Autor: Meyer@Kai

Cover von Frostfeuer von Kai MeyerMaus lebt seit ihrer Geburt im Edelhotel Aurora in St. Petersburg, das sie noch nie verlassen hat. Alle anderen Bediensteten nennen sie den “Mädchenjungen”, weil sie sich schon immer als Junge gegeben hat, um im Hotel bleiben zu dürfen. Außer dem Eintänzer Kukuschka gibt es niemanden, an den sich Maus wenden kann. Besondere Angst hat sie vor dem “Rundenmann”, der jeden der Bediensteten kontrolliert. Sie ist als Schuhputzerin angestellt und stößt eines Abends auf ein seltsames Schuhpaar, das zu einer überirdisch schönen Dame gehört. Zur gleichen Zeit findet sich eine weitere ausgefallene Gestalt ein: Tamsin Spellwell, die mit ihrem blauen Haar und ihrem Temperament, das so wild ist wie ihre Kleidung, das Hotel auf den Kopf stellt.

-“Guten Tag, Väterchen Frost.” Der Mann blickte auf. Für einen Augenblick schwand sein Lächeln, weil jemand es wagte, ihn bei der Fütterung der Flocken zu stören. Dann aber erkannte er die Frau, die ihn angesprochen hatte. Sein Lächeln kehrte zurück. “Lady Spellwell?”, fragte er. “Tamsin Spellwell?” Eine Frau war aus dem Schneetreiben getreten wie ein kunterbuntes Gespenst.-
Das Kapitel, in dem die wahre Heldin dieser Erzählung noch gar nicht auftritt

Nach Venedig und der Karibik führt der nächste große Jugendroman von Kai Meyer nun nach St. Petersburg. Aber nicht die Stadt selbst bildet die Kulisse für die phantastische Geschichte, sondern das Hotel Aurora. Und dieses Hotel hat Kai Meyer zu einer eigenen Welt gemacht und bemerkenswerte Figuren darin angesiedelt. Das Russland der Zarenzeit zeigt sich in aller Pracht, die allerdings eine schäbige Rückseite hat: Überall finden sich versteckte Türen in einen toten Flügel des Hotels und in den Kellern gibt es Spalten und Nischen, die Maus ein Zuhause geben. Kukuschka und der Rundenmann sind wie der Gut- und Bösepol in Maus’ Leben – so lebhaft, fröhlich und fürsorglich der eine gestaltet ist, so grobschlächtig, kalt und bedrohlich wirkt der andere. Ihre wahren Identitäten sind von Anfang an fraglich; eine überraschende Klärung wartet am Ende der Geschichte. Die Schneekönigin und Tamsin bleiben in ihrer Persönlichkeit und Herkunft immer etwas unscharf, aber das unterstützt nur ihre wundersamen Erscheinungen. Vor allem Tamsin und ihre zaubertüchtigen Utensilien sind eine skurrile, schillernde Bereicherung der Geschichte. In typischer Meyer-Manier muss natürlich noch eine Passage eingebaut werden, die das Grauen auf die Spitze treibt: Was Maus in Tamsins Zylinder erlebt, ist nur den Hartgesottenen unter den Zwölfjährigen zuzumuten, für die das Buch laut Verlag schon geeignet ist. Im Laufe des Romans wird Maus auch mit ihrer größten Angst konfrontiert: Sie muss sich aus dem Hotel hinaus begeben. Ihre krankhafte Panik vor der Außenwelt wird so eindrucksvoll geschildert, dass man in den entsprechenden Szenen das Buch absolut nicht mehr aus der Hand legt. Und die begründete Angst, in den Himmel zu fallen, sobald man einen sicheren Innenraum verlässt, jagt wohl jedem einen Schauer über den Rücken, der sich das als Kind schon mal ausgemalt hat. Vor solchen Ideen sprudelt der Roman über – und wer immer gelacht hat, wenn Kinder sich unsichtbar zu machen versuchen, indem sie einfach ganz fest die Augen schließen, der sollte ihn dringend lesen!

