Zum 55. Geburtstag von Kim Newman

Bibliotheka Phantastika gratuliert Kim Newman, der heute 55 Jahre alt wird. Bevor der am 31. Juli 1959 im Londoner Stadtteil Brixton geborene, aber in dem kleinen Dörfchen Aller in Somerset aufgewachsene Kim James Newman seine ersten Romane veröffentlichte, hatte er u.a. bereits als Journalist gearbeitet und sich als Filmkritiker einen Namen gemacht, Letzteres vor allem mit Nightmare Movies: Wide Screen Horror Since 1968 (1984), einer Geschichte des Horrorfilms, die als Nightmare Movies: A Critical History of the Horror Film 1968-1988 (1988) bzw. Nightmare Movies: Horror on Screen since the 1960s (2011) zwei erweiterte Neuauflagen erlebte. Aufsehen erregte auch die gemeinsam mit Neil Gaiman unter dem Titel Ghastly Beyond Belief (1985) herausgegebene Sammlung denkwürdiger Zitate aus SF-Romanen und -Filmen sowie der mit Stephen Jones herausgegebene Band Horror: 100 Best Books (1988). Aber an dieser Stelle soll es ja vor allem um den Belletristik-Autor Kim Newman gehen, der zunächst einmal – angefangen mit “Dreamers” im Sommer 1984 in Interzone #8 – jedes Jahr eine Kurzgeschichte (zumeist ebenfalls in Interzone) veröffentlichte, ehe mit The Night Mayor (1989; dt. Die Nacht in Dir (1995)) sein erster Roman erschien, in dem Newmans Liebe zum Kino einmal mehr deutlich wird, denn er dreht sich um zwei professionelle Träumer, die gezwungen sind, die Traumwelt eines Verbrechers zu betreten, die aus Versatzstücken des film noir zusammengesetzt ist.
Drachenfels von Jack YeovilIm gleichen Jahr begann er unter dem Pseudonym Jack Yeovil mit seinem Abstecher in die Welt des Warhammer-Universums, der zu seinen einzigen “echten” Fantasyromanen führte und zeigte, was man aus dem Szenario “Begleitroman zum (Rollen-)Spiel” alles herausholen kann, wenn man Konventionen hinter sich lässt und die Sache mit Lust und Laune, und, wie in Yeovils Fall, mit breiten Kenntnissen im Grusel- und Horrorfilmgenre, anpackt. In den Warhammer-Romanen tritt außerdem eine zentrale Figur auf, die mit blondem Haar, ewiger lolitahafter Jugend und scharfen Beißerchen durch Yeovils/Newmans gesamtes Werk flattert: Geneviève Dieudonné, Vampirin und wandelbare Dame von Welt, kampferprobte Veteranin und Femme fatale. Ihr erstes Abenteuer Drachenfels (1989, dt. Drachenfels (1996)) beginnt harmlos mit einer prunkvollen Theateraufführung zum Jubiläum einer Heldentat, die in Originalkulisse stattfinden soll. Hinter der Bühne geht es allerdings nicht mit rechten Dingen zu. Man betrachtet das Geschehen meist aus der Sicht von Detlef Sierck, dem Stückeschreiber, was zu einem famosen Abfeiern der Filmvorbilder und –klischees führt, das inmitten der recht bitteren Geschichte von vergangenem Ruhm eine dringend nötige Aufheiterung darstellt. Auch der zweite Roman Beasts in Velvet (1991, dt. Bestien in Samt und Seide (1999)) bezieht sich auf cineastische Vorlagen – darin geht im nebligen Altdorf ein grausamer Frauenmörder um, und der Detektiv Harold Kleindienst, genannt “Filthy Harry”, muss zusammen mit einem Medium die heiklen Ermittlungen aufnehmen, bei denen es aufgrund der angenommenen adligen Herkunft des Mörders eine Menge zu vertuschen gibt. In der Novella-Sammlung Genevieve Undead (1993, dt. Die untote Geneviève (1998)) und der Story-Sammlung Silver Nails (2002) werden einige Lücken zwischen Genevièves Abenteuern gefüllt, und die Vampirin rückt eher ins Zentrum der Handlung, als eine wichtige Nebenfigur abzugeben. Gesammelt sind die Warhammer-Geschichten darüber hinaus auch als The Vampire Genevieve (2005) erschienen.
Yeovils zweite Reihe Dark Future basiert ebenfalls auf einem Spiele-Setting, ist jedoch eher in den Genres Endzeit und Cyberpunk angesiedelt. In der bizarren Welt der Romane Demon Download (1990), Krokodil Tears (1991), Comeback Tour (1991) Route 666 (1994) – bis auf den vierten Band übersetzt als Dämonenjagd, Krokodilsjagd, Mutantenjagd (alle 1994) – hagelt es politische und popkulturelle Anspielungen aus den 1980ern. Konzerne herrschen über die Gesellschaft, weite Teile der USA sind eine unbewohnbare Wüste, in der sich Gangs, religiöse Fanatiker und Mutanten tummeln, Elvis lebt und Leonard Nimoy ist ein echter Astronaut – und die Spezialagentin und Nonne Chantal Juillerat ist Geneviève Dieudonnés Schwester im Geiste. Das bitterböse und überdrehte Szenario gibt auch die Richtung für das vor, was der nicht in Spiele-Szenarios aktive Kim Newman am liebsten schrieb – alternative Geschichtsentwürfe, in denen fiktionale und historische Persönlichkeiten auftreten und die unter einer schillernden Oberfläche genau dort zupacken, wo es wehtut.

