Zum 55. Geburtstag von Neil Gaiman

Bibliotheka Phantastika gratuliert Neil Gaiman, der heute 55 Jahre alt wird. Im Gegensatz zu manch anderem Autor bzw. manch anderer Autorin, die anlässlich ihres Geburtstags hier einen Blogeintrag bekommen, dürfte der am 10. November 1960 in Portchester in der südenglischen Grafschaft Hampshire geborene Neil Richard Gaiman den meisten unserer Leser und Leserinnen zumindest als Romancier und Kurzgeschichtenautor bekannt sein.
The Sandman: Preludes & Nocturnes von Neil GaimanUnd genau deshalb – oder, ein bisschen anders gesagt: weil Neil Gaiman einerseits nicht zuletzt im Internet ungemein präsent und andererseits sein Œuvre viel zu umfangreich und vielfältig ist, um ihm im Rahmen eines unserer üblichen Geburtstagspostings gerecht zu werden – wollen wir heute nur einen (aus einer Reihe von Gründen sehr kursorischen) Blick auf sein Frühwerk bzw. seine Karriere als Comicautor werfen und seine Romane – angefangen von dem mit Terry Pratchett zusammen verfassten Good Omens (1990; dt. Ein gutes Omen (1991)) bis hin zu The Ocean at the End of the Lane (2013; dt. Der Ozean am Ende der Straße (2014)) – außen vor lassen.
Neil Gaimans erste Story erschien unter dem Titel “Featherquest” 1984 in der Maiausgabe des Rollenspielmagazins Imagine; zu dieser Zeit war er noch hauptsächlich journalistisch tätig, und daher war seine erste Buchveröffentlichung auch folgerichtig ein Sachbuch, nämlich Duran Duran (1984), eine Biographie der gleichnamigen Popgruppe. Aber schon mit seinem zweiten Sachbuch Ghastly Beyond Belief: The Science Fiction and Fantasy Book of Quotations (1985), einer gemeinsam mit Kim Newman verfassten Sammlung von (größtenteils unfreiwillig lustigen) Zitaten aus SF-, Fantasy- und Horror-Filmen und -Büchern, befand er sich mitten im Genre, und das Gleiche gilt für Don’t Panic: The Official Hitchhiker’s Guide to the Galaxy Companion (1988; dt. Keine Panik – Mit Douglas Adams durch die Galaxis (1990)).
Nachdem ihm 1984 eine Ausgabe der von Alan Moore geschriebenen Comicserie Swamp Thing in die Hände gefallen war, begann Gaiman – der seit seiner Kindheit ein begeisterter SF- und Fantasyleser war – Comics zu sammeln und zu lesen, und schon bald erwachte in ihm der Wunsch, die Möglichkeiten dieses Mediums zu nutzen, um eigene Geschichten zu erzählen – ein Wunsch, den er 1987 mit der Veröffentlichung der von seinem langjährigen Freund Dave McKean gezeichneten graphic novel Violent Cases (dt. Violent Cases (1994), Neuübersetzung als Veilchenblau (2010)) ein erstes Mal in die Tat umsetzte. In dem Album berichtet ein Erzähler, der Gaiman verblüffend ähnlich sieht, wie er als kleiner Junge von seinem Vater zu einem Osteopathen mitgenommen wurde, der früher einmal angeblich für Al Capone gearbeitet hat. Bereits in diesem Erstling lassen sich viele Motive finden, die Gaiman in seinen späteren Werken vertieft und ausgebaut hat – und er hat anscheinend die DC-Redakteurin Karen Berger so sehr beeindruckt, dass sie Gaiman und McKean beauftragt hat, einer zuvor in den 70er Jahren im DC-Universum kurze Zeit aktiven Superheldin namens Black Orchid neues Leben einzuhauchen. Das 1988-89 als dreiteilige Miniserie, später auch als Tradepaperback (Black Orchid (1991); dt. Die schwarze Orchidee (1992)) erschienene Ergebnis war wohl überzeugend genug, dass Neil Gaiman wenig später die Möglichkeit erhielt, eine ursprünglich im Golden Age der amerikanischen Comics (in diesem Fall heißt das 1939) erstmals aufgetauchte Figur ganz nach seinen persönlichen Vorstellungen umzugestalten und sie zur Hauptfigur einer Serie zu machen: The Sandman. Der Rest ist sozusagen Geschichte, denn The Sandman – von dem Gaiman ursprünglich nur eine Outline für die ersten acht Ausgaben geschrieben hatte – wurde vom Start weg zu einem Erfolg und erreichte – nicht zuletzt mit den auch über den regulären Buchhandel vertriebenen Tradepaperbacks, in denen die einzelnen story arcs nachgedruckt wurden – über die normale Comicleserschaft hinaus ein Publikum, das ansonsten mit Comics wenig bis nichts am Hut hatte. Als Neil Gaiman The Sandman im März 1996 mit Heft 75 wie von ihm seit einiger Zeit geplant beendete, verkaufte sich die Reihe besser als die alten DC-Haudegen Superman und Batman, und die Trades wurden und werden in diversen Variationen immer noch neu aufgelegt. Es gäbe viel über The Sandman zu erzählen – über die auch als Morpheus oder Dream bezeichnete Hauptfigur, über Nebenfiguren wie Dreams Schwester Death, ein punkiges goth girl, die in zwei eigenen, großartigen Miniserien gefeatured wurde, oder über grandiose, mehrere Hefte umfassende story arcs und wunderbare kleine Geschichten etc.pp. –, aber nicht hier und heute. Wer allerdings Neil Gaiman nur als Autor von Prosaerzählungen und Romanen kennt, sollte vielleicht mal in eines der Sandman-Tradepaperbacks hineinschauen, denn nirgends sind Gaimans gleichzeitig überbordende und dennoch kontrollierte Kreativität und seine erzählerische Frische und Risikobereitschaft durchgängig so deutlich zu spüren wie in diesem Comic.
The Sandman: The Wake von Neil GaimanWas umso beeindruckender ist, wenn man bedenkt, dass Neil Gaiman in dieser Zeit nicht nur The Sandman (und Spin-Offs wie die bereits erwähnten Death-Miniserien) geschrieben hat, sondern auch seinen ersten Roman (s.o.), weitere graphic novels in Zusammenarbeit mit Dave McKean – Signal to Noise (1992; dt. Der letzte Film (1992) bzw. Signal to Noise (2009)) und The Tragical Comedy or Comical Tragedy of Mr. Punch (1994, dt. Die tragische Komödie oder komische Tragödie des Mr. Punch (1994)) –, die vierteilige Reihe The Books of Magic (1991-92 bzw. TPB 1993; dt. Das Buch der Magie (1993)) oder auch die Fortführung der von Alan Moore begonnenen Miracleman Saga, von der jedoch aufgrund von Rechtsstreitigkeiten nur der erste Teil The Golden Age (1992) komplett erschienen ist und als TPB nachgedruckt wurde (um nur die wichtigsten Titel zu nennen).
Seit Mitte der 90er Jahre hat Neil Gaiman sich stärker dem Verfassen von Kurzgeschichten, Romanen und Kinderbüchern zugewandt – und das mit großem Erfolg –, aber gelegentlich kehrt er doch immer mal wieder zu den Comics und manchmal sogar zu The Sandman zurück. Und so ist passenderweise genau heute, quasi als eine Art besonderes Geburtstagsgeschenk The Sandman: Overture erschienen, der Sammelband einer neuen sechsteiligen Miniserie, die zeitlich vor der eigentlichen Sandman Saga angesiedelt ist.

