Bibliotheka Phantastika gratuliert Kai Meyer, der heute 45 Jahre alt wird. Während es bei vielen Autoren und Autorinnen, die wir im Rahmen dieser Artikelreihe der deutschsprachigen Leserschaft nahezubringen versuchen, schwierig ist, an Informationen – und manchmal auch an die Werke, die sie verfasst haben – zu kommen, hat man dieses Problem bei dem am 23. Juli 1969 in Lübeck geborenen Kai Meyer nicht. Im Gegenteil – hier stellt sich eher die Frage, wie man es schaffen kann, das umfangreiche Oeuvre eines Mannes, der seit gut 20 Jahren auf dem deutschen Buchmarkt präsent und überaus erfolgreich ist, in einem vergleichsweise kurzen Blogpost auch nur ansatzweise zu beleuchten. Die Antwort auf obige Frage ist leicht: es geht nicht. Einfach nur um ein paar biografische Daten ergänzt alle Bücher aufzulisten, die Kai Meyer geschrieben hat, wäre reichlich unbefriedigend (vor allem, da es diese Liste auf seiner Homepage gibt), und pars pro toto ein oder zwei Werke herauszuheben und ausführlich vorzustellen, wäre zwar eine Möglichkeit – nur, für welche Werke sollte man sich in diesem Fall entscheiden? Denn den typischen Kai-Meyer-Roman gibt es nicht. Was es allerdings gibt, ist die eine oder andere Besonderheit in Meyers Schaffen, auf die ein wenig näher einzugehen sich in mehrfacher Hinsicht lohnt.
Angefangen hat alles (obwohl – so ganz stimmt das nicht, aber dazu kommen wir gleich) Ende 1993 mit der Veröffentlichung von Der Kreuzworträtsel-Mörder, “der Geschichte eines wahren Kriminalfalls” und damit eines für Meyer untypischen Werks – denn abgesehen von diesem und seinem zweiten Roman Schweigenetz (1994) hat er eigentlich ausschließlich phantastische Romane geschrieben. Das macht seinen andauernden Erfolg in einem Land, in dem die Phantastik trotz einer beachtlichen Ahnenreihe zumindest von der Literaturkritik immer noch gerne mit einem Naserümpfen bedacht wird, noch beeindruckender. Ebenso beeindruckend ist, dass Kai Meyer sich seiner Wurzeln nie geschämt hat, denn wirklich angefangen hat er im Alter von gerade mal 20 Jahren als Autor von Heftromanen für die Krimiserie Jerry Cotton und die Soft-Gruselreihe Mitternachts-Roman (auch wenn das nur eine kurze, auf die Anfangszeit seines Schaffens beschränkte Episode geblieben ist). Zwei seiner Mitternachts-Romane wurden 1998 als signierte und numerierte Sammlerausgabe unter dem Titel Giebelschatten wieder aufgelegt und bieten einen Blick auf das Frühwerk eines Autors, dessen Buchveröffentlichungen sich natürlich ganz anders lesen.
Meyers erster phantastischer Roman in Buchform war Die Geisterseher (1995), und in ihm macht er etwas, das in der angloamerikanischen phantastischen Literatur weit verbreitet, im deutschen Sprachraum aber eher verpönt ist, und das ein Charakteristikum seiner Romane bis etwa um die Jahrtausendwende werden sollte: er greift auf die reiche deutsche Kulturtraditon (bzw. gelegentlich auch auf die europäische) zurück, verwendet reale historische Personen und Ereignisse und manchmal auch Legenden und verquickt sie mit phantastischen Elementen. In Die Geisterseher und der Fortsetzung Die Winterprinzessin (1997) sind es die Gebrüder Grimm, die – im Auftrag Schillers unterwegs, um Goethe dessen Vermächtnis zu überbringen – in die Jagd nach der Formel für den “Stein der Weisen” geraten bzw. in die Verschwörung eines okkultistischen Zirkels verwickelt werden, während in der aus den Bänden Der Engelspakt, Der Traumvater (beide 1996) und Die Engelskrieger (2000) bestehenden Doktor-Faustus-Trilogie der Wunderheiler, Alchemist, Astrologe etc.pp. Johann Georg Faust(us) bzw. dessen Adlatus Christof Wagner im Mittelpunkt steht, und Das Gelübde (1998) ein etwas anderes Bild des Dichters Clemens Brentano präsentiert.
Die Sage um den Rattenfänger von Hameln bildet die Grundlage für Der Rattenzauber (1995), während Der Schattenesser (1996) sich der Legende vom Golem bedient (und u.a. auch der Baba Jaga einen Auftritt gewährt). Ebenfalls in der deutschen Geschichte verwurzelt sind Göttin der Wüste (1999) – ein Roman, in dem eine junge deutsche Gouvernante Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutsch-Südwestafrika mit afrikanischen Mythen und schrecklichen Geheimnissen konfrontiert wird – und Das zweite Gesicht (2002), ein Roman, in dem Kai Meyers Liebe für das Kino bzw. in diesem Fall den deutschen Stummfilm der 1920er Jahre spürbar wird.
Last but not least haben auch seine Fantasyromane aus dieser Zeit einen spezifisch deutschen Hintergrund. Das gilt sowohl für die von ihm konzipierte Reihe Die Nibelungen, zu der er den ersten Band Der Rabengott (1997) unter seinem richtigen Namen sowie drei weitere unter dem Pseudonym Alexander Nix beigesteuert hat, als auch für den ebenfalls zuerst unter dem Nix-Pseudonym erschienenen Roman Loreley (1998).
