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Matthew Woodring Stover schreibt nicht nur famose Star-Wars-Romane, sondern entfaltet seine genre-sprengenden und wegweisenden Ideen in den Acts of Caine, die die Geschichte Hari Michaelsons erzählen, der sich als Caine zur Unterhaltung des irdischen Publikums durch die Parallelwelt Overworld metzelt, auf dem Höhepunkt seiner Karriere aber andere Prioritäten setzt.
Die Acts of Caine sind in diesem Jahr als Ebooks neu erschienen, allerdings sind sie bisher nicht in deutscher Übersetzung erhältlich. Matthew Stover hat uns ein paar Fragen beantwortet und zum Einstieg seine Fans für uns gefragt, weshalb die deutschen Verlage den Arsch hochkriegen und sich Caine holen sollten. Folgende Ideen kamen dabei heraus:

1. Aus dem gleichen Grund, weshalb es auch alle anderen machen sollten: Wer sich Caine nicht holt, den holt sich Caine.
2. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass Nietzsche dabei eine Rolle spielen sollte – und hat nicht Caine in der Handlung von „Retreat“ ein Monokel von Zeiss benutzt? Beides deutsche Produkte. Damit packt man sie bei ihrer Eitelkeit.
3. Außerdem, weil Caines Spitzname auf Deutsch „Blutworst“ lauten würde.

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Bibliotheka Phantastika: Du hast eine schauspielerische Ausbildung; Hari Michaelson, der Protagonist der Acts of Caine ist Schauspieler; und in deinen Romanen, vor allem in Heroes Die, geht es um das Verhältnis zwischen Schauspieler und Publikum, oder im weitesten Sinn zwischen der Geschichte und ihrer Wahrnehmung. Hast du für deine Romane Techniken des filmischen Erzählens übernommen? Was verdankst du Film und Theater?

Matthew Woodring Stover: Bei der Ausbildung von Schauspielern kommen eine Reihe von verschiedenen Techniken zum Einsatz; die brauchbarste für mich stammt aus dem Filmschauspiel, auch wenn ich fürs Theater ausgebildet wurde. Anstatt eine Figur als Konstrukt zu sehen, in das ich meine Darstellung einpasse, prüfe ich als erstes jeden Berührungspunkt, den es zwischen dem Leben der Figur und meinem gibt. Die Figur und ich sind nie voneinander getrennt, ganz im Gegenteil. Ich habe eigentlich immer die Person gespielt, die ich gewesen wäre, hätte ich über den Hintergrund, die Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen der Figur verfügt. Sobald man die Welt so sieht wie die Figur, ist man in der Rolle; dann kann man sich auf Stil und Timing konzentrieren.
Ein Schlüsselerlebnis während meiner Ausbildung war die Darstellung von John Tarleton in Shaws Falsch verbunden. Es ist vermutlich das Stück von Shaw, das einer frivolen Farce am nächsten kommt – im Prinzip ist es eine lange Abfolge von (sehr lustigen) Debatten, die ausgesprochen kluge und sprachgewandte Leute über Geschlechterrollen, Klasse und den potentiellen Nutzen von Scheinheiligkeit und moralischer Verblendung für den Erhalt glücklicher Familienbande führen. Der Regisseur dieser Produktion, der großartige William S. E. Coleman, gab dem ganzen Ensemble ein Geheimnis mit auf den Weg, das seiner Ansicht nach ausschlaggebend für eine erfolgreiche Shaw-Aufführung war: “Jeder von euch muss im Kopf behalten, dass er der einzige ist, der recht hat. Alle anderen liegen falsch. Du bist der Star dieser Aufführung. Du bist der moralische Mittelpunkt des Stückes, und sein intellektueller Held. Und du hast nur Erfolg, wenn du alle anderen dazu bringst, zuzugeben, dass du die ganze Zeit recht hattest.”
Damit hat er eine grundlegende Wahrheit des guten Erzählens deutlich gemacht: Jede Figur ist der Held/die Heldin seiner oder ihrer Geschichte – das müssen sie sogar. Jede Figur, die ich schreibe (auch die Nebenfiguren), sind die Personen, die ich sein könnte, wenn ich über ihre Hintergründe, Ziele, Fähigkeiten und Beschränkungen verfügen würde – und ich schreibe diese Figur, als wäre er oder sie der Held.
Dadurch wird es allerdings etwas beunruhigend, Leute wie Berne oder Kollberg zu schreiben.
Am meisten habe ich der Erzählweise des Schauspiels wohl eine starke Präferenz dafür zu verdanken, meine Geschichten als Abfolge scharf umrissener Szenen zu erzählen anstatt in einem kontinuierlichen Fluss. Mir fällt es beim Schreiben am schwersten, Veränderung über Zeit aufzubauen; ich springe lieber zur nächsten guten Szene weiter und überlasse die Entwicklungen dazwischen den Vorstellungen der Leser und Leserinnen. Und ich finde durchaus, dass ich filmisch erzähle. Ein befreundeter Drehbuchautor hat mir einmal gesagt, dass er im Handumdrehen ein Drehbuch aus Heroes Die machen könnte, gleich aus dem Text des Romans; er meinte, dass sogar die Kamerawinkel schon in jeder Szene aufgeführt wären. Ich habe das als Kompliment genommen. Meine Bücher sind im Grunde eine Niederschrift der Filme, die sich in meinem Kopf abspielen.

BP: Der Monolog, eine Art Voice-over, das wir zu lesen bekommen, wenn Caine auf Sendung geht, ist nicht dasselbe, als wären wir in seinem Kopf und würden jeden seiner Gedanken mitbekommen. Ist das von Vorteil? Ist die Auslassung ein Werkzeug, das man einbüßt, wenn man zur Charakterisierung vollkommen in die Figuren eintaucht?

