Die wirkliche Mittelerde

Die wirkliche Mittelerde von Arnulf KrauseDer Germanist Arnulf Krause führt in die keltischen und germanischen Mythen und Sagen ein, auf denen J.R.R. Tolkiens fiktive Mythologie basiert, und arbeitet heraus, welche literarischen Stoffe und Motive vor allem in den Hobbit und den Herrn der Ringe eingeflossen sind. Dabei untersucht er nicht nur unter verschiedenen thematischen Gesichtspunkten die mittelalterlichen Dichtungen, die Tolkiens Schaffen beeinflusst haben, sondern verortet sie mithilfe zahlreicher Bezugnahmen auf Geschichte und Archäologie auch in der realen Lebenswelt vergangener Zeiten.

 

– In Bibliotheken des Vereinigten Königreichs und anderer Länder steht ein Buch, dessen angestaubter Zustand zweierlei verdeutlicht: Es hat bereits etliche Jahrzehnte auf dem Rücken und wird selten ausgeliehen. Dies sollte verwundern, denn auf besagtem Buchrücken findet sich der Name J.R.R. Tolkien. Und gemäß der Inhaltsangabe geht es um Könige, die in den Krieg ziehen, „Schlange“ heißende Gelehrte, um Götter, Menschen, Monster und Magie. Also ein vergessenes Frühwerk des millionenfach gelesenen Fantasy-Autors Tolkien? –
(Ein honorabler Professor und sein Spleen – Der Barde des Angelsächsischen)

Arnulf Krauses Die wirkliche Mittelerde. Tolkiens Mythologie und ihre Wurzeln im Mittelalter lässt sich in einer Rezension nur schwer ausgewogen beurteilen, liegt hier doch ein Buch vor, das sich einerseits vergnüglich liest und im Prinzip viel Gutes und Richtiges enthält, andererseits aber an einem ganz entscheidenden Mangel krankt.

Zunächst zum Erfreulichen: Krause verfügt über profundes Wissen und versteht es zu vermitteln, ob es nun um Mythen, Sagen und mittelalterliche Literatur oder um Vor- und Frühgeschichte allgemein geht. Seine langjährige Erfahrung als Sachbuchautor ist seinem Stil deutlich anzumerken, der immer amüsant und gut lesbar bleibt. Schon die Einführung in Tolkiens Leben und sein akademisches wie schriftstellerisches Wirken ist launig gestaltet, und auch die anschließende Entdeckungsreise wird zu keinem Zeitpunkt langweilig: Die Ursprünge der verschiedensten durch Tolkien popularisierten Fantasyvölker und Fabelwesen werden ebenso ausgelotet wie Tolkiens Magieverständis und die in der Völkerwanderungszeit entstandene spezifische Form des Kriegertums. Ausführlich werden auch die realen und literarischen Vorbilder bestimmter Eigenheiten von Tolkiens Setting vorgestellt, ob es sich nun um Fürstenhallen, wilde Wälder oder Hügelgräber handelt. Immer wieder spielt dabei auch der Begriff „Mittelerde“ selbst eine Rolle, dessen spätantike bis frühmittelalterliche Wurzeln Krause anschaulich erläutert.

Die Unterhaltsamkeit ist dabei nicht durch eine Senkung des Anspruchs erkauft: Krause bietet vielfach originalsprachliche (aber immer durch eine Übersetzung ergänzte) Zitate und Titel und schöpft aus einer beeindruckenden Quellenfülle. Wann immer Krause im Detail auf Tolkiens Schaffen eingeht, beweist er viel Gespür für Zwischentöne. Feinfühlig zeichnet er die Verquickung von heidnischer Mythologie und christlichem Gedankengut in Tolkiens Romanen nach oder stellt Überlegungen darüber an, inwieweit Tolkien sich bei seinen Schlachtenschilderungen eher literarischen Motiven als seinen eigenen Kriegserfahrungen verpflichtet wusste.

Doch leider sind nicht alle Teile des Buchs so ideal auf Tolkien abgestimmt, was mit dem eingangs schon erwähnten großen Schwachpunkt zusammenhängen mag: Krause übernimmt immer wieder Textpassagen wörtlich oder mit nur geringen Anpassungen aus seinen älteren Büchern. Besonders auffällig ist dies bei der ausführlichen Beschreibung des archäologischen Fundorts Feddersen Wierde, die gegenüber der entsprechenden Stelle des in 2. Auflage schon 2005 erschienenen Buchs Die Geschichte der Germanen nur marginal verändert wurde. Aus demselben Werk ist auch die hier im Kapitel Schmausen wie in Heorot – die Herrenhalle abgedruckte Beschreibung eines Empfangs am Hof des Hunnenherrschers Attila fast wortgetreu übernommen. Beim Stichwort Attila bietet sich der Hinweis an, dass auch der Abschnitt über die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern in beiden Büchern verdächtig ähnlich ist. Die Informationen über die Druiden dagegen sind zwar ein wenig stärker umformuliert und zusammengekürzt, aber die Grundstruktur des Texts und zahlreiche Formulierungen sind schon in Krauses Von Göttern und Helden: Die mythische Welt der Kelten, Germanen und Wikinger (2010) angelegt, wie auch die hier wiederverwendete Ragnarök-Schilderung. Die Liste ließe sich fortsetzen. Ob auch Krauses Bücher zu den Kelten und Wikingern in gleicher Weise als Steinbruch gedient haben, kann ich nicht beurteilen, da sie mir nicht vorliegen, aber angesichts des oben dargestellten Befunds wäre es zumindest kein großes Wunder.

