Das Volk der D’Angelines hat das Engelblut in den Adern, das sie mit überirdischer Schönheit ausstattet. Phèdre ist eine von ihnen, sie steht im Dienste der Ahngöttin Namaah, deren Anhänger die Kunst der Liebe zelebrieren. Der Adlige Delaunay erkennt an einem Makel in ihrem Auge, dem Zeichen des Engels Kushiel, dass Phèdre eine Anguisette ist – sie erfährt Lust durch Schmerz. Er kauft das Mädchen und bildet sie zusammen mit seinem anderen Schüler in Sprachen, Künsten und Spionage aus, damit sie ihm als Konkubine dient, die bei ihren Freiern Staatsgeheimnisse ausspioniert. Tatsächlich gibt es Verschwörungen, die das ganze Land Terre D’Ange gefährden.
-Lest anyone suppose that I am a cuckoo’s child, got on the wrong side of the blanket by lusty peasant stock and sold into indenture in a shortfallen season, I may say that I am House-born and reared in the Night Court proper, for all the good it did me.-
One
Mit über 900 Seiten ist der Auftakt der Reihe Kushiel’s Legacy ein dicker Brocken, und Aufmachung und Ausgangslage lassen einen ordentlichen Schmachtfetzen vermuten. Diese Vermutung mag man anfangs einerseits bestätigt finden, denn Jacqueline Carey ergeht sich in Beschreibungen von Kleidung, Zierrat, Kleinigkeiten, ausführlichen Figurenbeziehungen, und die Ausbildung der Protagonistin zur Konkubine gibt dem Argwohn Stoff. Der Stil allerdings, in dem Carey erzählt, verschlungen, manchmal fast lyrisch, und häufig mit barockem Überschwang, ohne geschmacklos zu werden, gibt einen Hinweis, dass mehr in der Geschichte steckt.
Anfangs allerdings ist der gemächliche Aufbau so ermüdend, dass man Kushiel’s Dart (Das Zeichen; Neuauflage) mitunter an die Wand klatschen will. Man erfährt alles über Phèdres Aufwachsen, ihre Ausbildung, und vor allem auch ihre besondere Fähigkeit als Konkubine, ohne dass die Handlung groß weiterkommt. Ein paar Rätsel um den natürlich mysteriösen Gönner Phèdres, den Adligen Delaunay, sind alles, was an Material zum Weiterdenken anfällt. Und gerade die besondere Fähigkeit der Protagonistin als Anguisette dürfte nicht jedermanns Sache sein: Immer wieder gehen Schläge, Peitschen, Schürhaken und ähnliches auf die Heldin nieder – und auch wenn in diesen Szenen harte Pornographie mehr oder weniger elegant umschifft wird, sind sie doch sehr ausführlich beschrieben.
Trotzdem lohnt sich das Durchbeißen, denn urplötzlich, nach etwa 300 Seiten, wird aus der bisher zwar angenehm erzählten, aber nur vor sich hindümpelnden Handlung eine Fantasy-Geschichte, die alles hat, was man sich nur wünschen kann: Wunderbar gezeichnete Hauptcharaktere, die in glaubwürdigen Beziehungen zueinander stehen, jede Menge Action und Abenteuer, herzzereißende Szenen und eine sehr schöne Erzählstimme, nämlich die der liebenswerten Protagonistin, die im Großen und Ganzen zu einer überraschend starken Frauenfigur wird. Sie erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, lange Zeit, nachdem die Ereignisse stattgefunden haben, und wenn man den Wahl des Erzählers hier kritisieren wollte, dann vielleicht nur, weil etwas zu oft eine Vorwegnahme der Geschehnisse als Stilmittel zum Einsatz kommt, vor allem zu Beginn des Romans.
Angesiedelt ist die Handlung in einem alternativen spätmittelalterlichem Europa, was sich auch an der Karte unschwer erkennen lässt, und gerade die Gesellschaft der D’Angelines ist sehr detailreich ausgearbeitet, vor allem auch die religiösen Aspekte. Phèdres Volk mit seinem untrüglichen Sinn für alle Formen der Schönheit hat durchaus etwas Faszinierendes, interessant ist außerdem die Beschreibung einer Gesellschaft, in der Prostitution komplett integriert und institutionalisiert ist. Diesbezüglich ist Kushiel’s Dart durchaus provokant, wenn auch nicht immer zu Ende gedacht, wobei die besten Szenen dennoch außerhalb der Betten und auch jenseits der höfischen Intrigen stattfinden. Immerhin ist die Geschichte, von einigen Szenen abgesehen, in denen auf die Tränendrüse gedrückt wird, nicht halb so kitschig, wie man sich vielleicht vorstellen mag. Ob man sich für die gelungene Abenteuerhandlung durch das Vorgeplänkel arbeiten möchte, hängt wohl davon ab, wie viel man den in der Fantasy ungewöhnlichen Konzepten abgewinnen kann, mit denen Carey arbeitet.