Autor: Kress@Nancy

Bettler in Spanien von Nancy KressDer schwerreiche Roger Camden will für die geplante Tochter nur das Beste, das heißt, die neuesten und vielversprechendsten genetischen Modifikationen. Und so neu, dass es eigentlich noch im Teststadium ist, ist die Ausschaltung des Schlafbedürfnisses. Doch bald wollen mehr Eltern diese Modifikation: Die Kinder sind leistungs- und lernfähiger, da die nutzlos verbrachten Ruhestunden wegfallen, und anderen in jeglicher Hinsicht überlegen.
Doch Leisha Camden, die mit einer Schwester ohne die Modifikation aufwächst, lernt bald die Schattenseiten kennen: Die gewöhnlichen Menschen kommen nicht besonders gut mit den überlegenen Veränderten zurecht, und die »Schlaflosen« ängstigen sie zutiefst.

-Sie saßen steif auf seinen antiken Eames-Stühlen, zwei Menschen, die gar nicht hier sein wollten – besser gesagt, eine der beiden Personen wollte es nicht, und die zweite ärgerte sich über das Widerstreben der anderen.-
1

Nancy Kress betrachtet in ihrer SF vorrangig weder technologische Entwicklung, noch schaut sie hinaus in ein größeres Universum – ihre Spezialität ist der Mensch unter veränderten Bedingungen, und Bettler in Spanien (Beggars in Spain), der Roman, mit dem ihr der Durchbruch gelang, ist dafür ein Paradebeispiel. Er basiert auf einer gleichnamigen Novelle, die mit Hugo und Nebula Award ausgezeichnet wurde und immer noch den besten Teil der längeren Fassung darstellt – in den ergänzten Abschnitten werden dieselben Konflikte lediglich auf eine andere Ebene gehievt, wobei sich das vielschichtige Grundthema durchaus für eine mehrteilige Betrachtung anbietet. So kann Kress fein herausarbeiten, woraus sich das Menschliche konstituiert und die Reaktionen – gesellschaftliche und individuelle – auf das Andere, oder vielmehr das Bessere in Form der Schlaflosen ausloten. Die Befremdung und schließlich Bedrohung, die die gewöhnlichen Menschen in ihnen wahrnehmen, lässt wohlbekannte Prozesse ablaufen, die sowohl aus dem Umgang mit Fremden allgemein als auch aus der etwas spezielleren Form der Intellektuellenfeindlichkeit abgeleitet sind.

Als LeserIn verfolgt man dabei hauptsächlich Leisha Camden, die erste Schlaflose, und für sie ist die gesellschaftliche Grundhaltung eher ein mal stärkeres, mal schwächeres Hintergrundraunen, denn für die Schlaflosen selbst ist der Leistungsgedanke das bestimmende Element. Wo er hinführen kann, wenn durch eindeutige Überlegenheit Tatsachen geschaffen werden und Leistung gleichzeitig als Rechtsgrundlage dient, ist ein sehr beunruhigendes Gedankenexperiment, das zwar einerseits ein Kind seiner Zeit ist (die »Leistungsgesellschaft« bekam in den 90ern erstmals große Medienpräsenz), andererseits aber auch visionär und immer noch (oder erst recht?) gültig.
Von der anderen Seite der Medaille, den Bevölkerungsmassen, deren Leistung, aber auch Empathie im Großen und Ganzen geringer ausfällt, wird kein weniger pessimistisches Bild gezeichnet.
Aus diesen beiden Polen, den sich aufschaukelnden gesellschaftlichen Konfliktherden und dem Sicherheitsbedürfnis der Privilegierten, entwickelt sich vor allem im ersten Teil von Bettler in Spanien eine hochspannende Dynamik, in der gemäßigte Stimmen zunehmend untergehen.

Die Figuren, sowohl gewöhnliche Menschen als auch Schlaflose, sind wie bei Kress üblich keine uneingeschränkten Sympathieträger, sondern sehr anfällig für Fehler: ob fanatisch, gleichgültig, egoistisch oder fehlgeleitet, hier wird die ganze Bandbreite menschlicher Irrungen abgedeckt. Leisha Camden, die Protagonistin und der »Prototyp« der Schlaflosen, ist allerdings eine faszinierende Figur – ein perfektes Geschöpf, das durch Gen-Engineering nicht mehr ganz menschlich ist, aber als diejenige, aus deren Perspektive erzählt wird, sehr viel Menschlichkeit zeigt, ja sogar krampfhaft danach sucht.
An ihren Hauptfiguren untersucht Kress auch familiäre Strukturen, ihre langjährige Wirkung, ihre letztliche Auflösung: in der Familie der Camdens und als Gegenentwurf bei den (meist) deutlich negativer geprägten Sharifis, einer radikaleren Schlaflosen-Familie. Ambitionierte Eltern in einer ambitionierten Gesellschaft sind dabei immer ein Punkt, an dem die Brüche und Verwerfungen ihren Anfang nehmen.

