Bibliotheka Phantastika gratuliert Midori Snyder, die heute 60 Jahre alt wird. Die am 01. Januar 1954 in Santa Monica, Kalifornien, geborene Midori Madeleine Snyder ist aufgrund des universitären Hintergrunds ihrer Eltern in mehreren amerikanischen Universitätsstädten aufgewachsen, hat afrikanische Sprachen und afrikanische Literatur – mit dem Schwerpunkt auf mündlichen Erzähltraditionen – studiert, ihren Masterabschluss aber in englischer Literatur und Literaturtheorie gemacht. Sie hat einige Jahre ihres Lebens in Afrika und Italien verbracht und lebt heute in Tucson, Arizona. Am Anfang ihrer Autorenkarriere steht die Veröffentlichung der Erzählung “Demon” in der von Terri Wildling und Mark Alan Arnold herausgegebenen Anthologie Bordertown (1986) – dem zweiten von insgesamt drei Bänden mit frühen Geschichten zum Shared-World-Konzept Chronicles of the Borderlands –, die zugleich den Beginn einer langjährigen Zusammenarbeit mit bzw. freundschaftlichen Beziehung zu Terri Wildling markiert, zu deren Anthologien Midori Snyder auch in Zukunft noch etliche Stories beisteuern sollte.
Ein gutes Jahr später erschien mit Soulstring (1987) ihr erster Roman, in dem sie Elemente der schottischen Ballad of Tam Lin mit Motiven aus der südafrikanischen Folklore verwebt und die Geschichte der ungeliebten Tochter eines Magiers erzählt, der ihr übelnimmt, dass sie seine magischen Fähigkeiten geerbt hat, obwohl sie nur ein Mädchen ist. Deshalb versucht ihr Vater, sie möglichst schnell zu verheiraten, damit sie einen männlichen Erben hervorbringen kann. Die entsprechenden, recht zahlreich auftretenden Bewerber müssen sich allerdings einer Reihe von Prüfungen unterziehen – und sterben, wenn sie scheitern. Und als einer es dann tatsächlich schafft, fangen die Probleme erst richtig an … Nicht zuletzt bedingt durch seine Nähe zu alten Sagen und Legenden ist Soulstring ein märchenhafter High-Fantasy-Roman, der trotz seines geringen Umfangs von noch nicht einmal 200 Seiten mit einem interessanten Setting, größtenteils überzeugenden Figuren und einer Reihe cleverer Plot-Twists aufwarten kann und vor allem als Erstling aller Ehren wert ist.
Dass dieser Erstling keine Eintagsfliege war, bewies Midori Snyder mit New Moon (1989), dem Auftakt der Trilogie The Queens’ Quarter: Einst herrschten vier Schwestern über das Land Oran, die nicht nur jeweils eines der klassischen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft repräsentierten und damit den Queens’ Knot bildeten, sondern auch für ein Gleichgewicht der Kräfte sorgten und die Mächte des Chaos im Zaum hielten. Doch vor rund 200 Jahren tötete Zorah, die Feuerkönigin, ihre drei Schwestern und vereinte damit alle magischen Kräfte auf sich, was ihr unter anderem ewige Jugend garantiert. Um einen Aufstand zu unterdrücken, holte sie kurz darauf Soldaten aus dem Nachbarland nach Oran – doch diese Sileans sind immer noch da und halten Oran mehr oder weniger besetzt. Zorah selbst herrscht vor allem in der Hauptstadt Beldan mit absoluter Macht; sie lässt alle Kinder darauf untersuchen, ob sie Spuren der alten magischen Kräfte in sich tragen – und lässt alle diejenigen töten, bei denen es entsprechende Anzeichen gibt. Aber die alte Magie des Landes ist stark, und Zorah kann nicht alle magisch begabten Kinder erwischen, doch nur, wenn sich vier finden, die die vier Elemente repräsentieren, können sie einen neuen Queens’ Knot bilden – und vielleicht der Gewaltherrschaft der Feuerkönigin ein Ende setzen … Ob bzw. vor allem wie diese vier Mädchen sich finden, mit welchen Mitteln Zorah ihre Macht zu erhalten versucht und welche Rolle die sileanischen Besatzer bei alledem spielen, wird in New Moon und den Folgebänden Sardar’s Keep (1990) und Beldan’s Fire (1993) erzählt. Interessanterweise enthält The Queens’ Quarter zwar einige Elemente aus der keltischen Mythologie, wirkt jedoch völlig anders als viele vergleichbare Trilogien, da der größte Teil der Handlung in einem in der High Fantasy selten benutzten Setting stattfindet: der Stadt Beldan. Allerdings wirkt Beldan mit seinen im Untergrund lebenden, von gewissenlosen Menschen wie dem Upright Man als Diebesbanden eingesetzten Waisenkindern (die von ihren Eltern verstoßen wurden, weil sie vielleicht über magische Kräfte verfügen) weit mehr wie eine mittelalterliche Version von Dickens’ London als eine typische High-Fantasy-Stadt.
