Zum 65. Geburtstag von Régis Loisel

Bibliotheka Phantastika gratuliert nachträglich Régis Loisel, der bereits am Sonntag vor einer Woche 65 Jahre alt geworden ist. Im Gegensatz zu so manchem seiner Kollegen – wie etwa Andreas oder Caza – dürfte der am 04. Dezember 1951 in dem Städtchen Saint-Maixent-l’École geborene Régis Loisel seit Mitte der 80er Jahre auch hierzulande all denen, die sich für Fantasy und Comics interessieren, ein Begriff sein. Denn damals erschien mit Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit die deutsche Albenausgabe eines im Original La Quête de l’Oiseau du Temps betitelten vierbändigen Fantasyzyklus, der seinen Machern – dem Szenaristen Serge Le Tendre* und dem Zeichner Régis Loisel – nicht nur in ihrer Heimat den Durchbruch bescherte, sondern auch hierzulande ein großer Erfolg war.
Dieser Erfolg ist Loisel, der von Kindesbeinen an Comiczeichner werden wollte, jedoch nicht in den Schoß gefallen. Nachdem er 1972 aus der Provinz nach Paris gezogen war, musste er sich lange Jahre mit kleinen Auftragsarbeiten über Wasser halten, während er gleichzeitig an der Universität von Vincennes die dort von Comicgrößen wie Jean-Claude Mézières und Jean Giraud gegebenen Kurse für angehende Comiczeichner besuchte und bei dieser Gelegenheit andere aufstrebende Zeichner kennenlernte. Einer dieser Zeichner war Serge Le Tendre, der zu diesem Zeitpunkt – nach einem entsprechenden Ratschlag “aus berufenem Mund” – allerdings bereits mit dem Zeichnen aufgehört hatte und sich auf seine unbestreitbaren Fähigkeiten als Szenarist konzentrierte. Mit ihm und einigen anderen Kollegen gründete Loisel das Comicmagazin Tousse Bourin, das jedoch nach vier Ausgaben aus Geldmangel wieder eingestellt wurde. Auch der Versuch, mit Le Tendre zusammen eine große Fantasygeschichte mit dem Titel “Pelisse: La Quête de l’Oiseau du Temps” zu erzählen, scheiterte im ersten Anlauf, da das ambitionierte SF-Magazin Imagine, in dem sie abgedruckt werden sollte, aufgrund schlechter Verkaufszahlen nach drei Ausgaben wieder vom Markt verschwand.
Der Tempel des Vergessens von Le Tendre und LoiselWenn man die noch in Schwarzweiß gehaltenen Seiten aus Imagine mit denen vergleicht, die sieben Jahre später in dem Comicmagazin Charlie Mensuel – dieses Mal in Farbe – abgedruckt wurden, muss man im Nachhinein sagen, dass der vermeintliche Rückschlag sich letztlich als Glücksfall erwiesen hat, denn erzählerisch und zeichnerisch ist ein deutlicher Qualitätssprung erkennbar. La Quête de l’Oiseau du Temps kam bei der Leserschaft von Charlie Mensuel sehr gut an, und auch die nachfolgenden Albenausgaben (Einzeltitel: La Conque de Ramor (1983), Le Temple de L’oubli (1984), Le Rige (1985) und L’oeuf des Ténèbres (1987)) verkauften sich von Band zu Band besser und schließlich hervorragend. Was nicht weiter verwunderlich ist, denn die von Le Tendre ersonnene Geschichte ist viel mehr als nur eine Suche nach dem titelgebenden “Vogel der Zeit”, den die Zauberin Mara braucht, um die Welt Akbar vor der Rückkehr des rachsüchtigen Gottes Ramor zu retten. Ramor wurde einst in ein Schneckenhaus verbannt, doch der Fluch, der ihn dort festhält, muss erneuert werden; ihn auszusprechen, dauert