Autor: Wells@Martha

City of Bones von Martha WellsKhat, ein Mann aus einem katzenhaften Wüstenvolk, lebt in den Elendsvierteln von Charisat, einer Stadt inmitten des Ödlandes, das einst die Heimat der fortgeschrittenen Kultur der Alten war. Seinen Lebensunterhalt verdient er halblegal als Relikthändler und –jäger. Normalerweise sind es harmlose Objekte von höchstens archäologischem Interesse, doch nicht so bei seinem jüngsten Auftrag: Er soll sich auf die Suche nach Gegenständen machen, mit denen sich die Magie der Alten wirken lässt. Dummerweise kann er den Auftrag nicht ablehnen, denn er kommt von ganz oben. Er muss sich also den Intrigen der Mächtigen und dem lebensfeindlichen Ödland stellen.

-Somewhere else, in a room shadowed by age and death, a man readies himself to look into the future for what maybe the last time.-
Chapter One

Wenn man Ideen aus Lobgesang auf Leibowitz, Picknick am Wegesrand und einer Reihe von postapokalyptischen Geschichten nimmt und zusammenwirft, könnte das böse ins Auge gehen. Aber 1995, als Martha Wells’ zweiter Roman City of Bones veröffentlicht wurde, war die Postapokalypse noch bunter und vielfältiger als heute, und die Autorin verfolgt mit den unverständlichen Relikten einer selbstzerstörerisch agierenden, aber auch sehr fremdartigen Zivilisation (die Erde, wie wir sie kennen, war auf jeden Fall nicht das Fundament, auf dem Charisat steht) und den von ihrer Tätigkeit geprägten Reliktjägern (und –anwendern) ganz eigene Ziele.
Die Weltschöpfung erstreckt sich dabei nicht nur auf die Wüste mit ihren giftigen Bewohnern und surrealen Stätten einer vergangenen Kultur, sondern vor allem auf das Leben, das sich danach angesiedelt und angepasst hat. In Charisat, einer Handelsmetropole mit verschiedensten Einflüssen, ist vor allem die soziale Komponente fein beobachtet – meist durch die Augen von Khat, der als Mitglied eines Wüstenvolks, das den Ödlanden besser trotzt als der Mensch, keine Chance hat, auch nur ein bisschen in der streng nach ihren Ebenen gegliederten Stadt (oben gibt es noch frisches Wasser) aufzusteigen. Selbst im Elendsviertel wird er teils nur gerade eben geduldet, ohne die Möglichkeit, einen ehrbaren Beruf auszuüben, und so verwundert es nicht, dass aus ihm ein ganz schön harter Kerl geworden ist. Gerade diese unteren Ebenen erfahren eine sehr differenzierte Darstellung – gnadenlos, aber auch herzlich, ein Ort, an dem man den nötigen Überlebenskampf auf unterschiedliche Weisen führen kann.
Erst nach und nach lernt man das ganze Ausmaß des perfiden Systems kennen, das im sozialen Gefüge Charisats jeglichen Aufstieg und jede Veränderung verhindert. Da ist es auch nur logisch, dass die obere Kaste ihre eigenen Spielchen treibt und vor allem an der Wahrung des Status quo und Machtzuwachs interessiert ist, während man unten nur an guten Tagen seinen Durst löschen kann.

In einen solchen Machtkampf gerät Khat, der mit seinem gebildeten menschlichen Partner sein kleines Relikt-Unternehmen betreibt – und beiden Seiten ist bei diesem Handel von Anfang an klar, welche Rolle den entbehrlichen und machtlosen Auftragnehmern zugedacht ist. Aufgelockert wird dieses (durch Khats Undurchsichtigkeit ohnehin nicht ganz so) schwarz-weiße Gemälde durch Elen, eine Wärterin, die Khat als Kontaktperson zugeteilt wird und die jung genug ist, sich ein Herz bewahrt zu haben, allerdings auch eine nicht immer gesunde Naivität gegenüber den harten Realitäten ihrer Welt.
Die Figurenzeichnung ist eher subtil, es gibt kaum Extreme: Der harte Knochen Khat wird eigentlich niemals ein überzeugender cooler Draufgänger, sondern offenbart recht rasch seinen verletzlichen Kern, so dass er auch Elen als kompetente, aber eher zurückhaltende Frauenfigur nicht in den Schatten stellt. Manchmal wirken die Emotionen der Figuren ein wenig forciert und übermotiviert, vielleicht gerade weil Khat und Elen eher ruhige und besonnene Personen sind.

