Bibliotheka Phantastika gratuliert Tim Powers, der heute 60 Jahre alt wird. Der am 29. Februar 1952 in Buffalo im amerikanischen Bundesstaat New York geborene Timothy Thomas Powers brauchte zwei recht belanglose SF-Romane, um sich warmzuschreiben, bis er mit dem historischen Fantasyroman The Drawing of the Dark (1979) seine Stimme gefunden hat. Vordergründig geht es in diesem Roman um die Belagerung Wiens durch die Türken im Jahre 1529, doch in Wirklichkeit ist das nur die Kulisse für einen viel größeren Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Ost und West. Darüber hinaus spielt noch ein ganz besonderes Bier eine Rolle – und der Fisher King, der geheime Herr über Westeuropa, hat hier seinen ersten Auftritt in einem Powers-Roman.
The Drawing of the Dark ist bis heute mehr oder weniger ein Geheimtipp geblieben – ganz im Gegensatz zu The Anubis Gates (1983), Powers’ nächstem Roman, der den Philip K. Dick Award gewonnen hat und wohl sein erfolgreichstes und bekanntestes Werk ist. Die Tore zu Anubis Reich (1988) – so der deutsche Titel – erzählt die Geschichte des Literaturprofessors Brendan Doyle, der nach einer erfolgreichen Zeitreise im London des frühen 19. Jahrhunderts strandet. Zwar kennt Doyle sich in dieser Epoche dank seiner Beschäftigung mit dem Werk des Dichters William Ashbless ziemlich gut aus, doch auf das, was ihn erwartet, ist er dennoch ganz und gar nicht vorbereitet. Wie hätte er auch ahnen können, dass er zwar einerseits die Bekanntschaft von Lord Byron und Samuel Taylor Coleridge machen, es aber andererseits mit ägyptischen Zauberern, einem körpertauschenden Werwolf und Harrobin, dem schrecklichen Herrscher der Londoner Unterwelt zu tun bekommen wird? Und das ist noch längst nicht alles … The Anubis Gates ist nicht nur ein wunderbar erzählter, spannender Abenteuerroman, sondern auch eine der Keimzellen des Steampunk, auch wenn keine Dampfmaschinen darin vorkommen und er heutzutage zumeist gar nicht mehr unter Steampunk gelistet wird.
Deutlich weniger farbig ausgefallen und wesentlich gradliniger erzählt ist Dinner at Deviant’s Palace (1985; dt. Zu Tisch in Deviants Palast (1989), ein in einem postapokalyptischen, in SF-Begriffen beschriebenen Los Angeles angesiedelter Roman, der ebenfalls den Philip K. Dick Award gewonnen hat, und in dem ein Psychovampir – ein nichtmenschliches Wesen aus dem Weltall – die überlebenden Menschen mehr und mehr in seinen Bann zieht und von dem Musiker Rivas bekämpft werden muss.
On Stranger Tides (1987; dt. In fremderen Gezeiten (1989)) ist einer der wenigen phantastischen Romane, der im Piratenmilieu (einer Alternativwelt) spielt, und das so überzeugend, dass der vierte Teil des Blockbusters Fluch der Karibik sich vieler der im Roman vorkommenden Elemente bedient (aber keine Verfilmung im eigentlichen Sinne ist). Genau wie Brendan Doyle macht auch John Chandagnac eine Reise, die einen ganz anderen als den geplanten Verlauf nimmt, und das ist nicht die einzige Parallele zwischen den beiden. Doch so spannend Chandagnacs Auseinandersetzung mit dem Piraten und Magier Blackbeard auch inszeniert sein mag – wenn es um Atmosphäre geht, kann die Karibik trotz Zombies mit den nebligen, von Gaslaternen erleuchteten Straßen Londons nicht ganz mithalten.
Schon öfters hat Tim Powers historische Persönlichkeiten in seinen Romanen auftreten lassen, doch so weit wie in The Stress of Her Regard (1989; dt. Die kalte Braut (1991)) hat er es zuvor nie getrieben. In diesem mit dem Mythopoeic Fantasy Award ausgezeichneten Roman erweisen sich so bekannte Autoren und Autorinnen wie Lord Byron, Percy Bysshe Shelley, Mary Shelley oder John Keats als Figuren in einem Spiel, das von uralten, vampirischen Kreaturen gespielt wird. Eine allgegenwärtige Atmosphäre des Verlusts macht dieses Buch zu Powers vermutlich am schwersten zugänglichen und düstersten Werk. Und darüber hinaus ist es eines, in dem die Thematik der Geheimgeschichte – der hinter den Kulissen ablaufenden wirklichen Geschichte – eine wesentliche Rolle spielt.
Die nächsten drei Romane bilden eine thematische Einheit, denn bei Last Call (1992), Expiration Date (1995) und Earthquake Weather (1997; dt. in zwei Bänden: Dionysos erwacht und Der Fischerkönig (beide 2002)) handelt es sich um Powers’ Umsetzung und Neu-Interpretation der Legende vom Fisher King, die allerdings in ein modernes Setting – die amerikanische Westküste und Las Vegas – verlegt wird. Zumindest das amerikanische Publikum ist Tim Powers auch in die Gegenwart gefolgt, denn alle drei Romane haben den Locus Award gewonnen.
Mit Preisen – nämlich dem World Fantasy Award und dem International Horror Guild Award – wurde auch Declare (2000; dt. Declare. Auf dem Berg der Engel (2004)) ausgezeichnet, ein Spionagethriller, in dem nicht nur der Spion Kim Philby auftritt, sondern auch Dschinne vorkommen – mal ganz davon abgesehen, dass uns darin erklärt wird, wie der Kalte Krieg wirklich abgelaufen ist …
Ebenfalls um eine Geheimgeschichte – in der u.a. Albert Einstein, Charlie Chaplin und die “Harmonische Konvergenz” eine Rolle spielen – geht es in Three Days to Never (2006), während der für nächsten Monat angekündigte Roman Hide Me Among the Graves anscheinend an The Stress of Her Regard anknüpft. Zumindest gibt es ein Wiedersehen mit Lord Byron – und auch die Namen Christina Rossetti und Dante Gabriel Rossetti klingen vielversprechend.
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