MWS: Mein Interesse an den erzählerischen Einsatzmöglichkeiten der ästhetischen Distanz wurde geweckt, als ich zum ersten Mal Fitzgeralds Der große Gatsby las (in einem für einen Amerikaner sehr fortgeschrittenen Alter, weil ich es irgendwie geschafft habe, die Lektüre in der Schule zu überspringen). Die Faszination, die Gatsby auf Nick ausübt – und damit indirekt auch auf den Leser – schien mir unmittelbar aus Gatsbys Undurchsichtigkeit zu erwachsen. Gatsby ist eine Performance – eine von Jay Gatz geschaffene Figur, der damit nicht nur den Menschen darstellt, als der er von allen gesehen werden will, sondern den Menschen, der er sich wahrhaft zu sein wünscht. Aus diesem Grund ist Gatsby hypnotisierend: er wurde bewusst als wunderschöne Maske entworfen. Ein Kunstwerk im Kunstwerk.
Ich wollte, dass den Lesern klar wird, dass auch Caine eine Performance ist. Dass er eine Figur ist, die Hari Michaelson geschaffen hat, um derjenige sein zu können, der er sein muss: mächtig, gefürchtet und frei. Ich hatte gehofft – und ich hoffe nach wie vor – dass die Leser dadurch angeregt werden, sich zu überlegen, was er jenseits der Vorstellung, die er vor dem Publikum des Studios gibt, wirklich denkt. Und dass sie ein Auge darauf haben, wie genau und weshalb er diese Performance einsetzt, um sein Publikum (und meins) zu beeinflussen. Sprich, dass sie sich ganz kreativ ihr eigenes Bild von dem Mann hinter der Maske erschaffen. Und ich habe gehofft, dass nach und nach klar werden könnte, dass auch Hari Michaelson eine Perfomance ist – mit dem Unterschied, dass das Publikum, vor dem Hari spielt, er selbst ist.
Wenn ich richtig verstehe, was ihr mit “vollkommenem Eintauchen in die Figur” meint – also, dass man dem Leser ungefilterten Zugang zum wahren Charakter gewährt – dann glaube ich, dass es eine Mogelpackung ist. Man kann niemals ganz in eine Figur eintauchen, außer an ihr ist schon von vornherein nicht viel dran. Ich denke, auch unser Charakter ist zum Großteil ein Konstrukt der Vorstellungskraft – dass vieles von dem, was wir zu sein glauben, eigentlich eine Performance ist, die wir für uns selbst vorführen. Rezensenten merken hin und wieder an, dass ich meine Figuren immensem psychologischen Druck aussetze; ich sehe das eigentlich gar nicht so. Ich versuche nur, ihre Masken aufzubrechen.

Acts of Caine
BP: In deinen Romanen geht es oft um die Erkenntnis der Wahrheit, und der Wahrheit näherst du dich häufig in Metaphern (oder auch andersherum, wie es Duncan Michaelson, Haris Vater, ausdrücken würde: “Ist eine Metapher stark genug, schafft sie ihre eigene Wahrheit.”) Hast Du das Gefühl, dass Sprache bzw. Erzählen stark genug ist, um die Wahrheit in einer Zeit zu zeigen, in der vielleicht Bilder und Film die dominierende Kunstform sind? Gibt es etwas, das man erzählen, aber nicht zeigen kann?

MWS: Um es frei nach Nietzsche zu sagen – der im Rahmen seiner bekannteren Beobachtungen zum Wesen des Menschen etliche interessante Dinge über die Kunst des Erzählens zum Besten gegeben hat –, wird die Wahrheit durch die Masken enthüllt, die sie trägt. Dafür ist Kunst da. Es ist eines, jemandem zu sagen, dass es zerstörerisch ist, gegen das Schicksal anzukämpfen, und etwas anderes, wenn man ihm König Ödipus vorführt.
Um nicht zu tief in die Erkenntnistheorie einzutauchen, will ich es einfach dabei belassen, dass die Wahrheit, die mich interessiert, nicht aus Fakten entsteht. Sie ist nicht verifizierbar, messbar oder (genau genommen) auch nur berechenbar. Die Wahrheit, nach der meine Figuren streben, ist Sinnhaftigkeit, und daher ist sie dem Wesen nach subjektiv – man könnte sogar sagen, ein Fantasiegebilde. Es sollte aber klar sein, dass ich mit Fantasiegebilde nicht meine, dass sie nicht vorhanden ist, oder auf irgendeine Weise unwirklich. Fantasie ist nicht nur wirklich, sie ist die Wurzel aller menschlichen Errungenschaften. Sie ist die einzige Superkraft der Menschheit.
Um also auf die Frage zu antworten, ob man mit Worten Wahrheiten ausdrücken kann, die nicht zu zeigen sind, dann würde ich nein sagen. Natürlich nicht. Worte sind nur Zeichen auf Papier. Vibrationen in der Luft. Allerdings haben Worte eine einzigartige Fähigkeit, die Fantasie derjenigen anzuregen, die sie lesen oder hören … und an dieser Stelle spielt sich dann die ganze Magie ab.

BP: Alle, die von stereotypen Frauenfiguren in der Genreliteratur die Nase voll haben, werden positiv überrascht sein, wenn sie einen deiner Romane zur Hand nehmen: Ob man sich nun Barra ansieht, die piktische Söldnerin und ehemalige Prinzessin aus Eiserne Dämmerung und Mond über Jericho, oder die schonungslos effektive Avery Shanks, kämpferisch als Großmutter und Unternehmer, und natürlich die Pferdehexe, die schlicht und ergreifend die coolste Heldin ist, der ich bisher in einem Buch begegnen durfte – sie alle scheinen sich Klischees zu entziehen, und sogar deine Prinzessin Leia ist dafür bekannt, ordentlich auf den Putz zu hauen. Was hat dich dazu bewogen, einen anderen Pfad als deine Kollegen einzuschlagen?

