Nailer verdingt sich an einem der neu entstandenen Strände als Schiffsbrecher, das heißt, er schlachtet Öltanker nach wiederverwertbaren Materialien aus. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind hart, Freunde hat er wenige, sein brutaler, drogensüchtiger Vater macht Nailers Leben zusätzlich zur Hölle. Hoffnung auf Besserung hat er keine, bis er nach einem schweren Sturm auf einen gestrandeten Klipper stößt – ein Schiff, das ebenso zu einer anderen (reicheren) Welt gehört wie das Mädchen, das er darin findet. Doch der Luxus, den sich Nailer nun erhofft, hat einen Preis, denn das reiche Mädchen hat nicht weniger mächtige Feinde …
-Es herrschte ein Treiben wie auf einem Ameisenhaufen, mit einem einzigen Ziel: die Knochen dieses gestrandeten Riesen aller wiederverwertbaren Teile zu entkleiden und damit eine neue Welt aufzubauen.- S. 11
Schöne, neue Welt! Schiffe fahren mit Segeln über die See, die hoch in die Atmosphäre geschossen werden, Motoren laufen mit Biodiesel – der Klimawandel scheint der Vergangenheit anzugehören. Wäre Paolo Bacigalupis Schiffsdiebe aus einer anderen Perspektive erzählt, könnte man es für eine Utopie halten. Doch durch die Augen Nailers, der an einem Strand mit Blick auf die Spitzen vom Meer verschluckter Hochhäuser lebt, erhält man einen Eindruck nicht nur von den ökologischen Schattenseiten der neuen Welt, sondern gerade auch von den sozialen. Hierin liegt auch das wirklich Bemerkenswerte des Romans, denn für Nailers Welt müsste man nicht in eine (nicht allzu ferne) Zukunft blicken – seine Lebensumstände ließen sich auch an heutigen Küsten der Dritten Welt finden – Bacigalupi fügt dem Setting nur noch einige Science-Fiction-Facetten hinzu, etwa die als Leibwächter herangezüchteten Tiermenschen.
Auch ansonsten bleibt Schiffsdiebe ein gelungenes Jugendbuch. Nailer ist keineswegs ein strahlender Held, äußerst belastende Familienverhältnisse plagen ihn, sein Umfeld hat ihn geprägt und zu den „richtigen“ Entscheidungen muss er sich erst mühsam durchringen. Leider ist er damit auch die einzige Figur mit etwas Tiefe, die übrigen Pro- wie Antagonisten bleiben großteils Vehikel für die Handlung. Immerhin wirbelt Bacigalupi auch ein paar Geschlechterrollen durcheinander und verpasst Nailer mit Pima ein Mädchen als knallharten Kumpel.
Von derselben Zweckmäßigkeit wie bei den Figuren kann man auch bei der Handlung sprechen, die einen mit Leichtigkeit durch das Buch trägt. Leider fehlen ihr echte Höhepunkte und auch die weiteren Schauplätze, an die sie führt, bleiben etwas farblos. Im letzten Drittel entfaltet der Roman aber nochmals eine Portion Abenteurerflair. Dank dem etwas rasch abgehandelten, aber runden Ende kann man Schiffsdiebe getrost als Einzelroman lesen, es gibt aber einige Anknüpfungspunkte für den bereits erschienenen Folgeband.
Als Jugendbuch ist Schiffsdiebe sehr gelungen und bietet jugendlichem Publikum eine spannende Geschichte mit teilweise drastischen Szenen sowie interessanten Parallelen zu aktuellen Verhältnissen in der Dritten Welt. Erfahrenere LeserInnen könnten von Figuren und Handlungsverlauf allerdings enttäuscht werden, die sollten es vielleicht eher mit The Windup Girl (auf Deutsch als Biokrieg erschienen) versuchen.