Zum 50. Geburtstag von Yves Meynard

Bibliotheka Phantastika gratuliert Yves Meynard, der heute 50 Jahre alt wird. Der am 13. Juni 1964 in Québec, der Haupstadt der gleichnamigen kanadischen Provinz geborene Yves Meynard gilt als einer der wichtigsten Vertreter der neuen Generation frankokanadischer SF- und Fantasy-Autoren und wurde für seine Erzählungen und Romane in französischer Sprache bereits mehrfach mit den Preisen der frankokanadischen SF- und Fantasy-Szene wie dem Prix Aurora, dem Prix Boréal und 1994 auch einmal mit dem Grand Prix de la Science-Fiction et du Fantastique Québécois ausgezeichnet. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen schreibt Meynard allerdings nicht ausschließlich auf Französisch, sondern verfasst gelegentlich – oder, wie viele Leser meinen: viel zu selten – auch Geschichten und Romane auf Englisch. Der Löwenanteil seines Schaffens liegt jedoch nur in französischer Sprache vor: knapp drei Dutzend Geschichten auf Französisch stehen ein gutes Dutzend auf Englisch gegenüber, und bei den Romanen sieht das Verhältnis mit dreizehn zu zwei noch extremer aus. Während sich unter den dreizehn Romanen in französischer Sprache mehrere Jugendbücher finden lassen, richten sich The Book of Knights und Chrysanthe eindeutig an ein erwachsenes Publikum.
The Book of Knights (1998) ist nicht nur der Titel von Yves Meynards erstem Roman auf Englisch, sondern auch der eines Buches, das in diesem Roman eine bedeutende Rolle spielt. Denn als der junge Adelrune – ein Findelkind – es auf The Book of Knights von Yves Meynarddem staubigen Dachboden des Hauses seiner Stiefeltern findet, ist es für ihn wie ein Fenster zu einer anderen Welt – einer Welt, die sehr viel großartiger und bunter zu sein verspricht als seine unmittelbare Umgebung, das Dorf Faudace, in dem er genau wie alle anderen nach den strengen Regeln der Rule – eines rigiden Glaubenssystems – lebt. Fast zwangsläufig fasst Adelrune den Entschluss, der Enge von Faudace zu entfliehen und selbst ein Ritter zu werden, Ruhm und Ehre zu gewinnen und fantastische Abenteuer zu erleben. Und nach einem denkwürdigen Erlebnis im einzigen Spielwarenladen des Dorfes setzt er seinen Entschluss in die Tat um und macht sich auf die Suche nach Riander, der laut dem Book of Knights Ritter ausbildet. Adelrunes Suche erweist sich als erfolgreich – doch so richtig beginnen seine Abenteuer erst, als er seine Ausbildung beendet hat und sich in die weite Welt aufmacht … Oberflächlich betrachtet, ist The Book of Knights ein Entwicklungsroman im Gewand eines märchenhaften Fantasyromans, dessen Sprach- und Erzählduktus mehr an die europäische Märchen- und Sagentradition erinnert als an zeitgenössische Fantasy. Doch unter der schlichten Oberfläche geht es um einige zentrale Fragen unserer menschlichen Existenz, etwa darum, was aus unseren jugendlichen Träumen wird, wenn wir erwachsen werden, oder auch darum, ob es sinnvoll ist, sein Leben nach gewissen Regeln zu führen – und ob man diese Regeln hinterfragen darf. Unabhängig davon ist The Book of Knights mit seinem anfangs blauäugigen jugendlichen Helden, den großen und kleinen Abenteuern, die er erlebt und an denen er wächst, und seinem die Geschichte perfekt abrundenden Ende einfach ein wundervolles Buch, das eigentlich all denen, die z.B. die Werke einer Patricia McKillip lieben, gefallen müsste.
Es dauerte vierzehn Jahre, bis Yves Meynard mit Chrysanthe (2012) seinen zweiten Roman auf Englisch vorlegte. Wesentlich umfangreicher als sein Vorgänger (der Roman war dem Vernehmen nach ursprünglich als Trilogie geplant) beginnt Chrysanthe im Hier und Heute – allerdings einem Hier und Heute, das sich auf subtile Weise von unserer Gegenwart unterscheidet. Was kein Wunder ist, denn Christine, die Hauptfigur des Romans, lebt in einer “gemachten” Welt; in Wirklichkeit ist sie die Tochter von Edisthen, dem – zumindest seiner Meinung nach (und er hat gute Gründe für seine Meinung) – rechtmäßigen Herrscher der einzig wahren titelgebenden Welt. Ist es ein Wunder, dass Christine, ein ganz normaler Teenager mit für ein Mädchen im Teenageralter ganz normalen Wünschen und Sehnsüchten, diese Geschichte, die ihr ein schwarz gekleideter junger Mann namens Quentin erzählt, der noch nicht einmal mit einem Telefon umgehen kann, anfangs nicht glaubt? Vor allem, da Chrysanthe von Yves MeynardChrysanthe eine “magische” Welt sein soll, auf der Magie funktioniert und das Wirken von God the Mother spürbar und erlebbar ist? Doch nachdem Christine mit Quentin durch ein Portal gegangen und auf Chrysanthe – einer wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes magischen Welt – angekommen ist, bleibt ihr nicht mehr viel Zeit für Skepsis, denn sie wird in den Konflikt zwischen ihrem Vater und den Söhnen des vorherigen Königs hineingezogen – den gleichen Konflikt, der vor zehn Jahren dazu geführt hat, dass sie von den Feinden ihres Vaters entführt und auf einer gemachten Welt versteckt wurde … Das Konzept von Parallel- oder Alternativwelten ist in SF & Fantasy weit verbreitet, Meynards Konzept in Chrysanthe ähnelt aber vor allem dem in Roger Zelaznys Amber-Zyklus. Davon einmal abgesehen hat er mit Chrysanthe, der einzig wahren Welt, ein faszinierendes Setting geschaffen, das die phantastischen Möglichkeiten der Fantasy ziemlich weit auslotet und eine beeindruckende Bühne für interessante, durchweg gelungene Figuren und ihren Kampf um die Macht bietet. (Es bliebe allerdings anzumerken, dass Meynards auch stilistisch überzeugender Roman mit einem wichtigen Plotelement aufwartet, das vor allem in dieser Hinsicht sensibilisierten Leserinnen Bauchschmerzen oder Schlimmeres bereiten könnte. Um niemanden zu spoilern, soll der Hinweis genügen, dass es dabei um sich als falsch erweisende Erinnerungen darüber geht, was der Hauptfigur in ihrer Kindheit angetan wurde bzw. um die Schlüsse, die man aus dem Umgang mit diesem Thema im Roman für den Umgang damit in unserer Realität zieht.)
Yves Meynards bisher zwei in englischer Sprache verfassten Romane sind einerseits so unterschiedlich, andererseits jeder für sich so interessant und originell, dass man wirklich bedauern kann, dass er nicht öfters auf Englisch schreibt. Immerhin hat die englischsprachige SF&F-Community diese beiden Romane (und ein gutes Dutzend Geschichten) und ist damit viel besser dran als rein deutschsprachige Leser und Leserinnen. Die dürften allenfalls über den Namen Yves Meynard gestolpert sein, wenn sie Gene Wolfes Mythgarthr-Zweiteiler gelesen haben, denn dessen erster Band Der Ritter ist Yves Meynard und seinem Book of Knights gewidmet. Warum wohl?

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