Seide und Schwert von Kai MeyerNiccolo lebt auf den Wolken, zusammen mit einer kleinen Schar von Auswanderern, die dank einer Erfindung von Leonardo da Vinci dort ihre Wohnstatt errichtet haben. Doch plötzlich funktionieren die Äthermaschinen nicht mehr, und die Wolkensiedlung strandet auf den hohen Gipfeln über China. Nach langem Hin und Her wird Niccolo ausgesandt, auf der Welt unten nach Hilfe zu suchen, bevor sich die Wolken ganz auflösen und die Stadt dem Untergang geweiht ist. Doch die Länder auf der Erde sind voller Gefahren …
In China lebt Nugua, ein Mädchen, das von Drachen aufgezogen wurde. Seit die Drachen verschwunden sind, ist sie auf der Suche nach ihnen.

-Sie war als Menschenmädchen unter Drachen aufgewachsen. Aber erst an dem Tag, als die Drachen aus der Welt verschwanden, wurde Nugua bewusst, wie sehr sie sich von ihnen unterschied.-

Kai Meyer, der in seinen Jugendbüchern schon mehrfach internationale Überlieferungen und Sagen herangezogen und diese Elemente zu etwas Neuem verbunden hat, als wäre er der deutsche Neil Gaiman, hat für seine Trilogie Das Wolkenvolk vor allem die chinesische Kultur als Inspiration genutzt. Und weil ein Themenkreis für Meyers aufwendige Gebilde nicht ausreicht, ist das namensgebende Wolkenvolk selbst ein über China gestrandeter Haufen von Italienern unter Führung der Medici, die dank einer Erfindung Leonardo da Vincis zweihundert Jahre lang auf verfestigten Wolken mit den Luftströmen um die Erde gereist sind.
Abwechselnd erzählt Meyer von den Fährnissen der nun sinkenden Wolkenstadt, zu deren Rettung der junge, schüchterne Freigeist Niccolo ausgesandt wird, und von China, wo das eigensinnige Mädchen Nugua die verschwundenen Drachen sucht – unschwer zu erraten, daß sich die Helden treffen und ihre Questen zusammenzuhängen scheinen.

Die Abenteuer führen quer durchs Land und erfordern allerlei Gefährten, wobei hier Rätselhaftigkeit bei allen Nebenfiguren Programm ist – keiner stellt sich als das heraus, was er anfangs zu sein scheint. Vom unsterblichen Streiter und der überirdischen Schönheit bis hin zum komischen Feigling und der spröden Kämpferin ist alles vertreten. Trotz dieser Fülle sind viele Charakterbeziehungen vorhersehbar und stereotyp. Ein Jugendbuch ist vielleicht nicht der Ort für hochdifferenzierte Motivationen und uneindeutige Charaktere, doch so starr hätten die Rollen nicht von Anfang an festgelegt sein müssen. Es mag auch daran liegen, daß in diesem Auftakt-Band zu viele Figuren eingeführt werden, so daß sogar der bemitleidenswerte Tolpatsch Feiqing kaum genügend Zeit hat, wirklich die Sympathie des Lesers zu erwerben, obwohl er sich redlich bemüht und durch seine Eigenwilligkeit eine der liebenwürdigsten Figuren des Romans ist.

So wird auch Mythos um Mythos bemüht und sämtlichen Vorstellungen genügt, die man gemeinhin mit dem fernen Osten verbindet, und phantastische Schauplätze rauschen am Leser vorbei. Dementsprechend huscht alles nur kurz durch’s Bild, und die Helden müssen um die Lösungen ihrer Probleme meistens nicht kämpfen (obwohl spektakuläre Actionszenen, die an den asiatischen Film erinnern, durchaus ihren Platz haben), denn ein spektakuläres Problem wird einfach vom nächsten (ab)gelöst. Der ganze Roman ist randvoll gepackt mit mysteriösen Figuren, großartigen Schauplätzen und überraschenden Abenteuern, so daß einige feinere Nuancen zwangsläufig auf der Strecke bleiben.

