Moyas Meckerkiste (4): Blind oder nicht blind, das ist hier die Frage.

A Song of Ice and Fire, Kalender von John PicacioDiese Woche tauchte in unserem Forum ein Link zu dem Blog des Künstlers John Picacio auf, der verantwortlich ist für den kommenden Kalender zu George R.R. Martins A Song of Ice and Fire (Das Lied von Eis und Feuer). John Picacio ist in der Regel kein schlechter Zeichner, er hat sogar den World Fantasy Award für seine Arbeiten erhalten. Dennoch, die vorliegenden Arbeiten für den Kalender 2012 zeigen, dass auch ein berühmter Illustrator gelegentlich mal kräftig danebengreifen kann. So kräftig, dass man sich als Betrachter fragt, ob es niemanden gab, der sich diese Illustrationen angesehen hat, bevor sie abgesegnet wurden.

An zunächst verlockenden Bilddetails und erkennbarem Engagement mangelt es den Bildern dabei nicht. Die Ansätze sind gut und man erkennt, dass sich der Künstler mit dieser Buchreihe auseinandergesetzt hat. Doch schon auf den ersten flüchtigen Blick hat man das starke Gefühl, da stimmt etwas ganz und gar nicht, und das liegt nicht nur an einer allgemein wenig fantastischen Anmutung der Bilder.

Tyrion Lannister von John Picacio

© John Picacio

Zunächst sind mir die unausgewogenen Farben aufgefallen, die einem mit einem viel zu harten Kontrast und zu starken Tiefen in die Augen stechen. Besonders deutlich fällt das bei der Illustration von Tyrion Lannister auf. Dieses Bild vermittelt den Eindruck, dass hier ein Bildbearbeitungsprogramm den größten Teil der Arbeit erledigt hat. Die Schatten sind vollkommen schwarz, da geht nicht eine Farbe in die andere über, wie es bei Lichteinfall normalerweise der Fall ist. Ich habe an dieser Stelle überlegt, ob das ein gewolltes Stilmittel werden sollte. Vielleicht um auszudrücken, wie hart und schwer es Tyrion in diesem Moment gerade hat. Doch selbst wenn das gewollt war, funktioniert es leider nicht. Es wirkt einfach nur falsch, leblos und erschlägt die Versuche, möglichst viele Feinheiten in die Illustration einzubringen, während auch die Raumtiefe unter den fehlenden Schattenverläufen leidet. Alles in allem ist es schlicht kein schöner Anblick.

Melisandre von John Picacio

© John Picacio

Einfach nur falsch – und auch das ist wieder ein Fehler, der einen mutig anspringt – sind auch die Proportionen der Figuren. Neben starken perspektivischen Winkeln, die zu merkwürdig anmutenden Verkürzungen führen, sind es vor allem verrutschte Körperteile, die für ungewollte Komik sorgen. Stärkstes Beispiel dafür ist, wie unsere liebe Colophonius in der Forendiskussion auf den Punkt brachte, Melisandres verrutschte linke Brust. Hat man diesen Fehler erst einmal bewusst wahrgenommen, stellt man fest, dass auch der Hals auf der linken Seite ziemlich ungesund gedehnt aussieht. Das bleibt natürlich nicht aus, wenn die Schulter aus unerklärlichen Gründen eine Etage tiefer liegt als sie sollte, damit sie zur verrutschten Brust passt. So entsteht eine Art Schulterbruch, der ziemlich schmerzhaft sein muss …
Doch auch das ist noch nicht alles, irgendetwas stört noch immer, und so fällt schließlich auf, dass der gesamte Brustkorb vollkommen unnatürlich verdreht ist. Wir haben es hier mit etwas zu tun, dass man gerne als “Photoshop Disaster” bezeichnet. Eines der schlimmeren Sorte wohl gemerkt. Dagegen fallen Jaime Lannisters glatt gebogenes Hohlkreuz oder Gregor Cleganes wiederum fehlplatzierte linke Schulter fast nicht auf.

Faszinierend an dieser ganzen Sache ist, dass sich all diese Mängel in jedem der gezeigten Bilder wiederfinden. Bei manchen so stark, dass man es meiner Meinung nach auch als Nicht-Künstler unmöglich übersehen kann. Dennoch scheinen sowohl Picacio als auch etliche Fans von A Song of Ice and Fire nichts zu bemerken. Im Gegenteil, sie sind sogar höchst begeistert und gratulieren dem Künstler in dessen Blog zu seiner ausgezeichneten Arbeit.
Selbstverständlich liegt Kunst immer im Auge des Betrachters, und jedem gefällt etwas anderes. Aber derart auffällige Fehler übersehen? Mir türmen sich Fragen auf, wenn ich darüber nachdenke. Ist der bekennende Fan generell so blind vor Anbetung, dass ihm Derartiges nicht auffällt, ja dass er es sogar ästhetisch finden kann, wenn Körperteile nicht da sind, wo sie hin gehören, oder sind die Kommentare in Picacios Blog Ausnahmefälle? Ist der Betrachter inzwischen so sehr an zeichnerisch derart schlechte Umsetzungen gewöhnt, dass er einfach nichts Besseres mehr erwartet? Oder ist er so abgestumpft, dass er das wirklich nicht mehr bemerkt? Mich würde wirklich interessieren, wie ihr als reine Betrachter solche Arbeiten seht, und auch, wie andere Illustratoren oder Verlagsbeteiligte dazu stehen.

2 Kommentare zu Moyas Meckerkiste (4): Blind oder nicht blind, das ist hier die Frage.

  1. molosovsky sagt:

    Einfach nur zum Kringeln, Deine sehr richtigen Fehler-Ausdeutungen. Dass solche Arbeiten bei den Fans trotzdem gut ankommen, liegt daran, dass Fans bisweilen schon peinlich unkritisch sein können. Hauptsache, gewisse mit den geliebten Figuren verbundene Erwartungen werden bedient … schon jubeln sie entzückt.

    Es ist eben nicht leicht, Fantasy-Liebhaber mit einer gewissen Distanz zur Sache zu sein.

  2. moyashi sagt:

    Ich wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte, aber es ist immer gut zu wissen, dass man nicht alleine den Kopf schütteln muss.

    Es ist einfach nicht nachvollziehbar, mit wie wenig viele sich heutzutage zufrieden geben, nur weil ein bestimmter Stempel darauf steht. Schade und bedenklich.

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