allerdings so lange, dass Mara auf den Vogel der Zeit – bzw. dessen Fähigkeit, die Zeit anzuhalten – angewiesen ist. Deshalb schickt sie ihren Jugendfreund, den alternden Ritter Bragon, zusammen mit ihrer (gemeinsamen?) Tochter Pelissa (im Original Pelisse) los, um den Vogel der Zeit und das Schneckenhaus mit dem darin gefangenen Ramor zu suchen. Die Queste, in die neben dem wackeren alten Kämpen und der üppigen Pelissa (die wie der typische, in Fantasycomics häufig zu findende gestaltgewordene feuchte Männertraum wirkt) auch noch Bulrog (ein zum Söldner gewordener ehemaliger Schüler Bragons) und der vor allem für auflockernde lustige Momente zuständige “Unbekannte” verwickelt werden, führt zu von Loisel beeindruckend in Szene gesetzten faszinierenden Orten, an denen sie ebenso faszinierenden, ihnen allerdings nicht immer freundlich gesinnten und teils sehr gefährlichen Wesen begegnen. Dabei liegt der Reiz der Geschichte nicht nur an der spannend inszenierten, mit mehreren verblüffenden Wendungen aufwartenden eigentlichen Queste, sondern auch am komplexen Beziehungsgeflecht der vier Hauptfiguren, deren Schicksal im Verlauf der Handlung mindestens ebenso wichtig wird wie das Akbars. Dazu kommen Loisels detailreiche, manchmal gar überbordende Zeichnungen, die aus Akbar eine wirklich exotische Fantasywelt mit originellen Bewohnern machen. Doch das, was La Quête wirklich zu einem ganz besonderen Fantasycomic macht, der die Möglichkeiten des Mediums wie kaum ein zweiter** nutzt und so zu einem Referenzwerk wird, an dem sich alle anderen Fantasycomics messen lassen müssen, offenbart sich erst im vierten Album …
Grauwolfs letzter Kampf von Le Tendre und LoiselAuch in Deutschland erschienen die ersten beiden Bände von Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit zunächst als Fortsetzungsgeschichte in Comicmagazinen (Band eins in Pilot 18 – 23 (1984), Band zwei in Schwermetall 60-65 (1985)), ehe die vier Alben Schatten über Akbar, Der Tempel des Vergessens (beide 1985), Grauwolfs letzter Kampf (1986) und Das Ei der Finsternis (1988) herauskamen, die teilweise mit neuen Titelbildern mehrfach neu aufgelegt wurden; 1992 folgte schließlich noch eine limitierte Gesamtausgabe unter dem Zyklustitel.
Der Erfolg von La Quête machte Loisel unabhängig, und bei der Arbeit an dem Zyklus war ihm klargeworden, dass er in Zukunft selbst Geschichten erzählen und sie nicht nur als Zeichner umsetzen wollte. Daher nahm er sein nächstes Projekt – eine freie Adaption von J.M. Barries Peter Pan*** – allein in Angriff, und das Ergebnis ist deutlich anders, als man vielleicht hätte erwarten können (vor allem, da Loisel durch den Disney-Fim von 1953 zu seiner Idee inspiriert wurde – Barries Originaltext kannte er damals noch gar nicht). Doch besagter Originaltext war ihm dann zu dünn, zu anekdotisch erzählt, und daher machte er sich in seiner Adaption daran, Peter und den anderen Figuren eine Hintergrundgeschichte zu geben, so dass sein Peter Pan eigentlich ein Prequel ist, das allerdings – da er den im Original verborgenen Subtext an die Oberfläche holt und sichtbar macht – sehr viel psychologischer und düsterer als Barries Version (oder gar der Disney-Film) ausgefallen ist.
