Rudolf Simek, einer der Experten für germanische und altnordische Mythologie und Literatur, spürt durchaus mit wissenschaftlichem Anspruch in zehn Kapiteln dem Einfluss seiner Fachgebiete auf Tolkiens Werk nach. Dabei befasst er sich mit den unterschiedlichsten Aspekten: Von geographischen Konzepten über Personennamen und Fabelwesen bis hin zu Runenschriften und literarischen Motiven wird so gut wie alles angerissen, was in die Gestaltung von Mittelerde eingeflossen ist oder sein könnte. Vielfältiges Bildmaterial (das unter anderem eine mittelalterliche Weltkarte und Zeichnungen archäologischer Funde umfasst) rundet das Bändchen ab.
– Wenn vieles aus Tolkiens Werk in diesem Büchlein keine Erwähnung findet, dann einerseits wegen der Beschränkung des Umfangs, andererseits, weil eben nur deutliche Anklänge germanischer Stoffe, Motive oder Namen aufgenommen wurden – natürlich gibt es noch eine Menge zu entdecken. –
Einleitung
Simeks kompakte Untersuchung über den Einfluss der altnordischen und allgemein germanischen Literatur und Mythologie auf Tolkiens Werk basiert unter anderem auf einer Vorlesung zum selben Thema. Dies mag ein Grund dafür sein, dass die einzelnen Kapitel ein wenig unverbunden wirken: Bis auf die knappe Einleitung fehlt ein Rahmen, der eine Einordnung der Einzelergebnisse in einen Gesamtkontext oder auch nur etwas wie ein Fazit bieten würde.
Ist man aber bereit, sich auf dieses Fehlen einer übergreifenden Deutung einzulassen, sind die einzelnen Abschnitte recht lesenswert. Simek ist die Begeisterung für sein Thema deutlich anzumerken, und er geht liebevoll ins Detail, wenn er etwa den Einfluss der mittelalterlichen Kosmographie auf den Weltenbau Mittelerdes zu ergründen versucht oder aber die von Tolkien vorgenommene Umwandlung historischer Runenschriften in eigene Systeme analysiert (hierbei erlaubt gut gewähltes Bildmaterial dem Leser eigene Vergleiche von Tolkiens Runen mit den historischen Vorbildern). Auch die Überlegungen zu den Inspirationen, die in die verschiedenen Völker und Wesen von Tolkiens Welt eingeflossen sind, nehmen breiten Raum ein. Gelegentlich treten dabei Perspektiven in den Vordergrund, die auch sonst zu Simeks erklärten Forschungsinteressen gehören, so etwa, wenn er sich sehr ausführlich Odin widmet, dessen ambivalente Natur er in mehreren Bewohnern Mittelerdes widergespiegelt sieht. Etwas zu knapp und eklektisch fallen dagegen die Hinweise auf für Tolkien zentrale literarische Motive aus; hier hätte man sich eine tiefergehende Interpretation gewünscht. Simek ist dabei bemüht, nie den Forschungsstand der für Tolkien wohl prägenden Jahre aus den Augen zu verlieren, und projiziert nicht voreilig modernes Wissen in die damalige Zeit zurück. So führt er z.B. akribisch auf, welche Ausgaben altnordischer Texte Tolkien zur Verfügung gestanden haben könnten, und äußerst sich auch zu dessen eigenen akademischen Arbeiten auf dem Gebiet der älteren Literatur.
Leider hält er diese wissenschaftliche Exaktheit in manch anderer Hinsicht nicht durch. Schon auf den ersten Blick fällt eine gewisse Inkonsequenz bei der Zitierweise auf: Während die Zitate aus Tolkiens Romanen regelmäßig zweisprachig (Englisch-Deutsch) wiedergegeben werden, sind seine Briefe nur auf Deutsch zitiert, ebenso die zum Vergleich herangezogenen Abschnitte aus altnordischen Texten. Dies mag Platzgründen geschuldet sein, verwirrt aber dennoch in seiner Uneinheitlichkeit ein wenig. Auch Simeks Genauigkeit lässt an einigen Stellen zu wünschen übrig. Man mag noch mit leisem Kopfschütteln darüber hinwegsehen, dass Schreibfehler wie Rivendale statt Rivendell und Celbrimbor statt Celebrimbor sowohl im Fließtext als auch im Register auftauchen, aber nachdenklich wird man, wenn man erkennt, dass Simek offenbar auch fachlich nicht immer ganz sauber recherchiert hat. Wenn er etwa das Wort Elben als deutsche Mischprägung (…) aus „Alben“ und „Elfen“ erklärt, suggeriert das einen Neologismus, der so nicht gegeben ist: Der Begriff ist immerhin schon bei Heinrich von Morungen um 1200 belegt, und das Grimm’sche Wörterbuch nennt weitere Verwendungen bis ins 18. Jahrhundert, in dem sich dann ans Englische angelehnt Elfen durchsetzte. Eine ähnliche Vergröberung liegt vor, wenn Simek bei seinen Überlegungen zur Herkunft der Hobbitnamen Drogo als rein normannischen Namen klassifiziert und damit die zahlreichen und zeitlich früher einzuordnenden Belege für diesen Namen im fränkischen Adel des Frühmittelalters unterschlägt. Gerade bei einem verdienten und anerkannten Wissenschaftler wie Simek enttäuscht einen diese Flüchtigkeit natürlich.
So bleibt man am Ende mit einem etwas zwiespältigen Eindruck zurück. Der interessierte Tolkienleser, der sich noch nicht tiefergehend mit altnordischer Mythologie und Literatur beschäftigt hat, wird hier durchaus Wissenswertes finden, und Simeks Ansatz, Fantasyliteratur zum Gegenstand rezeptionsgeschichtlicher Forschungen zu machen, ist gewiss nicht verkehrt. Man wünscht sich nur, es wäre ihm gelungen, aus Mittelerde – Tolkien und die germanische Mythologie auch tatsächlich ein richtungsweisendes Buch zu machen, das die im deutschen Sprachraum immer noch unterentwickelte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Fantasy hätte voranbringen können.