In der ersten Hälfte der 90er Jahre schrieb Kim Newman neben ein paar Einzelromanen – die alle deutliche Horrorelemente aufweisen und von denen The Quorum (1994; dt. Das Quorum (1995)), die Geschichte eines faustischen Pakts mit dem Teufel, der beste ist – mit Anno Dracula (1992) auch den 1888 im viktorianischen England spielenden ersten Band einer gleichnamigen Reihe von Alternativweltromanen, die über die Stationen The Bloody Red Baron (1995), Judgment of Tears: Anno Dracula 1959 (1998; auch als Dracula Cha Cha Cha (1998)) und Johnny Alucard (2013) mittlerweile in Anno Dracula von Kim Newmanden 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts angekommen sind. In Newmans Alternativwelt ist es Bram Stokers Helden aus Dracula nicht gelungen, den Grafen aufzuhalten oder gar zu vernichten – ganz im Gegenteil, er hat die verwitwete Queen Victoria geheiratet und ist zum Prinzregenten geworden, und Vampire sind ein angesehener Teil der Gesellschaft. Doch manche Dinge haben sich nicht geändert, denn auch in diesem London macht Jack the Ripper Whitechapel unsicher und bringt Prostituierte um, die gleichzeitig Vampire sind. Mit der größte Reiz von Anno Dracula liegt außer in der schlüssig entwickelten Handlung in der überzeugend und überaus atmosphärisch geschilderten viktorianischen Gesellschaft, in der eine Mischung aus teilweise leicht erkennbaren, teilweise deutlich verfremdeten historischen und literarischen Personen agiert. Da die Folgebände auf die ganz spezifische Gaslicht-Atmosphäre des nebligen London verzichten müssen, sind sie zwar immer noch mehr als lesenswert, machen aber nicht mehr ganz so viel Spaß wie der Auftaktband.
Seit den 90ern veröffentlichte Newman auch etliche Kurzgeschichten, darunter jene rund um den von Mycroft Holmes gegründeten Diogenes Club, der eigentlich eine besonders geheime britische Geheimdienstabteilung darstellt, behandeln die Abenteuer der Agenten (die meist übernatürlichen Erscheinungen nachgehen und zu denen auch eine gewisse blonde Vampirin stößt) in Alternativentwürfen der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts (The Man from the Diogenes Club (2006)), der viktorianischen Zeit bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts (The Secret Files of the Diogenes Club (2007)) und querbeet durch alle Zeiten (Mysteries of the Diogenes Club (2010)). Während keine der dieser Geschichten auf Deutsch erschienen ist, liegt zumindest eine Geschichte in Übersetzung vor, in der Figuren aus dem Diogenes Club auftauchen: Seven Stars (2000, dt. Der Fluch der Sieben Sterne (2004)), das nur in einer sehr kleinen Auflage erschien, ist die Geschichte eines fluchbeladenen Juwels, das seinen Besitzern Unheil bringt, und in dem Newman noch einmal alle Register zieht und Figuren aus seinem gesamten Oeuvre auftreten lässt.

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