Zum Gedenken an E.A. Wyke-Smith

Bibliotheka Phantastika erinnert an E.A. Wyke-Smith, dessen Geburtstag sich am Montag vor einer Woche zum 150. Mal gejährt hat. Wer mit diesem Namen nicht allzuviel anfangen kann, dürfte sich in allerbester Gesellschaft befinden, denn der am 12. April 1871 im Vereinigten Königreich geborene Edward Augustine Smith (die ältere Form seines Familiennamens hat er erst später angenommen*) ist auch in seiner Heimat vor allem aufgrund eines einzigen – seines letzten – Buchs bekannt.
Wyke-Smith hat erst mit fünfzig Jahren zu schreiben begonnen bzw. seinen ersten Roman – das Kinderbuch Bill of the Bustingforths (1921) – veröffentlicht; zuvor hat er ein so gar nicht den Wünschen seines Vaters entsprechendes Leben als Weltenbummler und Abenteurer geführt. Nachdem er bei den Horse Guards at Whitehall seinen Militärdienst geleistet hatte, hat er auf einem der letzten Windjammer angeheuert und ist nach Australien und zur amerikanischen Westküste gesegelt und hat anschließend im Westen der USA als Cowboy gearbeitet, ehe er nach England zurückgekehrt ist und Bergbauwesen studiert hat. Danach ist er wieder in die Welt hinausgezogen und hat sich als beratender Ingenieur um Minen in den USA, Mexiko, Skandinavien, Spanien, Mittel- und Südamerika, sowie Ägypten und auf der Sinai-Halbinsel (wo er auch seine Dienstzeit während des Ersten Weltkriegs verbracht hat) gekümmert. Zu schreiben begonnen hat Wyke-Smith anscheinend auf Wunsch seiner Kinder, die wollten, dass er eine der Geschichten, die er ihnen immer erzählt hat, zu Papier bringt (und außerdem möglicherweise – wie John Clute vermutet** – um seine Kriegserfahrungen zu verarbeiten) – und das Ergebnis war dann das bereits erwähnte Kinderbuch.
Weitere Kinderbücher und Romane für Erwachsene folgten in kurzen Abständen, und 1927 ist schließlich sein letztes Buch – und damit der Grund, warum E.A. Wyke-Smith überhaupt hier auftaucht – erschienen: The Marvellous Land of Snergs.
The Marvellous Land of SnergsThe Marvellous Land of Snergs kann man am ehesten als märchenhaftes Kinderbuch in der Tradition z.B. der Curdie-Romane von George MacDonald bezeichnen – und es ist außerdem das Buch, von dem J.R.R. Tolkien in einem seiner Briefe als “an unconscious source-book! for the Hobbits, not of anything else” gesprochen hat.*** Was man angesichts besagter Snergs – “a race of people only slightly taller than the average table, but broad in the shoulders and of great strength” –, die häufigen Festivitäten jedweder Art alles andere als abhold sind, durchaus nachvollziehen kann.
Die Geschichte beginnt in der – geografisch nicht genau zu verortenden – Watkyns Bay, in der die S.R.S.C. (Society for the Removal of Superfluous Children) beheimatet ist, eine Institution, in der sich Miss Watkyns mit der Unterstützung von Miss Gribblestone und Miss Scadging um vernachlässigte oder missbrauchte Kinder kümmert (wobei sie sehr sorgsam darauf achtet, nur wirklich ungeliebte oder ungewollte Kinder zu sich zu holen). Außerdem befindet sich in der Bucht auch das Lager von Käpt’n Vanderdecken und seiner Crew, die hier zufällig angelandet sind und sich häuslich eingerichtet haben, da weder der Kapitän noch die Mannschaft der Flying Dutchman sonderlich viel Lust haben, weiter die Meere zu befahren. Und zum Landesinnern hin schließt sich an die idyllische Bucht das ebenso idyllische Königreich der Snergs an, das durch einen tiefen, nicht zu überquerenden Fluss von der angrenzenden Region getrennt wird, die dem Vernehmen nach von einem grausamen Tyrannen beherrscht wird und in der es üble Oger und schlimme Hexen geben soll. Eines Tages reißen Joe und Sylvia – zwei der Kinder, um die Miss Watkyns sich kümmert – aus, um Abenteuer zu erleben. Sie verirren sich alsbald im Wald und werden von Gorbo gerettet, einem Snerg, der bei seinem eigenen Volk eine Art Außenseiter ist. Gorbo führt sie in die Stadt der Snergs, wo ihnen zu Ehren sogleich ein Fest veranstaltet wird (immerhin ist das letzte schon wieder sieben Tage her). Am nächsten Tag will Gorbo den Kindern die Umgebung der Stadt zeigen, doch dabei verirren sie sich im Forest of Twisted Trees, finden einen Baum mit einer Tür, durch die sie in einen Tunnel geraten … und landen schließlich in der Region jenseits des Flusses – also dort, wo es gefährlich sein soll …
Im weiteren Verlauf der Handlung begegnen Gorbo und die beiden Kinder u.a. einem Oger, der behauptet, keine Kinder mehr zu fressen, sondern zum Vegetarier geworden zu sein, der Hexe Mother Meldrum, die plant, den König zu ermorden, und besagtem König, der angeblich eine Vorliebe dafür hat, kleine Kinder enthaupten zu lassen. Natürlich geht das ganze Abenteuer – wie es sich für ein Kinderbuch gehört – gut aus. Und natürlich sollte man weder ein ausgefeiltes Worldbuilding noch eine sonderlich komplexe Handlung erwarten, denn letztere ist voll und ganz auf die angedachte Leserschaft zugeschnitten. Oder, anders gesagt: wer an J.R.R. Tolkiens The Hobbit Spaß hatte und keine Probleme mit dem teilweise etwas sehr kindischen Humor oder der gelegentlichen direkten Leseransprache hat, dürfte auch an The Marvellous Land of Snergs Gefallen finden; wer damit schon beim Hobbit nicht klar gekommen ist, eher nicht.
In den 90er Jahren wurde der Roman in den USA “wiederentdeckt”, und er ist knapp zwanzig Jahre später als einziges von Wyke-Smiths Werken als Das wunderbare Land der Schnerge (2013) auch auf Deutsch erschienen, wenn auch nur in einer limitierten (und damit nicht ganz billigen) Ausgabe. E.A. Wyke-Smith hat übrigens den Roman, für dessen Protagonisten sein Buch ein “unconscious source-book” war, nie zu Gesicht bekommen, denn er ist bereits am 16. Mai 1935 – zwei Jahre vor Erscheinen des Hobbit – im Alter von 64 Jahren gestorben.