MWS: Irgendwie habe ich es geschafft, einen Bogen um die männliche “Mädchen sind eklig”-Entwicklungsstufe zu machen. Was mich im Lauf der Jahre zu dem unausweichlichen Schluss geführt hat, dass Frauen Menschen sind. Und dass Menschen zuallererst Menschen sind, und Männer, Frauen, jedwede Zusammenstellung aus beidem (oder sonst etwas; ich bin da offen) erst an zweiter Stelle. Vielleicht auch an fünfter Stelle. Ich weiß, das klingt radikal, aber da habt ihr es. Es ist mir jedoch ganz klar, dass es nicht zweckmäßig ist, eine Frau als Mann mit Titten zu schreiben, genauso wenig wie ein Mann lediglich eine Frau mit einem Schwanz ist.
Schaut mal: Es gibt etliches, was Frauen freiwillig machen und ich als Mann gar nicht. Zum Beispiel Make-up tragen. (Und das liegt nicht daran, dass ich nicht weiß, wie das geht; ich war Schauspieler. Ich weiß ziemlich genau, wie ich mich hübsch machen kann.) Es ist nur so, dass ich nach und nach erkannt habe – auch wenn mir dabei von Natur aus im Wege steht, dass ich als männlicher, heterosexueller Amerikaner geboren wurde -, dass eine Frau, die sich schminkt, das nicht macht, weil sie eine Frau ist. Sie schminkt sich vielleicht, weil sie sich einer gesellschaftliche Norm anpasst. Um ihre Attraktivität zu erhöhen, oder um anzudeuten, für welche Arten zwischenmenschlicher Interaktion sie offen ist und von welchen sie lieber verschont bleiben möchte. Um jünger auszusehen, oder älter, oder einfach anders. Um persönliche Macht auszudrücken, oder um ihre Bereitschaft zur Unterwerfung anzuzeigen, oder beides. Um aufzufallen oder sich einzufügen. Vielleicht ist es aber auch nur eine Gewohnheit, über die sie gar nicht richtig nachdenkt. Oder ein anderer aus einer Vielzahl von Gründen, oder überhaupt kein Grund.
Etliche Männer schminken sich übrigens aus einem oder allen der oben genannten Gründe – das Problem, das einige (meist männliche) Autoren offenbar haben, ist jedoch, dass sich der Autor für den Grund interessiert, wenn eine seiner männlichen Figuren Make-up auflegt, aber wenn eine weibliche Figur das tut, interessiert sich der Autor eigentlich gar nicht dafür, denn Mädchen schminken sich nun mal. Jedes Mädchen will doch hübsch aussehen, stimmt’s? Stimmt’s?
Nun ist es eigentlich so, dass sich viele der Frauen in meinen Büchern nicht groß schminken (auch wenn eine gewisse alderaanische Prinzessin eine ziemlich raffinierte Barra/Schicksal-ZyklusFrisur hat). Es ist auch so, dass sie, wie sich einige Leute beschwert haben, keine sonderlich typischen Frauen sind. Die Frauen in meinen Büchern neigen dazu, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Was diejenigen, die sich beschweren, häufig nicht sehen, ist die Tatsache, dass die Männer in meinen Büchern auch dazu neigen, klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet zu sein, die sie außerordentlich gefährlich machen. Das liegt daran, dass normale Leute meistens ein bisschen dumm sind, vorsichtig, wenn nicht gar ängstlich, wenig einfallsreich, nett und so unversehrt, dass sie im Allgemeinen ungefährlich sind, und daher ist es nicht sonderlich interessant, über sie zu schreiben.
Zum Teil mag es auch daran liegen, dass sich Barra ursprünglich meine Ex-Frau (und sehr gute Freundin) Robyn Drake ausgedacht hat, und einige andere Frauen in meinen Büchern wurden von ihr inspiriert, und Robyn ist selbst klug, wagemutig, findig, mitunter grausam und von Verletzungen gezeichnet, die sie außerordentlich gefährlich machen.
Vielleicht schreibe ich nur über das, was ich kenne.

BP: Hari/Caine ist selbst zu dem Zeitpunkt, als man ihm in Heroes Die zum ersten Mal begegnet, kein junger Mann, der sich seinen Platz in der Welt erst schaffen muss. Wir treffen sein jüngeres Selbst in Caine Black Knife, aber du hast einmal gesagt, der jüngere Caine, den man im Rückblick sieht, würde dich nur im Unterschied zu seiner älteren Version interessieren. Welche Möglichkeiten siehst du, wenn du die Geschichte eines gereifteren Helden erzählst? Können solche Geschichten auch Leser und Leserinnen ansprechen, die eher typische Coming-of-Age-Geschichten gewohnt sind?

MWS: Unschuld interessiert mich nicht. Wenn ihr mir die unanständige Metapher nachseht: So etwas wie tollen Sex mit einer Jungfrau gibt es nicht.
Mir gefallen Profis. Mir gefallen Experten. Mir gefallen intelligente, kreative Leute. Ich sehe gerne intelligenten Profis dabei zu, wie sie ihre Expertise auf kreative Art und Weise ausüben. Stümperei in allen Formen langweilt mich schnell – um nicht zu sagen sofort.
Schaut, es gibt jede Menge tolle (habe ich zumindest gehört) Coming-of-Age-Fantasy-Abenteuer. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich zu diesem Thema etwas Brauchbares beizutragen hätte. Ob nun meine Bücher Fans der Tapferen Prinzessen, die das Königreich rettet, ansprechen können – nun, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass das nicht der Fall ist.

BP: Fantasy und SF Marke grim&gritty und zynische Helden sind groß in Mode gekommen, seit du vor fünfzehn Jahren Heroes Die veröffentlicht hast. Aber in deinen Romanen geht es auch um das Erhabene und Trost. Wo hat für dich der Zynismus seine Grenzen oder gar ein Ende?

MWS: Zynismus? Caine ist ein Idealist (wenn auch mit einer nicht gerade sentimentalen Vorstellung vom Wesen des Menschen). Er weiß, dass wir besser sein können, als wir sind. Es macht ihm nicht einmal etwas aus, dass wir uns dagegen entscheiden, solange wir nicht jemanden behelligen, der ihm wichtig ist. Leider landen Leute, die sehr gute schlechte Menschen abgeben, häufig in mächtigen und einflussreichen Positionen, wo sie die Welt (wenn sie es wollten) etwas weniger beschissen gestalten könnten, aber sich stattdessen entscheiden, noch mehr Scheiße beizusteuern, und wenn ihr ganzer Scheißhaufen dann in Caines Leben hinüberschwappt, nun, dann …
Ich selbst bin nur im klassischen Sinne ein Zyniker oder vielmehr Kyniker – ich halte es also wie Diogenes: Die mich beschenken, umwedle ich, die mir nichts geben, belle ich an, und die Schufte beiße ich.
Ich habe einmal eine Kurzgeschichte ganz konkret über die Grenzen des modernen Zynismus (oder, wie man eigentlich sagen müsste, Nihilismus) geschrieben. Sie heißt “In the Sorrows” und darin geht es – alles andere als zufällig – um den jungen Hari Michaelson, der eines Tages zu Caine heranwachsen wird. Ihr findet sie hier.
Sie fasst alles zusammen, was ich zu diesem Thema zu sagen habe.

