Das Einhorn (Sammelrezension)

Das Einhorn Band 1: Der letzte Tempel des Asklepios von Mathieu Gabella/Anthony JeanAmbrosius Paré ist ein französischer Chirurg, der die Umwälzungen der Renaissance im wissenschaftlichen Bereich lebt: Anstatt aus den Schriften antiker Gelehrter bezieht er sein Wissen über den menschlichen Körper aus dem Sezieren von Leichen, dementsprechend wenig hält er auch von den Behandlungsmethoden der scholastisch gebildeten Mediziner. Bei der Untersuchung eines grausamen Mordfalls in Paris gerät er unversehens in einen Konflikt zwischen zwei mächtigen Organisationen. In Begleitung illustrer Gesellschaft muss er Frankreich verlassen und sieht sein gesamtes Weltbild in Frage gestellt, steht doch nicht weniger als die Natur des Menschen selbst auf dem Spiel.

-“Aber Meister Paré ist immerhin Chirurg des …” -“Chirurg von was? Er trägt keine Robe! Spricht weder Latein noch Griechisch und hat die alten Weisen nicht gelesen!” S. 8

Bei Das Einhorn von Mathieu Gabella (Text) & Anthony Jean (Illustrationen) handelt es sich um waschechte Historienfantasy im Comicformat (vier Bände).
Das Medium ist in diesem Fall ein echter Gewinn, denn Setting, Geschichte, Thema und künstlerische Umsetzung sind sehr gelungen miteinander verschränkt. Darauf lassen bereits die Cover schließen, auf denen anatomische Studien à la Leonardo da Vinci das Hintergrundmotiv bilden. Das historische Setting wird von einem Zeichenstil getragen, der den Panels ihren handwerklichen Aspekt belässt und der mit seinen zumeist warmen Grundtönen den historischen Charakter der Geschichte zusätzlich unterstreicht. Gleichzeitig fließen die Renaissance und deren Wissenschaft noch viel direkter in die Comics ein, indem Kreaturen ein handlungstragendes Element darstellen, die nach dem Vorbild der Körperstudien Leonardo da Vincis entworfen sind und Neuinterpretationen einer Vielzahl von Fabelwesen darstellen – die sogenannten Primordialen.

Das Einhorn Band 2: Ad Naturam von Mathieu Gabella/Anthony JeanMan merkt also schon, Medizin und Wissenschaft spielen eine zentrale Rolle in dieser Comicreihe. Wer noch kein Hintergrundwissen zu Wissenschaft und Medizin hat, braucht sich aber nicht zu fürchten, die wichtigsten Begriffe werden im Text erklärt und alle vier Bände liefern bandspezifische historische Infos am Schluss. Sowohl das antik-scholastische Körper- und Wissenschaftsbild als auch das „modernere“ der Renaissance werden dabei (auf unerwartete Weise) ernst genommen, immer wieder tauchen historische medizinische Theorien und deren Vertreter in der Handlung auf.
Der gute Gesamteindruck der Reihe wird jedoch durch die Bände drei und vier getrübt, die die Handlung vor allem im Hinblick auf Bombast und Rasanz vorantreiben, ohne ihr mehr Tiefe zu verleihen, ohne das Thema weiter auszuloten oder die Beweggründe der beteiligten Fraktionen befriedigend zu erklären. Tatsächlich ist gerade der abschließende zugleich der schwächste Band der Reihe, vor allem, weil er sich, anstatt das eigentliche Ende, das die Verbindung zum aktuellen anatomischen Zustand des Menschen darstellen musste, kreativer auszugestalten, mit einem Twist aufhält, der neu eingeführt und im gleichen Band abgeschlossen wird, aber eher mehr Unklarheiten zurücklässt als beseitigt. Das Streben nach einem fulminanten Finale mit Superlativen zerstört leider auch viel von dem Flair, das die ersten beiden Bände entwickelten.

Eine kleine Warnung noch: Wie das Setting vielleicht erahnen lässt, sind manche Darstellungen doch sehr explizit und gerade im ersten Band gibt es viele brutale Szenen, in den späteren Bänden nimmt dies deutlich ab.
So bleiben die ersten beiden Bände eine Empfehlung an alle Comicfans, die Bände drei und vier können jedoch das Potenzial der Reihe nicht ausschöpfen, sondern verflachen zunehmend. Wer eine Kostprobe von Zeichenstil und Story haben möchte, der besuche die Seite des Verlags oder klicke hier (Leseprobe zum ersten Band).

Stand: 10. April 2013
Originaltitel: La Licorne
Erscheinungsjahr: F 2006-2012, D 2007-2012
Verlag: Splitter
Übersetzung: Tanja Krämling
ISBN: Band 1: 978-3-939823-75-9