3 Kommentare zu Zum 55. Geburtstag von Neil Gaiman

  1. Elric sagt:

    Hihi, sehr interessant!
    Ich kenne Gaiman eigentlich nur als Romanautor! 🙂 Ob das jetzt American Gods, Anansi Boys, Coraline oder der Strenwanderer ist, alle haben mir durchweg sehr gut gefallen.
    Er ist einfach ein wirklich toller Vielkönner, wie sein Drehbuch zum Sternenwanderer beweist!
    Mit Comics bin ich bisher noch nie warm geworden…
    Trotzdem: Happy (belated) birthday, Neil Gaiman – danke für die schönen Lesestunden bisher! 🙂

  2. gero sagt:

    Ich nehme an, dass du nicht der Einzige bist, der Gaiman nur als Roman- und Kurzgeschichtenautor kennt (deshalb habe ich mich in dem Posting ja auch bewusst auf seine Anfänge bzw. seine Zeit als Comicautor beschränkt – wobei das Thema wirklich nur angerissen wurde).

    Gerade wenn dir Gaimans Romane gefallen, ist es mMn schade, wenn du mit Comics nichts anfangen kannst, denn für mich (!) sind The Sandman und die beiden Death-Spinoffs immer noch das Beste, was er je geschrieben hat (und Violent Cases oder Signal to Noise kommen kurz dahinter, d.h. ich sehe sie auf einer Stufe mit seinen Romanen). Aber wenn das so ist, kann man halt nichts machen … (Okay, ich könnte dir natürlich mal eins der Trades – z.B. Season of Mists oder die dt. Ausgabe Die Zeit des Nebels schicken, vielleicht findest du ja doch noch einen Zugang zu Comics. 😉 Andererseits … wenn’s so ist, ist’s eben so. Ich kann ja z.B. mit Hörbüchern auch nicht viel anfangen …)

  3. Timpimpiri sagt:

    Signal to Noise ist für mich das Beste, was Gaiman gemacht hat, danach kommt Sandman und dann Violent Cases und dann … seine Romane und anderen Comics …
    Ich würde dir daher durchaus empfehlen, in Signal to Noise reinzuschauen – aber wenn möglich in die englische Version, nicht in die deutsche Übersetzung Der letzte Film – sofern es da keine berichtigte Neuausgabe gab. Denn da ist / war in der Übersetzung ein echter Bug, der es geschafft hat, mal so nebenbei die “Pointe”, die “Kernaussage” zu verzerren und zumindest weniger sichtbar zu machen.

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