BP: Gewalt ist ein Kernthema in deinen Romanen. Ist extreme Gewalt ein notwendiges Werkzeug, um gute Geschichten zu erzählen? Was, wenn man sie als reine Unterhaltung betrachtet, wie in den “Rollenspiel”-Abenteuern, die die Massen in der gar nicht mal so weit entfernten Zukunft der Acts of Caine konsumieren?

MWS: Eine sorgfältige Untersuchung von Gewalt als Form der Unterhaltung ist das Hauptthema von Heroes Die. Danach würde ich sagen, dass es weniger ein Thema als eine Grundgegebenheit des Universums ist, vor allem, wenn eine der Hauptfiguren auf so spektakuläre Weise zur Gewalt neigt, wie es bei Caine der Fall ist.
Ich glaube nicht, dass Gewalt allgemein ein grundlegendes Werkzeug des Geschichtenerzählens ist … aber für mich trifft das offenbar schon zu. Ich habe einmal einen Schreibkurs bei Gary Gildner belegt, einem renommierten Dichter; seine Bemerkung zum meinem Abschlussprojekt war wortwörtlich: “Sie könnten eines Tages ein guter Schriftsteller sein, wenn Sie nur Ihre Besessenheit mit Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter sich lassen.” Ich erinnere mich lebhaft daran, dass ich dachte: “Gewalt, Wahnsinn und Tod hinter mir lassen? Was gibt es denn sonst noch?”
Auch der Faktor der künstlerischen Verantwortung spielt hier mit hinein. Ich fühle mich verpflichtet, Gewalt so ehrlich darzustellen, wie es mir möglich ist: Dass sie immer traumatisch, häufig entsetzlich, manchmal lebenserschütternd ist, aber trotzdem auch unendlich faszinierend, bisweilen läuternd, und von Zeit zu Zeit macht sie richtig Spaß.

BP: Mit Figuren wie Berne und Kollberg trägt das reine Böse sehr menschliche Züge, dahinter steht aber auch ein göttlicher Antrieb. Glaubst du, dass das Böse als Eigenschaft des Menschen (oder manchmal sogar als Gabe, denn die Welt scheint ihren soziopathischen Helden zu brauchen) eine Institution benötigt, um sich zu entfalten? Oder ist die Neigung zum Weg des geringsten Widerstands letztlich verheerender und anfälliger für Institutionalisierung?

MWS: Das Wort böse ist mir in diesem Zusammenhang nicht ganz geheuer. Eigentlich in fast keinem Zusammenhang. Es ist zu abstrakt, als dass man es für etwas anderes als einen Begriff der allgemeinen Missbilligung nutzen könnte. Nicht alles Böse ist gleich beschaffen.
Um genauer zu sein:
Berne hat das, was Kriminalpsychologen als malignen Narzissmus klassifizieren würden; in seiner Vorstellung existieren andere Menschen ganz zu seinem Vergnügen, das reicht von der Befriedigung seiner niederen Gelüste bis dahin, einfach angemessen ehrfürchtig vor der ihm eigenen Herrlichkeit zu erstarren. Der institutionelle Anteil an Bernes Bösem ist eine Frage der Zweckmäßigkeit – er könnte auf sich gestellt genauso fröhlich Leute vergewaltigen, foltern und ermorden. Durch seine Beziehung zu Ma’elKoth wird es ihm lediglich möglich, das Ganze zu tun, ohne sich um negative Folgen Gedanken machen zu müssen. Bernes Konzept von richtig und falsch ist in der Praxis Spaß und Ma’elKoth könnte sich aufregen.
Kollberg ist dagegen ein reiner Angestellten-Typ; er misst seinen persönlichen Wert daran, wie gut er seiner Institution und seiner Gesellschaft dient. Er wird gerne für seine Fähigkeiten belohnt, aber ihm reicht auch ein freundliches Kopftätscheln und ein ernst gemeintes: “Gut gemacht!” Er strebt wirklich danach, ein guter Administrator zu sein – um das Ansehen seiner ganzen Kaste zu erhöhen, indem er den Gewinn und die gesellschaftliche Einflussnahme des Studios maximiert.
Ich will die Unterscheidung jedoch nicht überbewerten – immerhin besteht zwischen Berne und Kollberg eine eindeutige metaphorische Verbindung, denn Kollberg wird in einer sehr ähnlichen Funktion zum Diener des Blinden Gottes, wie Berne Ma’elKoth dient – aber der Kontrast zwischen beiden sagt genauso viel aus wie die Übereinstimmungen. Ma’elKoth strebt zum Beispiel danach, Bernes schlimmste Regungen zu bändigen, während der Blinde Gott sie bei Kollberg freisetzt.
Ich leide schon an einer instinktiven Abneigung und Argwohn gegen Institutionalisierung – aber nur, weil sie offenbar dazu führt, dass Einzelpersonen sich für den Charakter und das Vorgehen der Institution weniger verantwortlich fühlen. Wie Caine sagt: “Der Blinde Gott ist nicht böse. Menschen sind böse. Er ist zerstörerisch, weil wir es sind.”

Acts of Caine - Ebooks
BP: Das Fantasy-Setting der Acts of Caine, Overworld, nimmt viele Traditionen des Genres auf – es gibt dort Elfen, Diebesgilden, Zwerge und vieles mehr. Aber anders als die meisten traditionellen Fantasy-Settings ist es auch ein Ort, an dem man erstaunlich moderne Fragen und Themen verhandeln kann. Wo liegen die Grenzen und Möglichkeiten der Fantasy, und muss man das Genre sehr gegen den Strich bürsten, um das Beste herauszuholen?