* – dieser Möglichkeit, den (anscheinend als langweilig empfundenen?) Familiennamen ein bisschen interessanter zu machen, hat sich fast 100 Jahre später auch ein mittels des Kürzels BWS leicht zu identifizierender Comic-Künstler bedient
** – im entsprechenden Autoreneintrag in der Encyclopedia of Fantasy
*** – Letter 163 to W.H. Auden

4 Kommentare zu Zum Gedenken an E.A. Wyke-Smith

  1. Elric sagt:

    Nun ja, immerhin ist das Buch noch lieferbar… Für 45€ neu zwar happig, aber vielleicht ja durchaus mal ein Geschenk für die Kinder – das man dann selbst auch lesen kann! 😉

  2. Pogopuschel sagt:

    Und wieder was gelernt. Danke für den Beitrag. Das Buch habe ich mir mal vorgemerkt. Auf Englisch ist es deutlich günstiger zu haben.

  3. gero sagt:

    Danke euch beiden!

    @ Elric:

    Dieses spezielle Buch habe ich zwar noch nie in der Hand gehabt (das hat Joachim, wenn ich das richtig sehe, erst gemacht, als er nicht mehr zur Buchmesse gekommen ist bzw. keinen Stand mehr hatte – und da habe ich mir sonst die Sachen immer angeschaut), aber generell sind die limitierten Ausgaben der Edition Phantasia schon sehr gut gemacht und ihr Geld wert. Wobei … das wird dann sicher eher ein Vorlesebuch als ein Lesebuch, oder? 😉

    @ Pogo:

    Stimmt, aber die deutlich schönere Ausgabe von Old Earth Books ist auch nur noch antiquarisch (und ebenfalls nicht gerade billig) zu kriegen. Wobei ich verstehen kann, warum Joachim die Schnerge in dieser Form gemacht hat, denn das Publikum für diese Art Buch dürfte doch sehr überschaubar sein. Ein Großverlag würde so einen Titel mMn niemals auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen (schließlich ist ja auch der Autor hierzulande alles andere als bekannt).

  4. Wurling sagt:

    Die Edition Phantasia hat mit “Das wunderbare Land der Schnerge” ein nettes Buch veröffentlicht. 45 Euro ist aber trotzdem viel für das Buch und ich denke mal alleine der kleinen Auflage geschuldet. Handwerklich ist es aber prima gemacht.

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