Russland, 1706: Johannes ist mit seinem Onkel und seiner Tante ins Reich Zar Peters eingewandert, der europäische Handwerker zu Hunderten an die Newa holt. Als ein geheimnisvolles Mädchen tot aus dem Fluss geborgen wird, bringt man die Leiche in die Werkstatt von Johannes’ Onkel. Johannes bemerkt schnell, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, zumal der geistig behinderte Mitja die Tote als Russalka bezeichnet hat. Als die gut bewachte Mädchenleiche verschwindet, gerät die Familie unter Verdacht. Johannes verfolgt die Spur der Russalka weiter, um den Ruf seiner Familie zu retten. Dabei kommen er und sein neuer Freund Jewgenij einer Verschwörung gegen Zar Peter auf die Spur, die ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellen wird …
-Hoch türmten sich die Erdwälle der Peter-Paul-Festung vor dem Boot auf, das nun am Newator anlegte. Die Festung war das eigentliche “Sankt Piter Burch”, ein Bollwerk, das Zar Peter nach seinem Namenspatron benannt hatte, dem heiligen Petrus, und das nun der neuen Stadt ihren Namen gab.-
Zunächst entführt die Autorin den Leser ins historische Russland. Durch die Augen des jungen Johannes berichtet sie von dem gewaltigen Unterfangen, eine Zarenstadt aus sumpfigem Nichts zu errichten. Die Arbeiten an diesem Jahrhundertprojekt werden nicht als munteres Treiben beschrieben, statt dessen treten deutlich die Spannungen zwischen europäischen Handwerkern und Architekten, einheimischen Arbeitern, versklavten Kriegsgefangenen und der Militärmacht zu Tage – historisch glaubhaft und atmosphärisch geschildert. Nicht nur im Aufbau seiner Stadt, sondern auch in der Figur Peters des Großen selbst spiegeln sich Widersprüche: Der mal großherzige und mal barbarisch brutale Zar erfährt einerseits Hochachtung und wird als Weltveränderer verehrt, andererseits aber ist er der orthodoxen Schicht im Lande ein Dorn im Auge.
Dass dann in diesem historischen Roman plötzlich ein wahrhaftiges Fabelwesen – eine Russalka ist ein Meerjungfrauen-ähnliches Wesen, das in Flüssen und Seen lebt und Macht über das Wasser hat – auftritt, wirkt zuerst irritierend. Doch gerade die Mischung der märchenhaften Elemente mit dem realen Hintergrund macht die Geschichte besonders fesselnd. Mit dem wissenschaftlich interessierten und fortschrittlichen Zar Peter und den Hütern der Russalka treffen aufklärerische Züge und Naturglaube aufeinander. Von der “kleinen Meerjungfrau” hebt sich das russische Wasserwesen übrigens wohltuend ab, denn es kombiniert betörende Sinnlichkeit mit erschreckender Tierhaftigkeit. Und auch der “Kuss der Russalka” ist keineswegs das romantische Erlebnis, nach dem es sich anhört …
Die unfreiwilligen Helden der Geschichte, Johannes und Jewgenij, überzeugen vor allem dadurch, dass sich ihre Freundschaft erst einen langen Weg durch Feindseligkeit, Prügel und Nörgeleien hindurch bahnen muss. Ihre unterschiedlichen, manchmal schlicht widersprüchlichen Charaktere ergänzen sich wunderbar. Was den beiden auf ihrer Jagd nach dem Geheimnis der Russalkas widerfährt, hinterlässt seine Spuren in ihren Charakteren, bringt sie mal einander näher und mal beinahe auseinander. Eine schöne Anti-Bilderbuchfreundschaft also, wodurch beide besonders lebendig erscheinen.
Die abwechlungsreiche Geschichte ist historischer Roman, Krimi, Märchen, politischer Thriller und sogar Lovestory in einem, wirkt jedoch nie überladen. Leider muss man gelegentlich etwas angestrengt versuchen dem Verlauf zu folgen, wenn zum Beispiel ein paar kryptische Weissagungen des Gottesnarren Mitja einen komplizierten Zusammenhang erklären. Aber das mindert weder die Spannung noch schadet es der dichten, abenteuerlich-schauerlichen Atmosphäre, die die Geschichte durchzieht. Unbedingt abends bis nachts zu lesen!