Alles beginnt im Winter 1887 in einer Gasse in einem heruntergekommenen Viertel Londons; hier sitzt ein Junge vor einem Bretterverschlag und erzählt einer Horde Kindern auf der anderen Seite des Verschlags Geschichten, erst von Aschenputtel und dann von seiner ihn ach so sehr liebenden, fürsorglichen Mutter. Der Erzähler ist Peter – und die Geschichten über seine Mutter, die seine aus einem nahegelegenen Waisenhaus stammenden Zuhörer so gerne hören, sind frei erfunden. Denn in Wirklichkeit ist Peters Mutter eine Alkoholikerin, die ihren Sohn nur braucht, damit er ihr die nächste Flasche Fusel besorgt. Der einzige Lichtblick in Peters tristem Leben ist der nette alte Mister Kundal, der in einem Zimmer über einem Gasthaus lebt und Peter nicht nur lesen, schreiben und rechnen beigebracht hat, sondern ihn auch mit Essen und Geschichten versorgt. Die anderen Menschen sind nicht so großzügig – und manche sind sogar gefährlich, wie Peter feststellen muss, als er wieder einmal Brandy besorgen soll. Dass er im Gasthaus eine demütigende Situation erlebt (da ihm seine Mutter natürlich kein Geld mitgegeben hat), ist eine Sache, doch dass er auf dem Heimweg nur um Haaresbreite einer Vergewaltigung entgeht, ist noch einmal etwas ganz anderes. Und da seine Mutter ihn anschließend aus dem Haus jagt, ist es kein Wunder, dass Peter mit der Fee Glöckchen (im Original Clochette) und mit Hilfe ihres Feenstaubs einfach davonfliegt, London und die Welt der Erwachsenen mit all ihrer Gewalt, ihrem Sex, ihrer Armut und ihrem Schmutz hinter sich lässt. Glöckchen wiederum hat nach ihm gesucht – oder, genauer: sie hat nach jemandem gesucht, der die Insel Nimmerland und all die Fabelwesen, die auf ihr leben, retten wird. Denn vor der Insel liegt ein Piratenschiff vor Anker, dessen Mannschaft und deren cholerischer Kapitän auf der Suche nach einem Schatz sind, den es auf der Insel geben soll …
Was in groben Zügen im ersten Album Londres (1990) so beginnt, entwickelt sich in den fünf folgenden Alben Opikanoba (1992), Tempête (1994), Mains rouges (1996), Crochet (2002) und Destins (2004) zu einer komplexen Geschichte, deren Peter Pan Gesamtausgabe von LoiselSchauplatz zumeist Nimmerland ist (auch wenn Peter aus unterschiedlichen Gründen noch mehrmals nach London zurückkehrt) und in der u.a. erzählt wird, wie die Lost Boys auf die Insel gekommen sind, der Piratenkäpt’n zu Käpt’n Hook geworden ist oder warum das Krokodil den Wecker verschluckt hat – vor allem aber, wie und warum aus Peter Peter Pan geworden ist und warum er nicht erwachsen werden will (oder werden kann oder werden darf). Grafisch setzt Loisel das Ganze mit einem Strich in Szene, der im Vergleich zum Vogel der Zeit noch ein bisschen dynamischer geworden ist und manchmal fast schon karikierend wirkt, dabei aber – unterstützt durch eine an die jeweiligen Örtlichkeiten und Situationen angepasste Farbgebung – die Geschichte und ihre Atmosphäre immer überzeugend transportiert. Das Ergebnis ist ein sowohl grafisch als auch erzählerisch beeindruckendes Werk – aber auch eines, das teilweise sehr düster und letztlich tieftraurig ist. Aber was will man andererseits von einer Geschichte erwarten, in der es um ungeliebte Kinder geht?
Loisels Peter Pan hat es auch nach Deutschland geschafft. Die ursprünglich erschienenen sechs Alben London (1991), Die Insel (1992), Sturm (1995), Rote Hand (1997), Der Haken (2002) und Schicksale (2005) sind allerdings längst vergriffen, doch dankenswerterweise gibt es statt dessen eine sehr schöne zweibändige Peter Pan Gesamtausgabe (2014/15), in der außerdem ein redaktioneller Teil über Loisels Werdegang enthalten ist (dem auch dieser Beitrag einige bio- und bibliografische Angaben verdankt).