MWS: Grenzen der Fantasy? Macht ihr Witze? Es gibt keine.
Fantasy ist nicht einmal ein Genre. Jede Literatur ist Fantasy. Andere Literatur”genres” sind nur Fantasien, die von einer gewissen Einengung durch Klischees, Setting und Plot abgezirkelt werden. Die einzigen Grenzen der Fantasy an sich sind die Fähigkeiten ihrer Schöpfer und die Vorstellungskraft des Publikums.
Ich habe einmal eine Rezension von Blade of Tyshalle entdeckt, in der der Rezensent falsch aus einem Interview zitiert hat, das ich vor langer Zeit gegeben habe; er hat behauptet, ich hätte geschrieben: “Alles, was man über das Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: “Alles, was man über mein Leben wissen muss, kann man in meinen Büchern finden.” [Kursiv vom Autor] Ich erhebe nicht den Anspruch darauf, tiefe Einsichten in die Wirklichkeit zu haben, oder in den Sinn des Lebens auf dieser oder einer anderen Welt; ich versuche den Leuten nur zu zeigen, was meinen Figuren widerfährt, und wie meine Figuren mit ihren Erfahrungen umgehen. Ich glaube nicht, dass es an mir ist, die “wahre Bedeutung” der Geschichte oder irgendwelcher Einzelheiten darin zu erklären; meine Aufgabe ist es, euch die Bestandteile zu zeigen, die mir bedeutsam erscheinen, und euch zu euren eigenen Schlüssen kommen zu lassen. Am ehesten erkläre ich grundlegende Wahrheiten noch, wenn ich hin und wieder verlauten lasse, woran bestimmte Figuren glauben. Es liegt an euch, zu entscheiden, wie richtig oder falsch sie liegen.
Ansonsten verweise ich auf meine Anmerkungen weiter oben zum Thema Kunst, Wahrheit und Vorstellungskraft.

BP: Wo wir gerade bei Overworld waren … wie viel davon haben wir bisher zu Gesicht bekommen? Und wie viel das Publikum von Adventures Unlimited, dem Unternehmen, das die Aktiri dorthin schickt, damit sie “auf interessante Weise das Zeitliche segnen”?

MWS: Wollen wir mal sehen. Wir waren in Ankhana, Purthin’s Ford, Thorncleft, Mithondion und der Grafschaft Faltane. Was man alles zusammen locker in einem Stück Westeuropa unterbringen könnte. Als Diskussionsgrundlage kann man sich das übrige Overworld also als “alles außerhalb von Frankreich” vorstellen.
Es ist eine große, alte Welt da draußen.

BP: In den Acts of Caine führt Eskapismus (in der Form von Unterhaltung für die unterdrückte Gesellschaft, und viel direkter für Hari) zu Ausbeutung und Schlimmerem, auch wenn die Flucht von einer gewalttätigen Neigung getrieben wird, weniger vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort. In letzter Zeit scheint eine Extra-Portion Düsternis die Antwort auf die Kritik zu sein, dass Fantasy eskapistisch ist. Ist es heutzutage einfacher, in trostlose und grausame Welten zu fliehen, im Gegensatz zu den märchenhaften Welten, die die Fantasy in der Vergangenheit dominiert haben?

MWS: Eskapismus ist nur selten vom Wunsch nach einem sicheren Zufluchtsort getrieben. Der Antrieb ist beinahe immer der Wille zur Macht. Düsternis und Gewalt sind in der Fantasy noch nie eine Antwort auf die Kritik gewesen, das Genre wäre eskapistisch; jede Fiktion ist Eskapismus. In der Fantasy dürfen wir uns zumindest in eine Wirklichkeit flüchten, in der die Figuren die Macht haben, ihr Leben zum besseren zu wenden. Was die “märchenhaften Welten” angeht, also, habt ihr in letzter Zeit mal Robert E. Howard gelesen? Oder Fritz Leiber? Stephen Donaldson vielleicht? Zum Teufel, sogar Mittelerde ist ein verfluchter Alptraum, sobald man das Auenland einmal hinter sich lässt – und die fröhliche Landadel-Behaglichkeit des Auenlands ist eindeutig nur deswegen möglich, weil Gandalf und die Waldläufer es vor dem Rest der Welt sicher halten.

BP: Jeder Roman aus den Acts of Caine (außer vielleicht Caine Black Knife, das enger mit dem Nachfolger Caine’s Law verbunden ist) hat ein zufriedenstellendes und fest umrissenes Ende. Ich zum Beispiel war sogar so glücklich mit dem Ende von Blade of Tyshalle, dass ich gezögert habe, mit Caine Black Knife anzufangen. War es für dich schwer, Neuanfänge nach dem Ende zu finden?

MWS: Nun, es gibt einen Grund, weshalb Caine Black Knife sieben Jahre nach der Veröffentlichung von Blade of Tyshalle erschienen ist … und dieser Grund heißt: den Lebensunterhalt mit Star-Wars-Romanen und etwas anderem Kram bestreiten. Es wird mir niemals schwerfallen, neue Geschichten über Caine zu finden. Aber es macht richtig viel Arbeit, sie gut zu erzählen, und es wirft nicht sonderlich viel ab.
Ich hatte niemals die Absicht, ein Serienautor zu werden. Ich hatte niemals die Absicht, Leute mehr Bücher kaufen zu lassen, damit sie herausfinden, wie eine meiner Geschichten endet – der einzige Grund, weshalb Act of Atonement in zwei Bänden erschienen ist, liegt daran, dass es eigentlich zwei verschiedene Geschichten sind, die zusammen eine größere ergeben (ungefähr so, wie sich die beiden Erzählstränge in Caine Black Knife miteinander verbinden), und ich fand keine Möglichkeit, das alles sinnvoll in einem einzigen Band unterzubringen. Davon, dass es noch länger als Blade gewesen wäre, spreche ich noch gar nicht, und es hätte einen ganz schönen Klotz von einem Taschenbuch ergeben.
Die Acts of Caine sind Bücher mit Ausstiegsoption. Leute, denen Heroes Die gefällt, müssen nicht unbedingt Blade lesen; Leute, denen HD und Blade gefallen, müssen nicht unbedingt CBK und CL lesen. Ich hoffe natürlich, dass ihr es lesen wollt – in meiner Vorstellung eines anständig geführten Universums kauft jeder, der darin lebt, jedes Buch, das ich schreibe – aber bisher habe ich versucht, euch von dem Zug abspringen zulassen, wann immer ihr haltmachen wollt.