Mit seinen Geistern, den Handels- und sonstigen Aufsehern, die dafür sorgen, dass jeder auf seiner Ebene der Stadt bleibt, und den unteren Bereichen mit ihrer Platznot und Kriminalität ist Charisat ein Ort, der wie geschaffen ist für eine Abenteuerhandlung – und das ist die Reliktjagd von City of Bones letztlich, ob nun in ein Herrenhaus eingebrochen oder ein altes Heiligtum in der Wüste geplündert werden muss.
Trotzdem liegt der Fokus ein wenig anders als erwartet, denn die Intrige (die man vermutlich sehr, sehr früh in der Handlung durchschaut), der soziale Zündstoff und die Abenteuer sind vor allem Kulisse für eine Geschichte, bei der Forschung und die Aufdeckung alter Geheimnisse im Mittelpunkt stehen: Nachdem man einmal (mithilfe einer großartigen Gelehrten-Nebenfigur) erkannt hat, wie sehr die Vergangenheit in die Handlung drängt, wird aus der kleinen Geschichte etwas wirklich großes mit einer beeindruckenden Auflösung, das die detaillierten Ideen der Weltschöpfung am Ende zu einem runden Ganzen zusammenführt.
Auf dem Weg dahin mag es die ein oder andere Länge geben, aber bei dieser innovativen Weiterentwicklung macht sich der feine Aufbau der Geschichte bezahlt, und richtig langweilig wird es mit Khats Gratwanderung in Diensten der Obrigkeit, bei der er vor allem anderen seine eigene Haut retten will, eigentlich nie.

The Cloud Roads von Martha WellsIn einer ungezähmten Welt, in der jede Siedlung Gefahr läuft, von Schwärmen der Fell – geflügelter Raubtiere – überfallen zu werden, bemüht sich der junge Mann Moon darum, sich anzupassen und nicht aufzufallen. Er weiß nicht, woher er die Fähigkeit hat, sich in eine geflügelte Kreatur zu verwandeln, und er ist deswegen schon aus vielen Gemeinschaften verjagt worden. Als er eines nachts eine Ruine auf einer schwebenden Felsinsel erkundet, trifft er auf einen anderen, der ist wie er. Aber kann er ihm vertrauen?

-Moon had been thrown out of a lot of groundling settlements and camps, but he hadn’t expected it from the Cordans.-
Chapter 1

Bunt, überraschend und verspielt – das sind drei Eigenschaften, die der Fantasy in Zeiten des grauen Zynismus irgendwie abhanden gekommen sind, und vielleicht sind sie ein Grund, weshalb Martha Wells’ The Cloud Roads so begeistert aufgenommen wurde: Endlich mal wieder ein Buch, das man nicht aus der Hand legen kann, wie früher, so war in vielen Besprechungen zu lesen. Aber kann man dahin überhaupt noch so einfach zurück, ins Reich der Lesenostalgie, oder ist das dann doch zu simple Kost für übersättigte Geschichtengourmands?
An The Cloud Roads ist tatsächlich einiges „wie früher“: Martha Wells siedelt ihre Raksura-Geschichten auf einer relativ unbekümmert zusammenfabulierten Welt an, im allerbesten Sinne. Es gibt kein wahnsinnig exzessives Worldbuilding, aber dafür ganz viel Sense of Wonder, grüne Leute, schuppige Leute, umherwandernde Pflanzen, winzige und riesige phantasievolle Tiere, schwebende Inseln, gelbe Ozeane und auch sonst alles, was das Forscher- und Entdeckerherz begehren könnte.

Und in dieser Kulisse spielt sich ein spannendes Abenteuergarn ab, eine klassische Außenseitergeschichte, die um Freundschaft und Zugehörigkeit (aber nicht unbedingt Coming of Age!) kreist, eine hervorragende Figurenpsychologie und -dynamik bietet und das Ganze mit netten Nebenfiguren und einer Queste würzt. Die Welt wird vielleicht nicht gerettet, aber Moon ist ständig auf Achse und steckt in sich immer wieder neu entwickelnden Schwierigkeiten.
So weit, so nett – aber es stellt sich schnell heraus, dass Martha Wells eben doch nicht alles so macht wie früher.
Ihre Gestaltwandler – die Raksura, eine zivilisierte Raubtierspezies, die man sehr wohl als recht naturalistisch dargestellte Drachen lesen kann – leben in einer rigiden Gesellschaft, die von ihrer Biologie geprägt ist. Wer sich überhaupt fortpflanzen kann und darf, wer welche Rechte und Pflichten ausüben kann und muss, ist vorbestimmt und zeigt sich sogar in körperlichen Merkmalen. Und Moons Rolle in der Geschichte scheint genauso vorbestimmt – der Außenseiter, der endlich seinen Platz findet und sich bewähren kann. Doch ein Leben voller schlechter Erfahrungen hat ihn zu einem einzigen Bündel aus Misstrauen und Zurückhaltung gemacht, und die Art und Weise, wie die von der Natur festgelegten Vorgaben auf persönliche Beziehungen zurückwirken, verkompliziert seine Situation weiter.