2005 wurde die Trilogie neu aufgelegt, dieses Mal als Jugendbuch aufgemacht und unter dem neuen Titel The Oran Trilogy (“… because not a single publisher put the apostrophe in the correct place the first time around”, sagt Midori Snyder dazu). Das lässt sich im Hinblick auf die zumeist zurückgenommene Gewaltdarstellung und das jugendliche Alter der Hauptfiguren auch problemlos rechtfertigen und sorgt darüber hinaus möglicherweise dafür, dass diese vielschichtige Trilogie, die Entwicklungsgeschichten, gesellschaftliche Themen und die Kraft der Mythen überzeugend miteinander vermischt, in der Umgebung präsentiert wird, in die sie gehört: nämlich in direkter Nachbarschaft zu den großartigen Young-Adult-Trilogien einer Ursula K. Le Guin oder einer Patricia McKillip.
Mit The Flight of Michael McBride (1994) betrat Midori Snyder dann gänzlich neues Terrain, denn der Roman greift auf folkloristische Motive Nordamerikas zurück – oder, anders gesagt: es ist eine Art Fantasy-Western, in dem der Titelheld mit seinem Erbe (er ist der Sohn einer Sidhe, die sein Vater von ihrem Vater in einer Schachpartie gewonnen hat) zurechtkommen muss und eine Reise durch ein Amerika beginnt, in dem das Phantastische hinter jeder Ecke lauern kann.
Nach Hatchling (1995), einem in Jim Guerneys Dinotopia-Universum angesiedelten Jugend- bzw. Kinderbuch, folgte mit The Innamorati (1998) Midori Snyders wohl anspruchsvollster Roman, der 2001 mit dem Mythopoeic Fantasy Award ausgezeichnet wurde. Das Setting ist Italien etwa zur Zeit der Renaissance, aber ein alternatives Italien, in dem Magie existiert und Flüche den Menschen das Leben schwermachen können. Aber es gibt einen Ort, an dem man angeblich von den Flüchen, unter denen man leidet, erlöst werden kann, wenn man ihn voller Vertrauen betritt: das Große Labyrinth im Herzen der Stadt Labirinto. Und daher begeben sich Anna Forsetti, die beste Maskenmacherin Venedigs, die keine Masken mehr machen kann, und Hauptmann Rinaldo Gustiano, der tödlichste Duellant Mailands, der sein Schwert am liebsten für immer aus der Hand legen würde, ebenso in das geheimnisvolle magische Labyrinth wie Fabrizio, der Stotterer, der so gerne Schauspieler bei der Commedia dell’arte wäre, und Erminia, die Sirene, die zu einem stummen Exil fern vom Meer und ihrer heimatlichen Insel verdammt ist. Diese vier Personen begleiten wir zusammen mit ihren Geliebten und ihren Feinden, ihren Trinkkumpanen und ihren zufälligen Bekanntschaften zunächst durch Italien und dann durch das Labyrinth, wo sie lustige und gefährliche, absurde und beunruhigende Abenteuer erleben, bis sie – oder diejenigen, die noch übrig sind – das Zentrum des Labyrinths erreichen und dort herausfinden, ob die Legende tatsächlich stimmt. The Innamorati ist ein ebenso faszinierender wie sperriger Roman, der Elemente der italienischen, sprich: der römischen und etruskischen Mythologie und der Commedia dell’arte nutzt und dessen Figuren bei ihrer Reise durch das Labyrinth auch eine Reise zu sich selbst bzw. durch ihr Inneres machen. Darüber hinaus spürt man, dass Midori Snyder in Mailand gelebt hat, während sie ihn verfasst hat, denn das Setting und die vermittelte Lebensart wirken auf absolut überzeugende Weise “italienisch”.
Mit Hannah’s Garden (2002) folgte ein paar Jahre später ein Jugendbuch, das sich um – durchaus magische – Familiengeheimnisse dreht, während der gemeinsam mit Jane Yolen verfasste, aus der gleichnamigen Erzählung hervorgegangene Roman Except the Queen (2012) von zwei Faeries handelt, die plötzlich getrennt von ihrer magischen Sphäre in unserer Welt stranden, wo ihre unsterbliche Schönheit dahinwelkt und sie sich mit Falten und Schlimmerem konfrontiert sehen.
Zwischenzeitlich hat Midori Snyder immer wieder Geschichten zu Anthologien beigesteuert, die zumeist von Terri Windling herausgeben wurden, mit der zusammen sie nicht nur seit vielen Jahren das Endicott Studio of Mythic Arts betreut, sondern auch das Journal of Mythic Arts herausgegeben hat. Dass es noch nicht einmal einer ihrer Romane aus den 80er und 90er Jahren zu einer deutschen Übersetzung gebracht hat, ist mehr als nur bedauerlich.
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