BP: Wir wollen doch mal hoffen, dass der Zug noch etliche Stationen anfährt und eine Menge Leute zusteigen – in diesem Sinne vielen Dank für das Gespräch!

Den englischen Originaltext findet ihr hier.

Zettelkasten

In diesem Frühsommer ist Tobias O. Meißners jüngster Roman Barbarendämmerung erschienen und noch heuer soll der dritte Band seiner Reihe Hiobs Spiel veröffentlicht werden. Er ist einer der experimentierfreudigsten deutschsprachigen Phantastikautoren und hat sich ein bisschen Zeit freigeschaufelt, um für Bibliotheka Phantastika ein paar Fragen zu beantworten und spricht mit uns unter anderem über seinen jüngsten Roman und seine neuesten Projekte …

Cover von Frauenmörder von Tobias O. MeißnerBilbiotheka Phantastika: Hiobs Spiel wird demnächst bei Golkonda fortgesetzt, dein sonstiger Hausverlag ist Piper. Wie siehst du deine Situation als Autor heute zwischen großen Publikumsverlagen und kleinen Liebhaberprojekten, zwischen Self-Publishing und traditionellen Formen?

Tobias O. Meißner: Für mich ist es natürlich komfortabel, dass ich einerseits in Zusammenarbeit mit einem Publikumsverlag verhältnismäßig sicher meine Brötchen verdienen kann, andererseits aber auch für völlig verrückte und unbequeme Projekte noch Abnehmer finde. Kreativ betrachtet ist der Unterschied zwischen beidem jedoch gar nicht so groß, wie man glauben könnte. Das liegt daran, dass Piper mir erstaunlich freie Hand lässt beim Gestalten meiner Projekte.

bp: Zu deinem Mammut-Zyklus ist mit Die Vergangenheit des Regens letztes Jahr nach 6 der geplanten 12 Bände ein “Finale” erschienen: Ist das das Ende? Gibt es in Zeiten des eBooks eventuell eine Möglichkeit, die Geschichte fortzuführen, oder soll sie mit den vagen Aussichten am Ende von Band 6 offen bleiben?

TOM: Ich würde das Projekt sehr gerne noch so wie ursprünglich geplant zuende führen, also: zwölf Bände, Gesamtumfang 4000 Seiten. Immerhin ist der gesamte Handlungsverlauf bereits detailliert schriftlich entworfen worden.
Das Problem dabei ist halt die Finanzierung. Ich würde für jedes fehlende Buch ein halbes Jahr Arbeitszeit brauchen, also drei Jahre für den gesamten Rest. Diese drei Jahre über muss ich jedoch meine Miete zahlen können, und das scheint im Augenblick mit diesem Projekt nicht möglich zu sein. Aber ich betrachte das langfristig. Wer weiß, wie sich die Lage in ein paar Jahren geändert haben wird.

bp: Die RPG-Elemente im Mammut, Das Paradies der Schwerter, bei dem die Ergebnisse ausgewürfelt wurden, Hiobs Spiel: Inwiefern prägt der Spiel-Gedanke deine Literatur? Kommst du oft aus dieser Richtung, mit ungewissen Ausgängen, festen Regeln oder der Betrachtung von Literatur allgemein als Spielwiese?

TOM: Ich finde, dass Spielregeln etwas Philosophisches haben: Sie versuchen, komplexe Geschehnisse zu ordnen und erfahrbar zu machen. Sie sind gleichzeitig abstrakt und konkret. Genau wie gute Literatur. Ich sehe da Zusammenhänge, wahrscheinlich beeinflussen sich deshalb Buch und Spiel bei mir immer gegenseitig.

Cover von Das Paradies der Schwerter von Tobias O. Meißnerbp: Fast alle deine Werke, vom Debut Starfish Rules bis zum aktuellsten Roman Barbarendämmerung, setzen sich aus vielen, kleinen in sich geschlossenen Texten/Geschichten/Abenteuern zusammen, die sich in ein größeres Ganzes fügen, woher kommt diese Art des Erzählens – von Pen-&-Paper-Rollenspielen, von Computerspielen?

TOM: Eher von meinem Faible für Comics. Das serielle Erzählen, das Plotten in Fortsetzungen bin ich von Comics und Romanheften gewöhnt, Literaturformen meiner Kindheit. Und ich habe darin immer sehr große Stärken gesehen. Heute verfahren auch Fernsehserien nach diesem Muster. Es gibt sowohl Episodenzusammenhänge als auch einzelne Episoden, die für sich stehen, aber Randbereiche der Gesamtserie ausloten. Das ist ein ausgesprochen komplexes und ergiebiges Feld.

bp: An die vorherige Frage anschließend: Würde es dich reizen, mehr Kurzgeschichten zu schreiben oder ist es gerade der große Rahmen, der diese zusammenhält, der für dich interessant ist?

TOM: Tatsächlich fasziniert es mich am meisten, wenn das Kurze Teil eines Größeren ist. Ich finde, dass dann das Kurze sowohl zur Geltung kommt, als auch einem übergeordneten Ziel dient. Das beste beider Welten sozusagen.

bp: In einem Interview vor ein paar Jahren hast du dich mal dazu geäußert, mit einer zwölfbändigen Fantasy-Reihe (dem Mammut-Zyklus *g*) Neuland zu betreten. Ist diese Form deiner Meinung nach gescheitert – es kommen ja generell in letzter Zeit eher einzelne oder lose verbundene Bände heraus als lange Fantasy-Reihen, und auch deine letzten Sachen waren Einzelbände?

TOM: Es sieht so aus, als gäbe es für ausgeklügelte Zyklen á 4000 Seiten momentan nur einen sehr, sehr engen Markt. Aber wie gesagt kann das in zehn Jahren ja schon wieder ganz anders aussehen.

bp: Du hast ja nun schon mehrere Romane veröffentlich, die formal unter die sogenannten “Völkerromane” fallen. Ist das ein notwendiges Übel, oder bist du der Meinung, dass man sich diese Form auch zu eigen machen kann?