Martha Wells nutzt die von ihrer Biologie beherrschten Raksura außerdem für höchst interessante Gender-Konstruktionen: Moon, der versucht hat, sich als Jäger oder Krieger in diversen Gemeinschaften einzugliedern, stellt plötzlich fest, dass bei den Raksura die Männer das kostbare, schützenswerte Geschlecht sind, dass sie umsorgt und umworben werden. Wie schnell man auf diese Weise die Dynamik romantischer Geschichten gehörig durcheinanderwirbeln kann, ist beeindruckend. Und Wells schafft das Kunststück, damit gleichzeitig einen feministischen Kommentar abzugeben und trotzdem niemals vergessen zu lassen, dass ihre Raksura nichts Menschliches an sich haben. An der Oberfläche zeigt sich das auch in den rauschhaften Flugszenen und -kämpfen, die Wells beschreibt.

Die Welt der Raksura ist so alt und skurril wie sie selbst, voller Ruinen untergegangener Zivilisationen, die nur eines vereint: Sie haben wenig mit dem gemein, was man kennt, so dass The Cloud Roads zu einer Fantasy ganz ohne Menschen wird, die hier in keiner ihrer üblichen Erscheinungsformen vertreten sind (man muss sehr selektiv lesen, wenn man irgendwo einen Normalbürger von Fantasyland erspähen möchte). Nostalgisch ist daran vor allem die Bereitschaft, in eine völlig fremdartige Welt einzutauchen und sich auf etwas einzulassen, das einem zunächst wenige Bezugspunkte liefert. Und wenn es sich dann nach Jugendbuch anhört, was Martha Wells über Identität und die Narben erzählt, die ihr Fehlen hinterlässt, über die Akzeptanz von Andersartigkeit und den Umgang mit Schuld, kann man darauf vertrauen, dass die Cloud Roads neuen Wegen folgen und auch einen reiferen Blick auf die Problematik zulassen.

The Death of the Necromancer von Martha WellsNicholas Valiarde ist ein Edelmann mit einem Doppelleben als größter Dieb der Stadt Vienne – und seine Verbrechen dienen nur einem Ziel: Er will den Grafen Montesq ausschalten, der einst seinen Mentor wegen Nekromantie zum Tode verurteilen ließ. Nicholas ist näher als je zuvor an seinem Ziel, als ihm ein ungelegener Zwischenfall in die Quere kommt: Ein zwielichtiger Spiritualist, der angeblich mit Verstorbenen kommunizieren kann, geht in den Adelshäusern der Stadt ein und aus und benutzt eine der Erfindungen von Nicholas’ verstorbenem Mentor. Als ob das nicht genug wäre, sieht sich Nicholas bei seinen Nachforschungen plötzlich echter Nekromantie gegenüber. Er geht der Sache nach – weitaus besser als die inkompetente Präfektur der Stadt …

-The most nerve-racking commissions, Madeline thought, where the ones that required going in through the front door.-
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Auf den ersten Blick besticht Martha Wells’ Roman durch das Ambiente: Gaslicht, Magie, rauschende Feste, erbärmliche Elendsviertel, und der letzte Schrei in der opulenten Großstadt ist die neu eröffnete Eisenbahn – Ile-Rien ist ein atmosphärisches Steampunk-Setting, wie es schöner nicht sein könnte, und die Ähnlichkeit zum Frankreich der Vormoderne geht auch ein klein wenig über die frankophilen Namen hinaus. Noch dazu spielt die Geschichte im illustren Halbwelt-Milieu: ein gerissener Gentleman-Dieb samt seiner Bande (einer Schauspielerin, einem abgehalfterten Kavalleristen, einem opiumsüchtigen Zauberer und etlichen ordinären Langfingern) will sich an einem der Mächtigen der Stadt Vienne rächen, der seinen Ziehvater mit einem Komplott der Nekromantie bezichtigt hat und ihn damit einen Kopf kürzer machte. Das ist der Stoff, aus dem Mantel-und-Degen-Abenteuer gestrickt sind, und auch in den Figurenkonstellationen finden sich solche Anklänge.

