Bibliotheka Phantastika gratuliert M. John Harrison, der heute 70 Jahre alt wird. Im gleichen Jahr, in dem der am 26. Juli 1945 in Rugby in der mittelenglischen Grafschaft Warwickshire geborene Michael John Harrison in Science Fantasy seine erste Story “Marina” veröffentlichte (1966), zog er nach London und lernte dort Michael Moorcock kennen, der damals Herausgeber des (als Sprachrohr der New Wave immens wichtigen) SF-Magazins New Worlds war. Er begann, Rezensionen und Stories für New Worlds zu schreiben und blieb dem Magazin bis in die 70er Jahre u.a. als Redakteur für die literarischen Texte verbunden. Der Einfluss der britischen New Wave und vor allem Moorcocks ist in Harrisons ersten beiden Romanen – dem SF-Roman The Committed Men (1971; dt. Idealisten der Hölle (1982)) und dem Endzeit-Fantasyroman The Pastel City (1971; dt. Die Pastellstadt (1973)) – deutlich spürbar.
Viriconium – die titelgebende Stadt von The Pastel City (und die Bezeichnung der aus drei Romanen und einer Kurzgeschichten-Sammlung bestehenden Viriconium-Sequenz, sowie der Titel mehrerer Sammelbände) – ist auf einer Erde der fernsten Zukunft der letzte Hort der Zivilisation einer aussterbenden, in die Barbarei zurückgefallenen Menschheit. Beherrscht von einer Königin und umgeben von Feinden, liegt sie inmitten einer Welt, die übersät ist von den teils verrotteten, teils noch funktionsfähigen Überresten einer glorreichen Vergangenheit, in der die Nachmittagskulturen und ihre nicht mehr vorstellbaren technologischen Errungenschaften der Erde ihren Stempel aufgedrückt haben. In dieser Welt lebt der alternde tegeus-Cromis, ein ehemaliges Mitglied der königlichen Garde Viriconiums, ein abgeschiedenes Leben als Poet – bis ihn ein Hilferuf seiner Königin ereilt, da die Stadt von einer feindlichen Armee bedroht wird. Natürlich bricht tegeus-Cromis auf, um seiner Königin und seiner Heimatstadt zu helfen; er sammelt seine alten Mitstreiter um sich, erfährt, um was für einen Gegner es sich handelt, und tut dann das, was Helden eben so tun … oder auch nicht … The Pastel City ist in weiten Teilen ein faszinierender Genremix, der mit beeindruckenden Bildern aufwartet und all denen, die z.B. Michael Moorcocks Runenstab-Zyklus schätzen, nur empfohlen werden kann.
Bei A Storm of Wings (1980; dt. Das Rauschen dunkler Schwingen (1984)) sieht das dann allerdings ganz anders aus; in diesem Roman, der etwa 80 Jahre später als sein Vorgänger spielt, erzählt Harrison im Prinzip die gleiche Geschichte: wieder wird Viriconium bedroht, wieder muss ein alternder “Held” die Verteidigung übernehmen – doch dieses Mal wird das Ganze zu einem bizarren, streckenweise surrealistisch anmutenden Trip, der mit so ziemlich allem bricht, was das Genre an Konventionen kennt.
Im dritten Band In Viriconium (1982; auch als The Floating Gods (1983), dt. Die Götter der Pastellstadt (1985)) ist dann endgültig Schluss mit einer auch nur ansatzweise abenteuerlichen Handlung, die eigentlich ein fester Bestandteil von so ziemlich jedem Fantasyroman ist. Stattdessen geht es um das Leben in Viriconium, wo in der Oberstadt ein dekadenter Adel feiert und Intrigen spinnt, während in der Unterstadt eine geheimnisvolle Seuche wütet. Der Portraitmaler Ashlyme versucht, die in der Unterstadt lebende Malerin Audsley King – in die er verliebt ist – zu sich in die Oberstadt zu holen, doch er ist ein weit besserer Maler als Planer …
Die Kurzgeschichten in Viriconium Nights (1984), die handlungschronologisch die gesamte Sequenz umspannen, bewegen sich teilweise von Viriconium weg – wenn sie nicht Viriconium selbst “bewegen”, die Stadt in anderen Zusammenhängen (wie beispielsweise unserer Realität) neu verorten.
M. John Harrisons Viriconium-Sequenz als Ganzes könnte man durchaus als die literarische Umsetzung seiner in der Szene keineswegs unumstrittenen Aussagen zur Fantasy – vor allem zum World Building – betrachten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Vage – sehr vage – vergleichbar mit dem, was Samuel R. Delany in Return to Nevèrÿon macht, steht auch hier das Erzählte anfangs mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Genrekonventionen, um diese dann – in The Pastel City noch subtil, in A Storm of Wings radikal – zu brechen. Unabhängig von jeglicher sonstiger Einschätzung ist und bleibt The Pastel City ein nicht nur für Freunde etwas anderer Sword & Sorcery, sondern auch genrehistorisch interessantes Werk. Inwieweit man Gefallen an den anderen beiden Romanen und den Erzählungen finden kann, dürfte stark davon abhängen, wie viel Genre man in seinem Lesestoff braucht. Erwähnenswert ist vielleicht noch, dass es drei Sammelbände mit dem Titel Viriconium gibt (1988, 2000 und 2005), die jeweils unterschiedliche Inhalte* haben. Und dass der deutsche Zeichner Dieter Jüdt eine Comicadaption des Romans In Viriconium geschaffen hat; das Album – bzw. neudeutsch die Graphic Novel – Viriconium (2000) bietet eine überzeugende Umsetzung der eigenwilligen Atmosphäre des Originals und unterscheidet sich daher logischerweise deutlich von dem, was man ansonsten als Fantasycomic in den Regalen des Handels findet.