TOM: Ich hatte ja vollkommene kreative Freiheit und musste keines von Tolkiens Völkern nehmen. Das hätte mich überhaupt nicht gereizt, da wäre ich mir wie ein Wilderer vorgekommen. Aber so, mit der Dämonen-Trilogie, konnte ich in einem bereits etablierten Format etwas vollkommen Eigenständiges machen. Und so zu arbeiten ergibt für mich in jeder Hinsicht sehr viel Sinn.

bp: Beim Mammut stand zunehmend die Frage nach dem richtigen Handeln im Vordergrund (z.B. wenn Ökos es mit autochthonen Völkern zu tun haben).Wie kann Fantasy Fragestellungen behandeln, die für den modernen Menschen von Belang sind? Und was für Fragen treiben dich um?

TOM: Fantasy kann wirklich ALLE Fragen behandeln, von der sexuellen Unerfüllbarkeit bis hin zum Völkermord. Und da mich Grundprobleme von Ethik, Menschlichkeit, Unmenschlichkeit und verantwortungsvollem Handeln („Wie weit würdest du gehen, um einer gerechten Sache zu dienen?“) brennend interessieren, werden diese Bereiche auch immer wieder in meinen Romanen eine wichtigere Rolle spielen als zum Beispiel die Frage „Kriegen sie sich am Schluss?“ (an deren Antwort „Ja“ ich nie so richtig glaube, weil sie sich ja fünf Tage später schon wieder scheiden lassen können …)

bp: (Phantastische) Literatur kann entweder subversiv-aufrüttelnd sein oder affirmativ-tröstend; bei dir steht ja eher ersteres im Vordergrund. Mit welchen Mitteln versuchst du deine LeserInnen aus der Komfortzone zu locken?

TOM: Ich scheue mich nicht, dahin zu gehen, wo’s wehtut.
Und was ich auch überhaupt nicht mag, sind eindeutige Gut-Böse-Zuordnungen. Wenn Fantasy nur noch Kitsch ist, dann gehört sie meiner Meinung nach eingestampft. Und aus der Pulpe solch zahnlosen Mainstreams könnte man dann wahnwitzig subversives Zeug drucken.

Cover von Barbarendämmerung von Tobias O. Meißnerbp: Du hast in einem Interview anlässlich der Leipziger Buchmesse gesagt, dass du von deinem Leben in Neukölln zum Roman Barbarendämmerung inspiriert worden bist, möchtest du dazu ein bisschen was sagen? Angesichts der laufenden Migrationsdebatte ist der Roman mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Wertesysteme und der Mischung aus Furcht und Faszination, die dem „Anderen“ entgegengebracht wird, hochaktuell.

TOM: Es geht nicht nur um Migranten, sondern ganz allgemein um eine Gesellschaftsschicht, die niemals Bücher liest, aber immer großspurig auftritt und sich mit Gewalt Gehör zu verschaffen sucht. Neukölln war jahrelang ein schmuddeliger Problembezirk (ich lebe seit über zwanzig Jahren hier), und in den letzten Jahren wurde es von Hipstern zum Trend erklärt. Das ist absurd, weil die Barbaren sich dadurch nur umso entschlossener zusammenrotten werden, um ihre Recht aufs Barbarenbleibendürfen einzufordern.

bp: Die Gewaltdarstellung ist in den meisten deiner Werke sehr explizit. Wann ist für dich die Grenze zwischen „Gewalt als Stilmittel“ und „Gewalt als Selbstzweck“ überschritten?

TOM: Ich sehe das gar nicht als Gegensatzpaar. Ich setze Gewalt sehr bewusst ein, um Handlung zu beschleunigen, so, wie ein Choreograph Tanzsprünge einsetzt oder ein Maler Action Painting. Es geht mir nicht immer um ein Hinterfragen und Problematisieren á là „Gewalt ist keine Lösung“. Davon gehe ich ohnehin aus, und 99 % aller Leser ebenfalls. Aber wenn ich einen Roman wie Barbarendämmerung mache, muss die Gewalt zum Selbstzeck werden, muss sogar stellenweise zum alleinigen Inhalt heranreifen können. Ansonsten würde ich mich um das Thema der Barbarei herum mogeln, und dann braucht man ein solches Buch ja gar nicht erst zu beginnen.

bp: Kann man wirklich annehmen, dass ein Großteil der LeserInnen bei einer plakativen Gewaltdarstellung die (gewalt-)kritische Metaebene entweder schon hat oder gleich mitrezipiert? Gerade unter dem Gesichtspunkt – um einen direkten Werkbezug herzustellen – dass du in Barbarendämmerung zeigst, wie fadenscheinig die Grenzziehung zwischen „Barbarei“ und „Zivilisation“ ist, besteht doch auch immer die Gefahr, dass die unproblematisierte Darstellung von Gewalt auch aus den falschen Gründen von Lesern geschätzt werden und eine fragwürdige positive Resonanz hervorrufen könnte.

TOM: Bücher sind eine sehr abstrakte Angelegenheit. Sie können nicht so unmittelbar körperliche Reaktionen auslösen wie z. B. Musik das kann, oder auch Filme oder Computerspiele (die ja beide ebenfalls mit Musik arbeiten). Dass jemand durch das Lesen einer ausschließlich mit Buchstaben bedruckten Seite zum axtschwingenden Killer wird, ist vielleicht höchstens in einem religiös fanatisierten Kontext denkbar, bei Fantasy und anderen unterhaltsamen Abenteuerromangenres jedoch noch niemals vorgekommen. Und wenn jemand sagt: „Die Gewalt in Meißners Büchern ist geil!“, dann findet diese Begeisterung immer noch auf einer harmlosen, weil eben sehr abstrakten Ebene statt, und muss nicht sonderlich beunruhigen.

bp: Du arbeitest hauptsächlich mit männlichen Protagonisten – Frauen sind bei dir tendenziell eher Randfiguren. Liegen dir männliche Figuren eher, oder hast du das Gefühl, dass sie erzählerisch mehr Möglichkeiten bieten?