Damit wären wir beim zweiten großen Pluspunkt von The Death of the Necromancer, den Charakteren. Es ist eine einprägsame Ansammlung von skurrilen, liebenswerten und interessanten Figuren, die hier auf kriminellen Pfaden zu ihrem Recht zu kommen sucht. Abgebrüht genug, um große Nummern in der Verbrecherwelt zu sein, aber mit dem kleinen Rest Gewissen, so daß man sie allesamt noch gern haben kann. Martha Wells versteht es, die Hintergründe ihrer Figuren ganz natürlich nach und nach aufzudecken, so daß sie am Ende alle nachvollziehbar sind und die Charakterentwicklung immer dynamisch bleibt.
Als die gutherzigen Schlitzohren durch ihren geplanten Racheakt in ein viel größeres Geschehen gezogen werden, hängt man schon an ihnen – der lebendige Stil, der nahe an den Personen bleibt, trägt das Seine dazu bei. Einige Charakterentwicklungen zeichnen sich schon im Voraus ab, wie etwa die Beziehung zwischen Nicholas und seinem Feind Inspektor Ronsarde, dem Ermittler, der ihm auf der Spur ist – sie sind aber nicht minder lesenswert.

Die vielen kleinen, spannenden Coups, die sich die Verbrecherbande leistet, sorgen für großartige Dynamik – die Geschichte hat keinerlei Längen und das Tempo ist durchgehend hoch, ohne daß der rote Faden verloren geht. Trotzdem bleibt Zeit für einige bewegende Szenen, und auch Humor ist bei den gerissenen Schurken zu Hauf vorhanden – was die teilweise düstere Stimmung, die sich schon aus dem Grundthema “Nekromantie” ergibt, größtenteils aufhebt.
Der locker-leichte Stil der Geschichte wird auch dadurch unterstrichen, daß der Tod in diesem Roman erstaunlicherweise keine große Ernte einfährt. Da sich zeitgenössische Fantasy oft auch in den Darstellungen von Grausamkeiten überbietet, außergewöhnlich – denn angeboten hätten sich so manche entsetzlichen Szenen, aber diese werden in der Regel elegant umschifft. Um so schöner ist, daß die geringe Sterberate der Spannung gar keinen Abbruch tut und man dennoch gehörig um die Protagonisten zittern kann.

Magie, ihre Verknüpfung mit Technik, aber auch ihre altertümliche Form mit Fabelwesen, Feen und anderen Erscheinungen ist stimmig in die Handlung eingebunden und wird zwar spärlich, aber immer eindrucksvoll eingesetzt.
So läßt allein die Auflösung der Haupthandlung ein klein wenig zu wünschen übrig – auch hier kommen zwar wie im gesamten Roman überraschende und interessante Kniffe zum Tragen, aber ingesamt geht es doch ein wenig schnell über die Bühne. Dafür gibt es aber für alle Beteiligten ein schönes, rundes Ende – ingesamt also eine Lektüre, die sehr viel Vergnügen bereitet und ganz in sich geschlossen ist – obwohl man Ile-Rien in weiteren Romanen von Martha Wells noch ausführlicher erkunden kann.

Necromancer von Martha WellsNicholas Valiarde ist ein Edelmann mit einem Doppelleben als größter Dieb der Stadt Vienne – und seine Verbrechen dienen nur einem Ziel: Er will den Grafen Montesq ausschalten, der einst seinen Mentor wegen Nekromantie zum Tode verurteilen ließ. Nicholas ist näher als je zuvor an seinem Ziel, als ihm ein ungelegener Zwischenfall in die Quere kommt: Ein zwielichtiger Spiritualist, der angeblich mit Verstorbenen kommunizieren kann, geht in den Adelshäusern der Stadt ein und aus und benutzt eine der Erfindungen von Nicholas’ verstorbenem Mentor. Als ob das nicht genug wäre, sieht sich Nicholas bei seinen Nachforschungen plötzlich echter Nekromantie gegenüber. Er geht der Sache nach – weitaus besser als die inkompetente Präfektur der Stadt …

– Die nervenaufreibendsten Unternehmungen waren immer die, bei denen man den Vordereingang benutzen musste. –
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Zu Necromancer liegt eine Rezension der Originalausgabe bei Bibliotheka Phantastika vor, dazu bitte hier entlang.