Bibliotheka Phantastika gratuliert George R.R. Martin, der heute 65 Jahre alt wird. Im Gegensatz zu so manch anderen Autoren und Autorinnen, denen wir an dieser Stelle zum Geburtstag gratuliert oder an die bzw. deren Werk wir erinnert haben, dürfte der am 20. September 1948 in Bayonne, New Jersey, geborene George Raymond Richard Martin auch hier in Deutschland spätestens seit der Ausstrahlung der TV-Serie Game of Thrones nicht nur der Fantasyleserschaft, sondern auch ansonsten nicht primär an Fantasy interessierten Lesern und Leserinnen ein Begriff sein. Da es außerdem über den der TV-Serie zugrundeliegenden Fantasyzyklus mit dem klangvollen Titel A Song of Ice and Fire bzw. Das Lied von Eis und Feuer mehr als genug Material im Internet zu finden gibt, haben wir uns entgegen unserer sonstigen Vorgehensweise entschlossen, in diesem Fall nicht Martins Fantasy, sondern seine anderen Werke in den Mittelpunkt einer kurzen, zwangsläufig kursorischen Betrachtung zu stellen. Denn schon lange bevor GRRM sich mit A Game of Thrones, dem ersten ASoIaF-Band, ernsthaft der Fantasy zuwandte, hatte er sich mit etlichen hervorragenden, größtenteils der SF zuzurechnenden Erzählungen (und ein paar Romanen) einen Namen gemacht und galt zeitweise als eine der größten Hoffnungen des Genres.
George R.R. Martins erste professionelle Veröffentlichung war “The Hero”* (1971) in der Februar-Ausgabe des SF-Magazins Galaxy. Diese und eine ganze Reihe weiterer kurzer und längerer, teils preisgekrönter Geschichten – wie etwa “With Morning Comes Mistfall” (1973), “A Song for Lya” (1974), “And Seven Times Never Kill Man” (1975), “The Stone City” (1977), “Sandkings” (1979) oder “Nightflyers” (1980), um nur die herausragendsten zu nennen – spielen vor einem gemeinsamen Hintergrund, einer nie genauer definierten, als The Thousand Worlds oder auch The Manrealm bezeichneten Future History. Ebenfalls Teil dieser Future History ist Dying of the Light (1977; dt. Die Flamme erlischt (1978)), Martins erster Roman. Er erzählt die Geschichte Dirk t’Lariens, der eine Nachricht seiner ehemaligen Geliebten Gwen erhält und nach Worlorn reist, einem einsamen Planeten am Rand des besiedelten Bereichs der Galaxis. Worlorn ist ein Irrläufer, der sonnenlos durchs All torkelt; als er kurzfristig in den Einflussbereich einer Sonne gerät, nutzen ihn die Zivilisationen des Randes, um dort ein Festival abzuhalten. Doch als Dirk nach Worlorn kommt, ist der Planet schon längst wieder verlassen. Nur die Städte sind geblieben, die für das Festival gebaut wurden, und sie und der Planet selbst bilden die Kulisse für eine Geschichte, die sich um Liebe und Ehre, um Selbstlügen und kulturelle Zwänge dreht, denn die Gwen von heute ist nicht mehr die Gwen, an die Dirk sich erinnert, und ihre Beziehung zu zwei Männern von High Kavalaar, einer Welt, deren Kultur von einem rigiden Ehrenkodex dominiert wird, ist nur eines der Probleme, denen Dirk t’Larien sich gegenübersieht. Trotz mancher Schwächen ist Dying of the Light ein wunderbarer, atmosphärischer romantischer Roman, in dem das Setting eine beinahe ebenso große (und ebenso überzeugende) Rolle spielt wie die Figuren, und in dem der Einfluss des von Martin bewunderten Jack Vance deutlich spürbar ist.
Auch die zuerst fast ausschließlich in Analog erschienenen und schließlich unter dem Titel Tuf Voyaging (1986; dt. Planetenwanderer (2013)) gesammelten Geschichten um den exzentrischen kahlköpfigen Albino und Sonderling Haviland Tuf gehören ins Universum der Thousand Worlds und weisen deutliche Jack-Vance-Einflüsse auf. Tuf, der durch Zufall an eine Arche (ein Saatschiff des längst vergessenen und vergangenen Ecological Engineering Corps der alten Erde) gerät, nutzt die schier unglaublichen Möglichkeiten des Schiffs, um ein bisschen Gott zu spielen, wenn man ihn darum bittet. Wobei allerdings immer wieder deutlich wird, dass man sich seine Wünsche – und vor allem die Konsequenzen, die ihre Erfüllung haben können – gut überlegen sollte.