Die Zukunftswelt an sich bleibt (inklusive der handlungstreibenden Gentechnik) relativ unentwickelt, Kress denkt hier eher grobe Richtungen an, ohne Details zu liefern – die Fragen, die sie stellt, sind immer die gesellschaftlichen: Die Machbarkeitsfantasien der Gentechnik werden von ihr genau an die Grenze getrieben, an der das Resultat so fremd wird, dass die Option trotz ihrer Vorteile nicht mehr in Frage kommt – und an der die künstliche Evolution auch zu einer gesellschaftlichen führt, zu einer Weggabelung, an der Systeme auseinanderdriften, weil (gefühlt) die Gemeinsamkeiten fehlen, vor allem in Bezug auf die Leistungsunterschiede. Dass dieser Schritt keiner Genforschung bedarf, muss nicht ausgesprochen werden, denn das Bettler-Motiv zieht sich durch den ganzen Roman.
Nancy Kress’ Schlaflose sind eine jener genialen SF-Ideen, die Faszination und Relevanz in sich vereinen, und in Bettler in Spanien hat sie die Spannung, die das Thema bietet, im Rahmen von Leishas Lebensgeschichte optimal genutzt. In den einzelnen Abschnitten des Romans lässt sich durch Zeitsprünge eine langfristige gesellschaftliche Entwicklung verfolgen, und diese ausführliche Auseinandersetzung mit der Thematik gewährleistet einen tiefen Einblick in die Konflikte, die zwischen Eliten und dem Rest der Gesellschaft entstehen, allerdings, ohne eine Stellung zu beziehen oder das Grundproblem aufzulösen.

Steal Across the Sky von Nancy KressAliens tauchen auf, bauen eine Basis auf dem Mond und schalten eine Anzeige im Internet. Sie nennen sich „die Büßer“ und suchen Freiwillige, die sich ihnen als “Zeugen” zur Verfügung stellen. Sie behaupten, der Menschheit vor 10.000 Jahren etwas angetan zu haben, das sie nun offenbaren und für das sie damit Buße tun wollen.
Scheinbar wahllos werden über zwanzig Menschen ohne eindeutige Qualifikationen ausgewählt, um von den Büßern an die Schauplätze gebracht zu werden, wo sie das Verbrechen bezeugen können.

-At first, of cause, they thought it was a joke, those few Internet roamers who visited the new website.-
5: From Rewired and Hacked In, Editorial Column

Als notorisch neugieriger Fan phantastischer Literatur muss man sich fragen, ob es überhaupt LeserInnen gibt, die der Ausgangslage, die Nancy Kress in ihrem SF-Roman Steal Across the Sky präsentiert, widerstehen können. Wer will nicht wissen, was die Büßer vor 10.000 Jahren angestellt haben, was die auserkorenen Zeugen herausfinden werden? Diese Prämisse übt einen regelrechten Lesezwang aus und ist auch das treibende Spannungsmoment im ersten Drittel des Romans. Dort lässt Kress uns mit den Zeugen rätseln, denen sich die Lage auf den fernen Planeten, die sie untersuchen, und auch ihre konkrete Aufgabe, für die keine besonderen Kenntnisse oder Talente erforderlich sind, nicht sonderlich eindeutig darstellt. Der Fokus der Geschichte liegt trotz der Reise durch das halbe Universum nicht auf den fremden Kulturen oder den Welten, die die Zeugen besuchen, nicht auf der Adaption in der Fremde, dem Kulturschock oder dem Exotismus. Die Welten, die die beiden im Mittelpunkt der LeserInnenaufmerksamkeit stehenden Zeugen besuchen, sind nicht einmal besonders detailliert ausgearbeitet. Kress konzentriert sich voll und ganz auf die Figuren, die sich in dieser unerklärlichen Situation befinden, die etwas bezeugen sollen, von dem sie nicht wissen, was es ist, und auf die psychische Belastung, die mit all den Unsicherheiten einhergeht und die sie höchst unterschiedlich, aber beide auf ihre Weise schlecht verarbeiten.

