Bibliotheka Phantastika gratuliert Walter Jon Williams, der heute 60 Jahre alt wird. Der am 15. Oktober 1953 in Duluth, Minnesota, USA geborene Schriftsteller lässt sich nicht leicht eine Genre-Kategorie überstülpen, im Kerngebiet der Fantasy ist er jedoch keinesfalls zu Hause. Allerdings hat er einige Romane geschrieben, die in einer sehr fernen und fremden Zukunft angesiedelt sind und die durchaus Fantasy-Elemente aufweisen oder in ihrer Atmosphäre dem Genre zumindest nahestehen.
Williams’ Karriere begann mit einer Reihe Marinehistorischer Romane (Privateers and Gentlemen, 1981-84). Nach einem Wechsel in die SF tischte er seinen Lesern und Leserinnen die verschiedensten Settings auf, deren kleinster gemeinsamer Nenner vielleicht am ehesten die Tatsache ist, dass Williams gerne mit großen Ideen arbeitet und seine Welten häufig auf bestimmten Prämissen errichtet, deren Implikationen er dann ergründet. Dabei kann sowohl Cyberpunk herauskommen, wie etwa in der Hardwired-Reihe, Space Opera in eher militaristischer Ausprägung (in der Dread Empire’s Fall-Trilogie) oder als Gentleman-Ganovenstück (in der Drake Maijstral-Reihe), oder eben SF, deren Technik sich wie Magie anfühlt und die Williams selbst als Fantasy sieht:
Metropolitan (1995; dt. Plasma City (2002)) und City on Fire (1997) sind dabei genau betrachtet tatsächlich Urban Fantasies im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Schauplatz der beiden Romane (zu denen sich nach dem Willen des Autors noch ein dritter gesellen sollte, der aber aufgrund gewisser Umstände bisher nicht erschienen ist) ist eine die ganze Welt umspannende Stadt, die unter einem undurchdringlichen, Licht und Wärme spendenden Schutzschirm liegt. Sonne, Mond und Sterne, Tag und Nacht sind nur noch Legenden; an ihre Stelle ist der gleißende Schutzschirm getreten, den die Götter bei ihrem Aufstieg zurückgelassen haben. Die Weltstadt besteht aus unzähligen metropolises aka Metropolen, die mehr oder weniger Staaten und Nationen entsprechen, und in denen sich alle denkbaren politischen Systeme finden lassen. Dass das ganze Gebilde überhaupt existieren kann, hängt mit einem Stoff namens plasm bzw. Plasma zusammen, der unter bestimmten Voraussetzungen entsteht und mit dem man willentlich buchstäblich alles machen kann: Materie erschaffen und verändern, Verletzungen und Krankheiten heilen, Zellen verjüngen, die Sinne erweitern, Illusionen erzeugen – und Menschen töten. Kein Wunder, dass die Regierungen der einzelnen Metropolen die Plasmaquellen in ihrem Gebiet kontrollieren, denn wer über Plasma gebietet, verfügt über Macht. Als Aiah, eine unbedeutende städtische Angestellte in der Metropole Jaspeer, zufällig über eine enorme Plasmaquelle stolpert, teilt sie diese Entdeckung nicht ihrer Regierung mit, sondern sucht die Hilfe eines erfahrenen Mage (so werden die Menschen genannt, die ungefährdet mit Plasma hantieren können), um selbst den richtigen Umgang mit dem magischen Stoff zu lernen. Doch da Constantine, besagter Magier, schon lange revolutionäre Gedanken wälzt und nun die Mittel vor sich sieht, seine Ideen in die Tat umzusetzen, setzt Aiah damit eine Entwicklung in Gang, von der zunächst nicht klar ist, wohin sie führen wird …
Williams schildert den Moloch Stadt mit all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen auf überaus drastische, aber treffende Weise, und die Geschichte Aiahs und ihres Aufstiegs von fast ganz unten in eine Position, in der sie aufgrund ihrer Plasmaquelle das Schicksal einer Metropole zumindest mitbestimmen kann, ist letztlich in mehrfacher Hinsicht die Geschichte einer Emanzipation, was Metropolitan und City on Fire nicht nur zu im Hinblick auf ihr Setting ungewöhnlichen, sondern auch überaus politischen Fantasyromanen macht (und es doppelt bedauerlich erscheinen lässt, dass der dritte Band der Sequenz bis heute nicht erschienen ist).
In anderen sehr weit entwickelten Szenarien geht Walter Jon Williams der Überlegung nach, welche Fragen die Menschheit beantworten muss, wenn ihre drängenden Probleme durch eine positive Technik-Entwicklung gelöst sind. In Aristoi (1992, dt. 1996) sind das die gesellschaftlichen Begleiterscheinungen einer nahezu gottgleichen Herrscherkaste, in der bei aller Allmacht immer noch menschliche Triebe und Regungen schlummern, in Implied Spaces (2008) die Gefahren einer Zivilisation, die ihre Umwelt wie ein Sandkastenmodell gestalten kann, so dass dieser Roman auch mit einigen Fantasy-Szenarios und einer Fülle von Genre-Anspielungen aufwartet.
Williams’ jüngste Romane rund um die Spiele-Designerin Dagmar Shaw sind deutlich näher an der Gegenwart orientiert und handeln vom Zusammenwirken von Social Media, Online-Games und politischen Machenschaften, was bald nach Erscheinen des ersten Bandes This is Not a Game (2009, dt. Off (2009)) zum Teil von den Ereignissen des Arabischen Frühlings eingeholt wurde.
Der große Erfolg war Walter Jon Williams, der übrigens auch ein versierter Kurzgeschichten-Autor ist, bisher nicht beschieden, was vielleicht auch an der Vielseitigkeit liegen mag, die er an den Tag legt, wenn er munter zwischen den Genres springt, manchmal sogar innerhalb eines Romans, und dabei das ein oder andere stilistische Experiment wagt. Schade ist dabei auch, dass in der deutschen Übersetzung einige seiner Reihen abgebrochen wurden, während im Original inzwischen beinahe Williams’ gesamte Backlist in eBook-Form vorliegt; es bleibt zu hoffen, dass durch diese Möglichkeit auch in Zukunft noch manch große Idee das Licht der Welt erblickt – vielleicht sogar der angedachte dritte Metropolitan-Band mit dem (vorläufigen) Titel Heaven in Flames.
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So, ich hab ein bisschen das Gefühl, mal wieder was verpasst zu haben, oder wie jetzt? 😉
Das mit der Stadt erinnert so ein bisschen an die ganzen Dystopie-Filme der 80er Jahre…