Natürlich hat George R.R. Martin auch Geschichten geschrieben, die nichts mit seiner Future History zu tun haben, erwähnt seien an dieser Stelle nur “The Second Kind of Loneliness” (1972) oder der Hugo und Locus-Award-Gewinner “The Way of Cross and Dragon” (1979) – die man nebenbei bemerkt HIER online lesen kann – oder auch die deutliche Horror-Einflüsse aufweisenden “Meathouse Man” (1976), “Remembering Melody” (1981) oder “The Monkey Treatment” (1983). Und er hat sich bereits zu diesem Zeitpunkt an Fantasy versucht: “The Lonely Songs of Laren Dorr” (1976 – eine Geschichte um ein zwischen den Welten reisendes junges Mädchen, das mit allerlei Widrigkeiten fertig werden muss), “The Ice Dragon” (1980 – eine Geschichte, in der sich bereits viele Elemente von ASoIaF finden lassen) und “In the Lost Lands” (1982 – eine ziemlich böse, märchenhafte Geschichte) beweisen, dass er schon damals ein gutes Händchen für Fantasy hatte.
Doch im Großen und Ganzen ist er in den 70ern und frühen 80ern hauptsächlich der SF treu geblieben und hat zusammen mit Lisa Tuttle seinen zweiten Roman Windhaven (1981; dt. Sturm über Windhaven (1985)) verfasst. Auf Windhaven, einer von gestrandeten Raumfahrern besiedelten, fast vollkommen von Ozeanen bedeckten Welt, wird die Kommunikation von den sogenannten Fliegern – das sind Menschen, die die mit einfachen Gleitflugapparaturen durch die strürmische Atmosphäre Windhavens (nomen es omen) von einem Inselchen zum anderen fliegen – aufrechterhalten. Doch es ist schwierig, in die Gilde dieser Flieger hineinzukommen, wenn man zu den verachteten Muschelsuchern gehört, wie die junge Maris feststellen muss … Windhaven ist ein netter Abenteuerroman, aber von GRRMs längeren Arbeiten sicher sein schwächstes Werk.
Vor allem verglichen mit Fevre Dream (1982; dt. Fiebertraum (1991) oder auch Dead Man River (2006)) und The Armageddon Rag (1983; dt. Armageddon-Rock (1986)), den beiden Romanen, die er kurz danach veröffentlichte. Fevre Dream ist ein Vampirroman, der im 19. Jahrhundert größtenteils auf dem Mississippi bzw. an Bord des Schaufelraddampfers Fevre Dream spielt und – verkürzt dargestellt – den Kampf zweier rivalisierender Vampirclan-Oberhäupter schildert. Der Roman lebt einerseits von seiner eigentlichen Hauptfigur, dem Raddampferkapitän Abner Marsh, für den sich mit dem Bau der Fevre Dream ein Lebenstraum erfüllt (der leider alsbald zum Alptraum wird), andererseits von der schwülen Südstaatenatmosphäre und der Darstellung des Lebens auf dem Fluss, und last but not least von den beiden sehr gegensätzliche Ziele verfolgendenden und sehr unterschiedlich mit den Menschen umgehenden Obervampiren (die nicht glitzern). All das macht Fevre Dream zu einem der wenigen Vampirromane, die man wirklich gelesen haben sollte.
The Armageddon Rag schließlich ist vordergründig ein Krimi mit mal mehr, mal weniger starken phantastischen Untertönen, vor allem aber ist er eine Art Meditation über die Rockmusik der 60er und die mit ihr verbundene Ära. Vielleicht muss man – wie der Verfasser dieser Zeilen – in seiner Jugend auch von Konzert zu Konzert gereist sein, muss die Magie gespürt haben, die entstehen konnte, wenn Tausende von Gleichgesinnten von den Tönen und Melodien, die von der Bühne da oben kamen, getragen wurden – wohin auch immer. Wer das jemals erlebt hat, für den wird die Geschichte des ehemaligen Hippie-Journalisten Sandy Blair, der sich anlässlich der Ermordung eines Rockpromoters auf die Suche nach den ehemaligen Mitgliedern der vor zehn Jahren auseinandergegangenen Band Nazgûl begibt, die zu einer Begegnung mit seiner eigenen Vergangenheit (und den mit ihr verbundenen Träumen) wird, eine ganze Menge bereithalten. Und das bezieht sich nicht nur auf den anscheinend auf mysteriöse Weise wiedergeborenen Ex-Leadsänger der Nazgûl, sondern auch auf Konzertbeschreibungen und die Vermittlung eines Lebensgefühls, das inzwischen längst Vergangenheit ist. Bedauerlicherweise war The Armageddon Rag – das Buch, das eigentlich Martins Breakthrough Book werden sollte – ein gigantischer Flop, der seine Karriere als Romanautor mehr oder weniger zerstört hat. Zumindest dreizehn Jahre lang.