Die Achterbahnfahrt durchs mythische China liest sich aber trotz allem äußerst angenehm, denn Kai Meyer erzählt stilvoll und, bis auf einige Patzer (schade zum Beispiel, daß man jungen Lesern realisieren als “wahrnehmen” statt “wahr machen” vorsetzt), sehr flüssig.
Der Versuch, möglichst viel vom Zauber Chinas einzufangen, ist leider nur in einzelnen Szenen gelungen – und wenn man dort einen Hauch davon erfährt, merkt man, daß das Konzept eigentlich aufgehen hätte können. Nach einem offenem Ende und nun, da alle Figuren bereit und mitten in der Handlung stehen, vielleicht im zweiten Band ohne die Hektik von Seide und Schwert.

Cover von Die Wellenläufer von Kai MeyerAls ein magisches Beben die Küsten der Karibik erschüttert, werden in den Piratenhäfen Kinder geboren, die ungewöhnliches Talent besitzen. Sie können über das Wasser gehen.
Nach vierzehn Jahren, glaubt Jolly, dass sie die einzige Wellenläuferin ist.
Doch als sie Munk begegnet – der ebenfalls auf dem Wasser geht und aus Muscheln einen alten Zauber erwecken kann – belehrt das Schicksal sie eines besseren. Den beiden Wellenläufern steht ein schweres Schicksal bevor: Im Atlantik dreht sich ein riesiger Mahlstrom, den nur die beiden Freunde wieder verschließen können.

– Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean.-
Die Quappe

Nach knapp zweitausend Jahren schreibt ein Autor zum erstenmal wieder eine Geschichte über jemanden, der auf dem Wasser gehen kann. Und das Warten hat sich gelohnt, auch wenn Ähnlichkeiten mit lebenden, verstorbenen oder fiktiven Personen nicht rein zufällig sein dürften. Als Quellen, aus denen Kai Meyer seine Inspiration geschöpft haben könnte, bieten sich an: Das Neue Testament, Das Alte Testament, wahlweise Hauffs Geschichte vom Gespensterschiff oder Der fliegende Holländer, und Poe’s A Descent into the Maelstrom. Die mythologische Unterwelt Acheron stand als Namensgeber Pate für das furchterregende Ungeheuer Acherus, dem Jolly und Munk mit knapper Not entrinnen und wie man bei Seneca nachlesen kann, bezeichneten schon die alten Römer den Atlantik als das mare tenebrosum und Festus Avienus behauptete, dies sei der Ozean, auf dem noch nie ein Schiff gefahren sei. Der Name des Schiffes Natividad stammt aus C.S. Foresters Hornblower-Romanen. Und natürlich kennt man die Welt, die Meyer zeichnet, aus sämtlichen Hollywood-Piratenfilmen seit Captain Blood. Die Piratenprinzessin Soledad gleicht bis aufs Haar der Korsarin Feuerkopf Stevens, die Maureen O’Hara in dem Film Gegen alle Flaggen so hervorragend gespielt hat.
Aber alle diese Déjà vus mindern die Qualität des Romans kein bißchen. Erstens werden die jungen Leser, für die der Roman eigentlich gedacht ist, all diese Parallelen nicht wahrnehmen und zweitens hat Meyer keineswegs von diesen Werken und Mythen einfach abgekupfert und Versatzstücke in seinen Roman eingebaut, wie das schlechte Autoren so gerne tun. Meyer ist es gelungen mit Die Wellenläufer einen ganz eigenen Roman zu schaffen, der immer wieder mit neuen Überraschungen aufwartet und dessen Ende nicht vorhersehbar ist. Aufregende und komische Passagen wechseln sich ab. Man darf gespannt sein auf die Entwicklung einer der Hauptpersonen, von der man am Schluß des Buches nicht weiß, ob sie den Weg des Guten oder des Bösen einschlagen wird. Mit dem eigenwilligen Orakel, das abwechselnd dichtet oder rülpst (wobei beide Äußerungen ungefähr die gleiche künstlerische Qualität haben) ist Meyer eine besonders originelle Figur gelungen, die dafür sorgt, daß der Schrecken in dieser Geschichte nicht die Überhand gewinnt. Denn es steht zu befürchten, daß der Tod und Verwüstung bringende Acherus nicht das letzte Ungeheuer ist, das dem unheimlichen Mahlstrom entsteigt.