Natürlich gibt es auch andere Einflüsse in Meyers Werk, denn auch wenn Aura Institoris, die Hauptfigur in Die Alchimistin (1998; rev. 2011), einen geschichtsträchtigen Namen trägt, steht die mittlerweile mit Die Unsterbliche (2001; rev. 2011) und Die Gebannte (2012) fortgesetzte phantastische Saga um die Familie Institoris ganz eindeutig in der Tradition der klassischen gothic novel (was man z.B. auch für Das Haus des Dädalus (2000; auch als Die Vatikan-Verschwörung (2005)) sagen könnte). Es ist allerdings sehr gut denkbar, dass die “Verankerung” in deutscher Geschichte und Tradition, die sich in etlichen seiner frühen Romane finden lässt, Meyer eine solide Basis geboten hat, auf der er seine phantastischen Ideen (die in seinen Jugendbüchern ab der Merle-Trilogie (2001-2002) zumindest vordergründig wesentlich spektakulärer wurden als in seinen Romanen für Erwachsene) aufsetzen und sich entwickeln lassen konnte.
Kai Meyers bereits erwähnte Liebe zum Kino hat nicht nur in Das zweite Gesicht (wo sie ja quasi zum Thema gemacht wurde) ihre Spuren hinterlassen, sondern auch in einigen anderen seiner frühen Werke, und die Arkadien-Trilogie (Arkadien erwacht (2009), Arkadien brennt (2010) und Arkadien fällt (2011)) ist laut eigener Aussage von den Motiven und der Ästhetik des italienischen Horrorfilms beeinflusst (wobei man natürlich nie vergessen sollte, dass ein Roman normalerweise auf einem Konglomerat von Ideen und Inspirationen beruht, die erst durch die spezifische Ausarbeitung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin zu etwas Neuem, Eigenem werden und ihre Wirkung entfalten). Selbst in der Trilogie Die Sturmkönige – dem aus den Bänden Dschinnland (2008), Wunschkrieg und Glutsand (beide 2009) bestehenden einzigen Fantasy-Zyklus für Erwachsene, den Kai Meyer geschrieben hat – gibt es Szenen, die Assoziationen an Ray Harryhausens Sindbad-Filme oder den 40er-Jahre-Klassiker Der Dieb von Bagdad aufsteigen lassen.
Um das Ganze nicht doch zu einer Auflistung seiner Werke gerinnen zu lassen, sei nur noch angemerkt, dass Kai Meyer nicht nur gerne und freimütig über die Werke und Künstler redet, die ihn beeindruckt und beeinflusst haben, sondern auch keinerlei Berührungsängste zum in Deutschland nur begrenzt (bzw. wenn, dann vor allem als Graphic Novel) wohlgelittenen Medium Comic hat. Und das nicht erst, seit mehrere seiner Werke als Comic adaptiert wurden (mit deren Adaption er sich übrigens sehr zufrieden zeigt), denn bereits 2001 hat er zusammen mit dem Zeichner Dieter Jüdt (der auch den Roman Das Gelübde illustriert hat) unter dem Titel Engel: Pandoramicum ein Comic-Album zum Rollenspiel Die Chroniken der Engel geschaffen.
Es ließe sich gewiss noch so manches über Kai Meyer und seine Romane (die längst nicht alle erwähnt wurden) sagen, aber wer Genaueres zu dem einen oder anderen Titel wissen will, findet im Netz mehr als genug Möglichkeiten, sich zu informieren. Deshalb bleibt an dieser Stelle nur noch eins: Herzlichen Glückwunsch, Kai! Und weiterhin viel Erfolg!
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Den Glückwünschen schließe ich mich an und möchte an dieser Stelle auch einmal erwähnen, wie gern ich diese sorgfältig recherchierte und unterhaltsam geschriebene Artikelreihe lese. Ich habe schon tolle Autoren/innen auf diese Weise entdeckt und empfinde die Reihe auch als ein Gegengewicht zum sehr schnelllebigen Markt. Danke!
@ greiff:
Danke – auch im Namen des Teams – für die freundlichen Worte.
Ich bin zwar gerade ein bisschen unglücklich angesichts der derzeitigen Monokultur, aber gerade bei diesen Beiträgen können wir uns halt nicht aussuchen, wann wir sie veröffentlichen. Natürlich könnte man den einen Autor oder die andere Autorin weglassen – das tun wir ja gelegentlich, manchmal Umständen wie Zeitmangel o.ä. geschuldet, manchmal auch ganz bewusst – aber da die Idee hinter dieser Reihe ja wirklich die war und ist, die Bandbreite des Genres anhand all dessen aufzuzeigen, was es alles schon gegeben hat bzw. immer noch gibt, auch wenn es nicht auf den Stapeltischen ausliegt, ist das mit dem Weglassen nicht immer die beste Lösung.
Es freut mich/uns natürlich immer, wenn unsere Leser und Leserinnen auf diese Weise Bücher entdecken, die ihnen dann auch wirklich Spaß machen.
Und alle, die diese Beiträge eher nicht so interessant finden, kann ich beruhigen: in den nächsten Monaten wird’s weniger werden bzw. wieder mehr Rezensionen und ähnliche Dinge geben. Der Juli war in dieser Hinsicht dieses Jahr schon extrem (vor allem, wenn man bedenkt, dass wir noch ein paar Geburtstage weggelassen haben ;)).