Neben einigen weiteren Romanen und diversen Erzählungen hat M. John Harrison zusammen mit Jane Johnson unter dem Pseudonym Gabriel King noch eine vierbändige Animal Fantasy um Tag, the Cat verfasst – Einzeltitel: The Wild Road (1997), The Golden Cat (1998), The Knot Garden (2000) und Nonesuch (2002) –, deren erste beide Bände es als Auf geheimen Pfaden (1991) und Die goldene Katze (2001) ebenso nach Deutschland geschafft haben wie die nach der Jahrtausendwende entstandene, aus den Bänden Light (2002), Nova Swing (2006) und Empty Space (2012) bestehende Kefahuchi Tract Trilogy (dt. Licht (2004), Nova (2007) und Raum (nur im Sammelband Licht – Die Trilogie (2014)), die zumindest hierzulande bei so manchem SF-Fan ähnliche Reaktionen hervorgerufen hat wie einst die Geschichten um die Abendkulturen bei vielen Fantasyfans.
*Details zu den Unterschieden werden in einem Kommentar nachgeliefert.
Manchmal ist es ganz hilfreich, wenn man genauer hinschaut, denn meine ursprüngliche Vermutung, dass sich die drei Sammelbände mit dem Titel Viriconium alle voneinander unterscheiden, hat sich denn doch als falsch erwiesen. (Wahrscheinlich habe ich Harrison aufgrund der Tatsache, dass er ein alter Kumpel von Michael Moorcock ist, dessen Elric-Stories ein bibliographischer Alptraum sind, einfach nur das Schlimmste unterstellt. 😉 )
Also … die erste Ausgabe von Viriconium (Unwin Paperback 1988) enthält den Roman In Viriconium und die KG-Sammlung Viriconium Nights. Die beiden Ausgaben von 2000 (Gollancz Fantasy Masterworks) und 2005 (Bantam Spectra) enthalten jeweils alle drei Romane und die KG-Sammlung, unterscheiden sich aber in der Anordnung des Inhalts: Während in der Fantasy-Masterworks-Ausgabe die Stories handlungschronologisch angeordnet sind – d.h der Band beginnt und endet jeweils mit einer Story, und die restlichen sind zwischen den Romanen einsortiert -, kommen im der Bantam-Ausgabe erst die drei Romane und dann die Kurzgeschichten. Alle drei Sammelbände greifen dabei auf die englische Ausgabe der KG-Sammlung (Gollancz 1985, Unwin Paperbacks 1986) zurück.
Ein bisschen chaotischer sieht es bei besagter Kurzgeschichtensammlung aus, denn vor der Gollancz-Ausgabe hat es 1984 bereits eine Ausgabe bei Ace Books gegeben, und in der sind drei Geschichten drin, die in der englischen Ausgabe nicht enthalten sind (dafür fehlen in der Ace-Ausgabe die beiden neuesten Stories der Gollancz-Ausgabe). Bei den Geschichten handelt es es sich um “Lamia Mutable” (erstmals erschienen in Harlan Ellison (Ed.): Again, Dangerous Visions (1972) und als “The Bringer with the Window” in der Harrison-Collection The Machine in Shaft Ten and Other Stories (1975) nachgedruckt), “Events Witnesses From a City” (erstmals erschienen in The Machine in Shaft Ten) und um “In Viriconium”, eine auf Novella-Länge eingedampfte Version des gleichnamigen Romans, die afaik ausschließlich in der Ace-Books-Ausgabe von Viriconium Nights zu finden ist. Die Story “The Lamia and Lord Cromis” ist – wie ein paar andere Geschichten auch – in beiden Ausgaben, wurde aber für die Gollancz-Ausgabe deutlich überarbeitet. Ob das auch noch auf andere Geschichten zutrifft, weiß ich nicht.
Immerhin zwei der Viriconium-Stories haben es auch nach Deutschland geschafft, und zwar ist “Viriconium Knights” als “Ritter des Nachmittags” in Michael Görden (Hrsg.): Das große Buch der Fantasy (1982) enthalten, und “The Lamia and Lord Cromis” als “Das Tier und Lord Gromis” in der Nummer 13 des semiprofessionellen Magazins Magira (1972).
Last but not least kann man sich hier eine Probeseite von Dieter Jüdts Comic-Adaption des dritten Vriconium-Romans ansehen.
Bei “Licht” bin ich damals nicht über Seite 100 gekommen, was aber eher an der holprigen Übersetzung lag, in der zum Beispiel ein “mohawk” nicht als “Iro” sondern als “Mohikaner” übersetzt wurde (es ging um die Punkfrisur). Für den jüngst erschienenen Sammelband wurde die Übersetzung aber von Jakob Schmidt gründlich überarbeitet und Band 3 erstmals übersetzt.
@ Pogo:
Licht habe ich auch abgebrochen, und ich weiß nicht so recht, ob ich da nochmal einen Versuch machen werde, überarbeitete Übersetzung hin oder her. Aber ich habe eh ein etwas … ambivalentes Verhältnis zu Harrison bzw. seinen Werken, von daher fällt es mir nicht schwer, seine neuesten Sachen links liegen zu lassen. Andererseits … wer weiß, vielleicht kriege ich ja mal wieder Lust auf einigermaßen abgefahrene SF … 😉