Zum 70. Geburtstag von Sergey Dyachenko

Bibliotheka Phantastika gratuliert Sergey Dyachenko, der heute 70 Jahre alt wird. Es dürfte kaum ein besseres Beispiel dafür geben, dass die Präsenz auf dem deutschen Buchmarkt wenig bis nichts über den Erfolg eines Autors in seiner Heimat aussagt, als den am 14. April 1945 in Kiew in der Ukraine geborenen Sergey Sergeevich Dyachenko*, der zusammen mit seiner Frau Marina ein in Russland überaus bekanntes und mehrfach preisgekröntes Autorenpaar bildet. In Anbetracht der Tatsache, dass die seit den frühen 90er Jahren gemeinsam schreibenden und veröffentlichenden Dyachenkos mittlerweile ein Œuvre von 26 Romanen (Phantastik, Fantasy und SF) und noch einmal deutlich mehr längeren und Das Jahrhundert der Hexen von Sergey Dyachenkokürzeren Erzählungen für Erwachsene vorzuweisen haben (dazu kommen außerdem noch mehr als ein halbes Dutzend Kinderbücher und mindestens ein Roman mit Andrei Valentinov and H. L. Oldie), ist es allerdings schon erstaunlich, dass es mit Das Jahrhundert der Hexen (2008; OT: Ved’min vek (1997)) nur ein einziger ihrer Romane nach Deutschland geschafft hat – und das, obwohl es hierzulande seit der Jahrtausendwende dank des Erfolgs von Sergej Lukianenkos Wächter-Reihe einen kleinen Boom russischer Phantastik gegeben hat.
Aber vielleicht war Das Jahrhundert der Hexen mit seinem einerseits typische Urban-Fantasy-Elemente aufweisenden, andererseits nirgendwo zu verortenden Setting und der auf zwei Zeitebenen ablaufenden Handlung um den Großinquisitor Klawdi Starsh, der es nicht nur mit Hexen und Njauken (das sind von den Toten zurückgekehrte Frauen, die die Männer, die sie einst geliebt haben, ebenfalls in den Tod locken wollen) zu tun bekommt, sondern auch sein ganz persönliches Problem in Form einer tragisch gescheiterten Liebesgeschichte mit sich herumträgt, auch einfach zu ungewöhnlich für die deutschsprachigen Fantasyleserinnen und -leser. Auf alle Fälle hat sich seither kein deutscher Verlag mehr an einen Roman der Dyachenkos herangewagt.
Im englischen Sprachraum – genauer: in den USA – sieht es kaum besser aus. Allerdings ist dort mit The Scar (2012; OT: Shram (1996)) ein Fantasyroman erschienen, der Lust auf mehr von den Dyachenkos macht – vor allem, wenn man intelligente Sword & Sorcery mag (oder genauer: wenn man Sword & Sorcery mag, die mehr Wert auf einfühlsam und prägnant geschilderte, eine Entwicklung durchmachende Figuren als auf wilde Actionsequenzen legt). Im Mittelpunkt der Handlung steht Egert Soll, ein junger, gutaussehender Adliger aus reichem Haus und Mitglied der Elitegarde seiner Heimatstadt Kavarren, der alle Privilegien, die ihm zuteil wurden, als selbstverständlich betrachtet, und alle Frauen aufzureißen versucht, die nicht schnell genug vor ihm weglaufen können (was manche auch gar nicht wollen). Egert ist durchaus tapfer und mutig und kann verdammt gut mit dem Schwert umgehen, doch selbst seinem besten Freund gegenüber verhält er sich oft so, dass man ihn eigentlich nur als großes Arschloch bezeichnen kann. Als die junge schöne Toria und ihr Verlobter Dinar auf der Suche nach seltenen magischen Büchern nach Kavarren kommen, macht Egert sich natürlich an Toria heran. Diese zeigt ihm zwar die kalte Schulter, aber dennoch kommt es, wie es kommen muss: Dinar, den der aufdringliche Verehrer seiner Verlobten zunehmend nervt, The Scar von Sergey Dyachenkofordert Egert zum Duell – und wird von diesem getötet. Dass Toria daraufhin die Stadt verlässt, versetzt Egerts aufgeblasenem Ego einen herben Schlag, denn er empfindet ihre Abreise als – natürlich vollkommen ungerechtfertige – Strafe. Doch seine eigentliche Strafe kommt ein wenig später, als er von einem geheimnisvollen Fremden des Mordes bezichtigt wird, diesen zum Duell fordert – und verliert. Der als Wanderer bezeichnete Fremde tötet Egert allerdings nicht, sondern verpasst ihm die titelgebende Narbe und belegt ihn darüberhinaus mit einem Fluch, so dass aus dem zwar arroganten und selbstgerechten, aber bis dahin eben auch tapferen Egert ein erbärmlicher Feigling wird, der nicht nur alsbald die Garde und seine Heimatstadt verlassen muss, sondern sogar zu feige ist, sich selbst zu töten. Er macht sich auf die Suche nach dem Wanderer, der ihn womöglich als Einziger von diesem Fluch erlösen kann, und kommt schließlich in die Stadt, in der Toria mit ihrem Vater Luayan lebt …
Egert Solls tiefer Fall ist in der Fantasy ziemlich einzigartig, und der Weg, den er einschlagen muss, um am Ende vielleicht von seinem Fluch erlöst zu werden, ist ebenso ungewöhnlich wie spannend – und das ohne allzu großes Schwertergeklirr. Natürlich muss man sich auf die Geschichte einlassen, in der man es anfangs mit einem arroganten Unsympathen und später mit einem völlig gebrochenen Menschen zu tun hat – aber wenn man das tut und wenn man Fragen über moralisches Handeln interessanter findet als endlose Kampf- und Schlachtszenen, dann kann man in The Scar ein beeindruckendes Leseerlebnis finden.
Einen kleinen Wermutstropfen gibt es allerdings, denn eigentlich ist The Scar der zweite Band eines aus vier Romanen bestehenden, Wanderers** (OT: Skital’cy) betitelten Zyklus, in dessen erstem Band The Gate-Keeper (OT: Privratnik (1994)) der Wanderer, der Egert seine Narbe zufügt, anscheinend eine wichtige Rolle spielt. Das erklärt einerseits ein paar für das Verständnis nicht wirklich wichtige Andeutungen in The Scar, und sorgt andererseits für Bedauern, denn es ist nicht abzusehen, dass die fehlenden Bände des Zyklus – neben dem bereits genannten The Gate-Keeper sind das The Successor (OT: Preemnik (1997)) und The Adventurer (OT: Avantyurist (2000)) – irgendwann in naher Zukunft auf Englisch oder gar auf Deutsch erscheinen werden.

* – ich habe mich für die Schreibweise des Namens entschieden, die die Dyachenkos auf ihrer englischen Homepage verwenden
** – die englischen Titel der Romane stammen ebenfalls von der HP der Dyachenkos; die Transliteration der in kyrillischen Buchstaben geschriebenen Originaltitel erfolgte mit einem der im Internet vorhandenen Konverter; sollte es dabei zu Fehlern oder Ungenauigkeiten gekommen sein, kann ich mich nur mit dem Hinweis auf meine nicht vorhandenen Kenntnisse der russischen Sprache und der kyrillischen Schrift entschuldigen

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