd nach ganz bestimmten boxes aka Kästchen, sprich: mechanischen, von einem genialen Spielzeugmacher geschaffenen Wunderwerken, die die unterschiedlichsten Dinge enthalten, unter anderem den titelgebenden Homunculus, einen kleinwüchsigen Außerirdischen, der Tote wieder zum Leben erwecken können soll. Wie Blaylocks vorangegangene Romane überzeugt auch Homunculus vor allem als Abfolge im Detail gelungener, hier zumeist grotesker bis bizarrer Szenen, in denen die Welt als Kaleidoskop aus mal mehr, mal weniger absurden Geschehnissen geschildert wird, während es dem Plot an Stringenz mangelt und auch die Charakterisierung der wichtigsten Figuren eher oberflächlich bleibt. Dessen ungeachtet gilt Homunculus zu Recht (neben Tim Powers’ The Anubis Gates bzw. Die Tore zu Anubis Reich und K.W. Jeters Infernal Devices bzw. Das Erbe des Uhrmachers) als eines der grundlegenden Werke des Steampunk, dessen Bilder – wie die der Eingangssequenz, in der der Schatten eines von einem längst toten Steuermann gelenkten Luftschiffs über London wandert – auch lange nach der Lektüre im Gedächtnis bleiben.
Homunculus von James BlaylockLangdon St. Ives und einige seiner Freunde durften noch jede Menge weiterer Abenteuer erleben, die sie zum Teil weit über die Grenzen Londons hinausgeführt haben, doch im Gegensatz zum Philip-K.-Dick-Award-Gewinner Homunculus, der es unter eben diesem Titel 1990 auch nach Deutschland geschafft hat, sind Lord Kelvin’s Machine (1992), The Ebb Tide (2009), The Affair of the Chalk Cliffs (2011), The Aylesford Skull (2013) und Beneath London (2015) nie auf Deutsch erschienen.
Zwischen den ersten beiden Romanen der Langdon-St.-Ives-Sequenz ist Blaylock mit Land of Dreams (1987; dt. Land der Träume (1990)), The Last Coin (1988; dt. Die letzte Münze (1991) und The Paper Grail (1991; dt. Hokusais Gral (1999)) wieder ins zeitgenössische Kalifornien – dieses Mal allerdings in den nördlichen Teil – zurückgekehrt. In ihnen geht es um bootsgroße Schuhe, einen düsteren Wanderzirkus nach Bradbury-Art und eine Reise ins Land der Träume bzw. den Ewigen Juden und die berühmten dreißig Silberlinge bzw. eine Queste, bei der der Artus-Mythos, Hokusais Bilder und die Präraffaeliten eine wichtige Rolle spielen. Während Blaylock in diesen Romanen unverkennbar seiner Vorliebe für skurrile Szenarien und absonderliche Begebenheiten weiterhin freien Lauf gelassen hat, nähern sich die so etwa ab Mitte der 90er Jahre abseits der Langdon-St.-Ives-Sequenz entstandenen Romane wie z.B. Winter Tides (1997; dt. Gezeiten des Winters (2003)) oder The Rainy Season (1999; dt. Brunnenkinder (2002)) – um nur die zu nennen, die ins Deutsche übertragen wurden – mehr der klassischen unheimlichen Phantastik an.
Da seine in den letzten Jahren entstandenen Werke – mit Ausnahme des doch auch sehr schrägen Zeuglodon – sich allerdings alle um die Abenteuer Langdon St. Ives’ und seiner Freunde drehen, scheint James P. Blaylock sich inzwischen wieder auf seine eigentliche Stärke – nämlich das Erschaffen grotesker und/oder absurder Bilder und Szenarien – besonnen zu haben.

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