Dieser Rückgriff auf schon Veröffentlichtes mag für den Fantasyleser, der vor allem mehr über die Hintergründe von Tolkiens Mythologie erfahren möchte, noch nicht allzu tragisch sein, doch Krause versäumt es vielleicht gerade aus seiner Vertrautheit mit der Materie heraus bisweilen, diejenigen Aspekte zu betonen oder auch nur explizit zu nennen, die unter dem hier gewählten Blickwinkel von besonderem Interesse wären.

So ist ihm z.B. bei der Nacherzählung der Hervarar saga die ältere Herwör nur als Weitergeberin des verfluchten Schwerts Tyrfingr an ihren Sohn wichtig, nicht aber hinsichtlich ihrer eigenen kriegerischen Aktivitäten, und die jüngere Herwör findet gar keine Erwähnung. Damit bleibt die Gelegenheit ungenutzt, herauszuarbeiten, was Tolkien zu einer Gestalt wie Éowyn inspiriert haben könnte. Ebenso wird zwar das Phänomen der Berserker angesprochen, ein Vergleich mit Tolkiens Beorn, bei dem die in der realen Welt nur imaginierte Tierverwandlung konsequent zuendegedacht ist, fehlt jedoch. Noch stärker vermisst man den Tolkienbezug, wenn Krause das Wissensduell zwischen Odin und dem Riesen Wafthrudnir schildert, das Odin nur durch die listige Frage nach etwas, das ausschließlich ihm selbst bekannt ist, gewinnen kann. Die Parallele zu dem von Bilbo und Gollum im Hobbit ausgetragenen Rätselwettstreit ist überdeutlich, aber Krause überlässt es stillschweigend dem Leser, sie zu ziehen. Von Tolkiens Büchern stehen übrigens eindeutig Der Herr der Ringe und Der Hobbit im Mittelpunkt von Krauses Interesse, während Das Silmarillion ein wenig stiefmütterlich behandelt wird: Das Drachenkapitel gibt Smaug breiten Raum, während Glaurung gar nicht vorkommt. Dazu passt auch, dass Krause Die Kinder Húrins zwar kurz erwähnt,  aber im Kapitel über Schwerter nicht darauf zurückkommt, als er noch einmal auf das verfluchte Schwert Tyrfingr eingeht (obwohl man hier die Inspiration für die ähnlich unheilbringende Waffe Anglachel/Gurthang hätte vermuten können).

Leider springen zudem noch einige Fehler ins Auge: So mutieren z.B. die Inklings zu Inklinks, und ob in der schon erwähnten Hervarar saga nun Agantyr oder Angantyr eine Rolle spielt, darf der Leser sich aussuchen (beide Varianten werden abwechselnd gebraucht). Apropos Namen: Auch die Nennung der deutschen Personennamen Ansila und Ansgeir lässt einen ein wenig verwundert zurück, aber man sollte wohl nicht über die sehr weitgefasste Auslegung des Begriffs „deutsch“ staunen, da im selben Atemzug Asperg den skandinavischen Ortsnamen zugeschlagen wird. Auch beim Thema Tolkien fallen Unsicherheiten auf, so etwa, dass Krause durchgängig die Namensform Middle-Earth statt des bei Tolkien üblichen Middle-earth verwendet und Gandalf fälschlich den Valar zurechnet.

Das alles ist bei einer Publikation aus dem Hause Theiss fast schon typisch, wurden doch in anderen (insgesamt übrigens durchaus nicht schlechten) Büchern desselben Verlags bereits ein Sonnenaufgang im Westen und die postume Geschlechtsumwandlung der Merowingerkönigin Arnegunde in einen „König Arnegund“ übersehen. Dennoch ist es natürlich enttäuschend, dass hier nicht gründlicher gearbeitet worden ist.

Diese Flüchtigkeit verstärkt den Negativeindruck, den man aus dem etwas lieblosen Baukastensystem der Textgestaltung gewonnen hat. Ganz lässt sich der Verdacht nicht abschütteln, dass man hier – vielleicht im Hinblick auf das in Verbindung mit der Hobbit-Verfilmung zu erwartende verstärkte Interesse an Tolkien – übereilt aus schon vorhandenem Material ein neues Buch zusammengeschustert hat. Da dennoch manch wertvolle Information enthalten ist, kann man nicht völlig von der Lektüre abraten, aber wer bei seiner Beschäftigung mit Mythologie und Geschichte auf Tolkiens Namen als Anreiz verzichten kann, hat wahrscheinlich mehr davon, zu anderen Werken über die entsprechenden Themen zu greifen.

Stand: 25. März 2013
Erscheinungsjahr: 2012
Verlag: Theiss
ISBN: 978-3-8062-2478-8
Seitenzahl: 229