Nach und nach kristallisiert sich aber die Antwort heraus, und Kress verbringt die größere Hälfte von Steal Across the Sky damit, den Umgang mit dem neuen Wissen zu erörtern: Vordergründig geht es dabei um die gesellschaftlichen Implikationen – wie reagieren die Menschen auf die Erkenntnisse der Zeugen? Anklänge an Kress’ Hauptwerk Beggars in Spain sind nicht zu leugnen, denn hier wie da untersucht sie, wie Menschen die Tatsache verarbeiten, dass etwas existieren könnte, das die bisherige Definition von „menschlich“ sprengt. Die Bilder gleichen sich: was im Bettler-Zyklus die Schlaflosen waren, sind hier die Zeugen, da in Ermangelung der wahren Adressaten des Unbehagens die Überbringer des neuen Wissens den Hass zu spüren bekommen. Der Diskurs, der nötig wäre, wird von grellen Schlagzeilen bestimmt, was der Roman durch etliche Einsprengsel zwischen den Kapiteln perfekt einfängt: Hier ein Kreuzworträtsel oder ein Kinderbild, dort ein Verhörprotokoll oder eine Buchbesprechung zeichnen ein umfassendes Bild vom problematischen Umgang der Menschheit mit dem Besonderen, der Abweichung, wie es auch in Kress’ Kurzgeschichten immer wieder auftaucht.
Doch die gesellschaftlichen Auswüchse sind lediglich die Kulisse, die wahren Konflikte spielen sich zwischen den Zeugen ab, von denen nun einige mehr als nur die hitzige Unterschicht-Kellnerin Cam und der in seiner Trauer um die verstorbene Frau innerlich abgestorbene Lebemann Luca aus dem ersten Teil in den Mittelpunkt rücken. Die Figuren sind zugleich Stärke und Schwäche von Steal Across the Sky: Es sind kleine Jedermanns, sie zeigen keine heldenhaften Ambitionen (und wenn doch, wird ihre Zwecklosigkeit schnell offenbar), sie sind voller Fehler und Unsicherheit, und Kress bietet den LeserInnen keine Sympathieträger an.

Dies nimmt neben dem gelüfteten Geheimnis dem zweiten Teil des Romans ein wenig den Wind aus den Segeln: Figuren, die sich nur falsch entscheiden, sich nie aus ihrer Kleinlichkeit lösen können, sind keine guten Spannungsträger. Ihr Handeln ist so häufig irrational und letztlich irrelevant, dass sie zwar mit Antiheldentum punkten können und es durchaus erfrischend ist, im Genre von so alltäglichen, von nichtigen Konflikten bestimmten Figuren zu lesen, als Träger der Geschichte, die Steal Across the Sky zumindest im Hintergrund erzählt, scheinen sie ihrer Aufgabe aber schlicht nicht gewachsen zu sein – was möglicherweise trotzdem einer der besten Zugänge ist, die man zu dem schwierigen Thema, das Kress sich ausgesucht hat, finden kann.
Eine Grundspannung bleibt wegen der undurchsichtigen Agenda der Aliens, die die Menschen mit ihrer Erkenntnis weitgehend allein lassen, allerdings durchgehend erhalten. Enttäuschend ist dann vor allem das Ende, das die Sache mit einer Eindeutigkeit auflöst, die dem Thema nicht gerecht werden kann. Kress selbst nennt in einem Interview biographische Gründe für ihre Themenwahl, die diese letzte Entscheidung evtl. nachvollziehbar machen.

Damit bleibt Steal Across the Sky ein interessanter, in weiten Teilen auch mitreißender Roman, der jedoch zu viel will: Gesellschaftskritisch sein und den Menschen ungeschönt auf den Zahn fühlen, metaphysische Interpretationen liefern, letztlich unwichtige Schauplätze auf fremden Welten zeigen, einen Erstkontakt mit Aliens beschreiben und mit einer ohne Zweifel sehr faszinierenden Idee punkten. Dabei kommt vor allem eines viel zu kurz: Die Auswirkungen des fundamentalen Eingriffs der Büßer vor 10.000 Jahren. Kress hat Strukturen geschaffen, die die Folgen dieser Tat und die alternative Entwicklung greifbar machen könnten, doch es bleibt bei einer wenig überzeugenden und unscheinbaren Ausarbeitung, obwohl bei vielen „was wäre wenn“-Spielchen in der SF schon kleinere Veränderungen weitaus größere Folgen hatten. Eine verschenkte Chance, aus diesem streckenweise sehr fesselnden Roman einen richtig großen Wurf zu machen.