Vierzehn Jahre lang hat Régis Loisel an Peter Pan gearbeitet. Parallel dazu hat er in dieser Zeit am ersten Album des neuen Zyklus um den Vogel der Zeit (bei dem es sich um ein im Original Avant la Quête betiteltes Prequel handelt, das ursprünglich erst als dritter Zyklus geplant war) mitgewirkt, das unter dem Titel L’ami Javin 1998 erschienen ist, wobei mitgewirkt bedeutet, dass er zusammen mit Le Tendre das Szenario entworfen, ein Storyboard erstellt und coloriert hat, während die Reinzeichnungen von Lidwine stammen; eine ähnliche Arbeitsteilung hat auch bei den drei folgenden Alben von Avant la Quête stattgefunden, allerdings hat Loisel sie nicht mehr coloriert und die Reinzeichnungen stammen von Mohamed Aouamri (Le grimoire des dieux (2007)) und Vincent Mallié (La voie du Rige (2010) und Le chevalier Bragon (2013)). Hierzulande ist Avant la Quête als Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit 5-8 (1998-2014) erschienen.
Bereits 2005 hatte Régis Loisel, der zwischenzeitlich nach Kanada (genauer: nach Montreal) gezogen war, wo er sich mit seinem Kollegen Jean-Louis Tripp ein Atelier teilt°, mit besagtem Jean-Louis Tripp mit der Arbeit an einem Zyklus mit dem Titel Magasin général (neun Alben, 2006-2014) begonnen, der ausnahmsweise keinen phantastischen Inhalt hat, sondern in dem es um ein irgendwo im Hinterland von Quebec angesiedeltes Dorf und dessen Bewohner in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geht (deutsch als Das Nest, neun Alben, 2007-2015). Und 2007 erschien mit L’armes d’abeille das erste Album des Zyklus Le Grand Mort (bislang sechs von wahrscheinlich acht Alben, 2007-2015), für den er gemeinsam mit Jean-Blaise Djian das Szenario schreibt, während die Zeichnungen von Vincent Mallié (s.o.) stammen. Bei Le Grand Mort (deutsch als Der große Tote, bislang sechs Alben, 2008-2016) handelt es sich wieder um einen phantastischen Zyklus, der zwar ein wenig klischeehaft begonnen hat, dessen neuere Alben sich allerdings in eine Richtung entwickeln, die die Hoffnung nährt, dass sich auch die dritte phantastische Comicreihe, an der Régis Loisel beteiligt ist, am Ende als weit überdurchschnittliches oder sogar überragendes Werk erweisen könnte.
Doch unabhängig davon, wie sich Der große Tote letztlich entwickeln wird – Loisel, der beim Internationalen Comicfestival von Angoulême zwei Mal (1991 und 1995) den Alph-Art du public (für das erste bzw. dritte Album von Peter Pan) und 1992 (wiederum für Peter Pan) beim Comic-Salon Erlangen den Max-und-Moritz-Preis gewonnen hat und der 2003 schließlich mit dem Grand Prix de la Ville d’Angoulême – dem wichtigsten französischen Comicpreis – ausgezeichnet wurde, hat seinen Platz im Pantheon der großen phantastischen Comickünstler und Erzähler seit dem Abschluss von Peter Pan längst sicher …

* – interessanterweise konnte auch Serge Le Tendre erst vor kurzem einen runden Geburtstag feiern – er wurde am 01. Dezember 70 Jahre alt.
** – diese Aussage bezieht sich explizit auf Fantasycomics, denn z.B. die Arbeiten eines Marc-Antoine Mathieu reizen die Möglichkeiten des Mediums noch wesentlich weiter aus.
*** – die Entwicklungs- und Publikationsgeschichte von J.M. Barries Peter Pan ist zu komplex, um sie hier als Fußnote abzuhandeln; bei Interesse empfiehlt sich ein Blick in die deutsche oder englische Wikipedia.
° – sich mit einem oder mehreren Kollegen ein Atelier zu teilen, hat bei Loisel Tradition, die er bereits in Paris begonnen hatte und auch während seiner Zeit in der Bretagne (Ende der 80er bis Anfang der 00er Jahre) fortgeführt hat.

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