Über die bereits genannten Werke hinaus – zu denen noch die bisher nicht erwähnten Kurzgeschichtensammlungen A Song for Lya and Other Stories (1976), Songs of Stars and Shadows (1977), Sandkings (1981), Songs the Dead Men Sing (1983), Nightflyers (1985), Portraits of His Children (1987), Quartet (2001), Dreamsongs (2003, auch in zwei Bänden als Vol. I und II (2006) erschienen) und Starlady and Fast-Friend (2008) zu zählen sind – hat George R.R. Martin noch etliche weitere Stories verfasst sowie ab 1987 (mit Unterbrechungen) mittlerweile mehr als 20 Bände der Shared-World-Serie Wild Cards herausgegeben und Geschichten zu ihr beigesteuert (Wild Cards spielt auf einer Parallelwelt, auf der es Menschen mit Superkräften gibt). Außerdem hat er seine alte Leidenschaft als Herausgeber von Anthologien wiederentdeckt (er war in dieser Hinsicht schon in den 70ern aktiv) und zusammen mit Gardner Dozois mehrere Anthologien herausgegeben. Pars pro toto sei die vielleicht interessanteste der bisher erschienen genannt: Songs of the Dying Earth: Stories in Honor of Jack Vance (2009).
Der George R.R. Martin der 70er und frühen 80er Jahre ist nur begrenzt mit dem Autor von ASoIaF zu vergleichen. Das sollten vor allem die Leser und Leserinnen bedenken, die ihn bisher nur durch seinen Fantasy-Zyklus kennengelernt haben. Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deswegen) kann sich ein Blick in die Werke, die GRRM vor dem Lied geschaffen hat, als überaus lohnend erweisen.
* – aus Übersichtlichkeitsgründen wurde bei den Kurzgeschichten und Sammelbänden auf die Nennung der deutschen Titel verzichtet; bei Bedarf kann das in einem Kommentar aber nachgeholt werden
Interessant, dass hier Windhaven als schwächster Roman gilt. Ich fand ihn deutlich besser als “Die Flamme erlischt”. Liegt aber wohl eher daran, dass ich Dirk t’Larien nicht wirklich mochte, die Fliegerin dagegen sehr! 😉
Von mir noch nachträglich: Happy Birthday, GRRM! 😀
@ Elric:
Dirk t’Larien ist sicher einer der Schwachpunkte von “Die Flamme erlischt” – aber immerhin wird sogar er am Ende erwachsen. 😉 (Und gerade das Ende finde ich nebenbei bemerkt großartig.)
Ansonsten … je, nu, ich bin ja nicht objektiv. Und mir persönlich hat “Die Flamme erlischt” einerseits wegen des Settings, andererseits wegen des nur angedeuteten großen Hintergrunds und nicht zuletzt wegen der Jungs von Hoch Kavalaar – so schräg sie auch sein mögen – nunmal deutlich besser gefallen als “Windhaven”. Dass der Roman ein paar Probleme im Pacing und der einen oder anderen Figurenzeichnung hat, würde ich nie bestreiten. Trotzdem – “Windhaven” ist letztlich eine relativ normale Coming-of-Age-Geschichte, wohingegen eine der Hauptfiguren von “Die Flamme erlischt” sich eigentlich ziemlich lange weigert, erwachsen zu werden, um schließlich doch noch die Kurve zu kriegen. (Aber wie gesagt, interessanter sind für mich eh die anderen Komponenten.) Und die Stimmung, die der Roman vermittelt – dieses Leben in einer langen Dämmerung, die unausweichlich in einer endlosen Nacht enden wird -, hat mich viel mehr angesprochen als alles, was in “Windhaven” passiert.
Aber letztlich ist das alles natürlich wirklich auch Geschmackssache. :nixweiss: