Bibliotheka Phantastika gratuliert nachträglich Sofia Samatar, die bereits vor gut zweieinhalb Wochen ihren 45. Geburtstag feiern konnte. Bevor die am 24. Oktober 1971 im amerikanischen Bundesstaat Indiana geborene Sofia Samatar ab 2011 zunächst mit Gedichten, doch bald darauf auch mit Rezensionen, Essays und Erzählungen auf sich aufmerksam machte, hatte sie eine akademische Ausbildung hinter sich gebracht (in deren Rahmen sie u.a. Arabisch studiert hat) und anschließend mehrere Jahre als Englischlehrerin im Sudan und in Ägypten gearbeitet. Im Sudan – genauer: in Yambio, einer Stadt in der seit 2011 vom Sudan unabhängigen Republik Südsudan – ist auch der erste Entwurf ihres ersten Romans entstanden, der viele Jahre und Bearbeitungsstufen später – und nur noch halb so lang wie anfangs geplant – als A Stranger in Olondria (2013) auf den Markt kam und gleich die wichtigsten Preise des Genres abgeräumt hat.
“As I was a stranger in Olondria, I knew nothing of the splendor of its coasts, nor of Bain, the Harbor City, whose lights and colors spill into the ocean like a cataract of roses. I did not know the vastness of the spice markets of Bain, where the merchants are delirious with scents. I had never seen the morning mists adrift above the surface of the green Illoun, of which the poets sing; I had never seen a woman with gems in her hair, nor observed the copper glinting of the domes, nor stood upon the melancholy beaches of the south while the wind brought in the sadness from the sea …” Mit diesen Sätzen beginnt Jevick, der Ich-Erzähler von A Stranger in Olondria, seine Geschichte, und sie stimmen uns stilistisch und inhaltlich auf das ein, was folgen wird. Jevick lebt als Sohn eines wohlhabenden Pfefferhändlers in dem Dorf Tyom auf einer der Tea Islands, einer Inselgruppe im Süden des mächtigen Reichs Olondria. Eines Tages bringt sein Vater von einer seiner Reisen einen Hauslehrer aus Olondria mit, der Jevick nicht nur die olondrische Sprache sondern auch das Lesen beibringt – etwas, das auf den Tea Islands unbekannt ist – und ihn mit Lesestoff in Form der großen olondrischen Epen versorgt. Jevick begeistert sich für die “Magie” des Lesens und den Stoff, den er zu lesen bekommt, und als sein Vater überraschend stirbt, kann er es kaum erwarten, an dessen Stelle nach Bain zu reisen und in der Hauptstadt Olondrias all das, was er bisher nur aus Büchern kennt, mit eigenen Augen zu sehen. Seine Begeisterung ist so groß, dass er nicht einmal merkt, wie sehr er sich bereits von seinen mitreisenden Landsleuten entfremdet hat, die er aufgrund ihrer Unkenntnis der olondrischen Sprache verachtet. In Bain angekommen, ist Jevick schier berauscht von all den Eindrücken, die auf ihn einprasseln, und die ihren Höhepunkt im “Feast of Birds” – einem Fest zu Ehren von Avalei, der Göttin der Liebe und des Todes – finden. Doch die Ernüchterung folgt spätestens, als er kurz nach dem besagten Fest vom Geist Jissavets (einer jungen Frau aus seiner Heimat, die er auf der Überfahrt kennengelernt hatte) heimgesucht wird und dadurch ins Visier der Repräsentanten der in Olondria vorherrschenden Religion gerät, denn für die Priester des “Stone” ist jeder, der Geister – oder “Engel” – sehen kann, eine Gefahr, weil solche Menschen von den entmachteten und verfolgten Priestern des konkurrierenden Avalei-Kults als Heilige betrachtet werden. Jevick muss schmerzhaft erkennen, wie wenig er letztlich von Olondria, von den politischen und religiösen Gegebenheiten des Reiches weiß, und ihm wird bewusst, dass er noch immer ein Fremder in Olondria ist – und es auch im weiteren Verlauf seiner Abenteuer, die ihn weit von Bain wegführen, bleiben wird …
Mit A Stranger in Olondria ist Sofia Samatar ein wundervoller, kluger Roman gelungen, der in sich Elemente des Entwicklungsromans (oder gar des Bildungsromans), des Reiseromans und der Geistergeschichte vereint – und präsentiert wird das Ganze in einer nur als berückend schön zu bezeichnenden poetischen Sprache (von der man sich hier anhand des ersten Kapitels einen Eindruck verschaffen kann). Doch in A Stranger in Olondria geht es nicht nur um die Reise eines anfangs naiven jungen Mannes an überaus plastisch und atmosphärisch geschilderte exotische Orte, sondern auch sehr zentral um die Kraft des geschriebenen Wortes. Oder, etwas genauer: um die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Es geht um die Räume, die sich dadurch eröffnen, aber auch um die Barriere, die zwischen denen entsteht, die diese Fähigkeit beherrschen, und denen, die sie nicht beherrschen; und um die Gefahren, die daraus erwachsen können, dass man das geschriebene Wort für die einzige Wahrheit hält. Vor allem die Behandlung dieser Thematik mit all ihren Nebenerscheinungen macht A Stranger in Olondria weit über die wunderbare Sprache, die Exotik und die Atmosphäre hinaus zu einem wirklich lesenswerten Roman, der völlig zu recht mit dem World Fantasy Award und dem British Fantasy Award aka Robert Holdstock Award ausgezeichnet wurde und als weiteres Beispiel dafür gelten kann, was heutzutage in der Fantasy abseits von tolkienesken Questen und Metzeleien im Grim-&-Gritty-Stil möglich ist.
Inzwischen ist Sofia Samatar mit The Winged Histories (2016) noch einmal nach Olondria zurückgekehrt, und die bislang veröffentlichten Rezensionen deuten stark darauf hin, dass es ihr gelungen ist, das Niveau ihres Erstlings nicht nur zu halten, sondern sogar zu übertreffen. Was die Tatsache, dass besagter Erstling bislang noch nicht übersetzt wurde (und vermutlich so bald auch nicht übersetzt werden wird), umso bedauerlicher macht.
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Theoretisch hätte dieser Beitrag schon kurz nach der Buchmesse kommen sollen, praktisch … kommt er erst jetzt und damit reichlich verspätet. Natürlich gibt es dafür Gründe, über die ich mich an dieser Stelle allerdings nicht auslassen werde. Es war und ist halt, wie’s ist. 😉
Normalerweise kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem mir die Verspätung zu peinlich wird, und dann wird der betreffende Beitrag eben gestrichen bzw. fünf Jahre verschoben. In diesem Fall wollte ich den Text aber unbedingt dieses Jahr online haben, weil A Stranger in Olondria einfach ein großartiger Roman ist und ich die Chance, etwas über ihn zu schreiben, nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. Und deshalb kommt dieser Text jetzt mit rekordverdächtiger Verspätung.
Letztere hat einen gewissen Nebeneffekt, den man vielleicht ganz treffend als Domino-Effekt bezeichnen könnte, und der sich vermutlich auf die nächsten zwei, drei Geburtstagsbeiträge auswirken wird (wenn wir sie denn nicht einfach canceln). We’ll see …
Wie sagte man schon beim Einlauf der Titanic (in Ghostbusters): “Besser spät, als nie”. 😉
Ganz ehrlich, mich stört es nicht, wenn der Beitrag etwas verspätet kommt. Mir ist es nur recht, wenn mein Horizont erweitert wird, auch wenn ich jetzt mal wieder ein Buch gerne übersetzt hätte, das vielleicht nie übersetzt werden wird.
Canceln wäre schade, aber du mußt natürlich selbst dahinter stehen können. Andere stört eine Verspätung vielleicht weniger als du selbst glaubst.
Da hat wurling ganz Recht: etwas Verspätung ist nix Schlimmes!
Ich werd dann auch mal wieder ein Buch auf meine Liste schreiben (müssen). Das wäre wohl eines der ersten Bücher, die ich lese, welche dann auch eine Auszeichnung bekommen haben… 😉
Danke Gerd! 😀
Danke für den Zuspruch! (Wobei “etwas verspätet/Verspätung” in diesem Fall ja schon einen gehörigen Euphemismus darstellt.) 😉
Ob ein Beitrag – ob verspätet oder nicht – letztlich erscheint, hat auch weniger was mit dahinterstehen zu tun, sondern vor allem mit der Zeit, die zur Verfügung steht, dem Aufwand, der z.B. für Recherchen zu betreiben ist (denn auch ich habe natürlich nicht sämtliche Veröffentlichungsdaten im Kopf) und manchmal auch damit, wie leicht einem so ein Text von der Hand geht. Fällt mir auf Anhieb ein guter Einstieg ein, flutscht der Text meistens; fällt mir keiner ein … kann das Ganze eine zähe Angelegenheit werden. Je, nu …
Da es im November eh nicht sehr viele geeignete Kandidaten oder Kandidatinnen gibt, wird wahrscheinlich schon noch der eine oder andere Beitrag verspätet nachgeliefert werden (auch wenn die beiden wahrscheinlichsten Kandidaten euch vermutlich nicht zu Buchkäufen animieren werden 😉 ); im Dezember wollen wir aber eigentlich zeitlich wieder in der Spur sein – mal schauen, ob das klappt.
@ Elric:
Dann hoffe ich einfach mal, dass dir Samatars A Stranger in Olondria gefallen wird, wenn du das Buch tatsächlich eines Tages mal lesen solltest.