TOM: Dieser Missstand ist mir selbst schon vor zwei Jahren bewusst geworden. Deshalb gibt es in dem Manuskript, an dem ich gerade arbeite, überhaupt keine wichtige Männerfigur mehr, sondern lediglich zwei handlungstragende Frauen, in meinem nächsten Buch für Piper wird eine Frau die Protagonistin sein, und in Die Dämonen – Am Ende der Zeiten war die Hauptfigur ein Hermaphrodit, also männlich und weiblich zugleich. Man könnte sagen, da zeichnete sich der Wechsel in meinem Gesamtwerk bereits ab. Aber ich habe vor etwa zehn Jahren schon ein Hörspiel fürs DeutschlandRadio geschrieben, in dem es nur drei Figuren gab, und alle drei waren Frauen.

bp: Wenn du dazu schon was verraten willst – schreibt sich das neue Projekt mit der starken Fokussierung auf Frauenfiguren anders? Was können wir da erwarten?

TOM: Etwas sehr Heikles. Würde ich bei meinem Fokus auf Frauenfiguren die erotische Ebene ausblenden, käme ich mir wie ein Heuchler vor. Also versuche ich, aus einer erotisch faszinierten Sichtweise heraus nicht einfach nur Männerfantasien zu entwickeln, sondern so etwas wie Frauenbeunruhigungen angesichts einer männlich dominierten Perspektive zu formulieren. Klingt kompliziert und ist es auch, mal sehen, ob dabei etwas Außergewöhnliches herauskommt.

Die dunkle Quelle von Tobias O. Meißnerbp: Du arbeitest mit Querverweisen zwischen deinen eigenen Romanen und Zyklen, hast eine Verbindung zwischen deiner Mammut-Reihe und dem Zeitalter der Wandlung deines Kollegen Markolf Hoffmann geschaffen: Sind das Gelegenheiten, die du beim Schopfe packst, oder steckt mehr dahinter?

TOM: So jemanden wie Markolf Hoffmann muss man einfach am Schopfe packen, wenn er des Weges kommt, man kann ja vorher nicht wissen, dass es so ein Talent überhaupt gibt. Was Querverweise innerhalb meiner eigenen Bücher angeht, plane ich sehr langfristig. So ist Das Paradies der Schwerter beispielsweise in meinem Roman Neverwake eine Art Kultroman mit gesellschaftsrelevanten Auswirkungen. Und sogar zwischen Hiobs Spiel und Im Zeichen des Mammuts gibt es eine seit Jahrzehnten vorbereitete Verzahnung.

bp: Wenn du darüber schon etwas verraten möchtest, würde uns interessieren, wie du angesichts dessen die weitere Entwicklung des Hiobs Spiel-Zyklus planst?

TOM: Darüber möchte und kann ich eigentlich nicht allzu viel verraten, weil Hiobs Spiel außer seiner insgesamten Laufzeit von 50 Jahren keinen Regeln unterworfen sein soll. Das heißt, dass ich keine Versprechungen machen möchte, weil ich jederzeit auch wieder alles umstürzen könnte. Ich habe aber grobe thematische Abläufe für die Bände 4, 5 und 6 im Kopf. Darüberhinaus – und ob es überhaupt mehr als sechs Bücher werden – bin ich überfragt.

bp: Im Mammut spielen göttliche Eingriffe in den Weltenlauf eine große Rolle, und auch hinter Das Paradies der Schwerter steckt letztlich ein ähnliches Thema. Inwiefern reflektierst du in deinem Schreiben, dass der Autor Gott auf seiner Welt ist, oder eben Gamemaster?

TOM: Der Autor ist Gott. Es sei denn, er beschließt zu würfeln. Dann wird er zum rasenden Reporter.

bp: Für dieses schöne Schlusswort und das ganze Interview sagen wir vielen Dank!

Zettelkasten

Ken Scholes, dessen auf fünf Bände ausgelegte Fantasy-Reihe Psalms of Isaak auch auf Deutsch erscheint, startete seine schriftstellerische Karriere mit Kurzgeschichten; mit einer davon gewann er 2005 den Writers-of-the-Future-Award. Aus einer weiteren Geschichte stammen auch der Metallmann Isaak und Rudolfo, der Zigeunerkönig, zwei Figuren, die sich als Protagonisten des Romans Lamentation (2008) und dessen Nachfolger ebenfalls hervorragend machten. Scholes lebt mit seiner Frau und seinen Zwillingstöchtern in Oregon und schreibt in seiner freien Zeit am vierten Band seiner Saga, wenn es sein muss, auch mit Kind im anderen Arm. Trotzdem hat er in seinem stressigen Terminplan die Zeit freigeschaufelt, für Bibliotheka Phantastika ein paar Fragen zu beantworten, und hat für uns sogar in seinen alten Photoalben geblättert …

Bilbiotheka Phantastika: Anders als viele andere US-Autoren, die ins Deutsche übersetzt werden, haben Sie Deutschland schon einmal besucht. Wollen Sie uns etwas darüber erzählen? Was verbinden Sie mit Deutschland?

Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988
Ein verregneter Frühlingstag in Ulm, 1988. © alle Bilder: Ken Scholes.

Ken Scholes: Ich habe sogar von 1986 bis 1988 in Deutschland gelebt – in Kornwestheim in der Nähe von Ludwigsburg und Stuttgart. Ich war als junger Mann dort bei der US Army stationiert, und es war eine jener Erfahrungen, die das Leben verändern, die Welt erweitern und die Augen öffnen. Zu dieser Zeit hatte ich es aufgegeben, Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten zu schreiben, und habe in meiner Freizeit stattdessen gelernt, wie man Predigten und religiöse Lieder schreibt. Ich war damals schon ziemlich weit mit dem Gitarrespielen gekommen und habe daher auch viele Abende damit verbracht, auf den Straßen von Stuttgart Songs von Simon and Garfunkel, Bob Dylan und John Denver zum Besten zu geben.
Während meines Aufenthalts habe ich mich natürlich auch in ein paar deutsche Mädchen verliebt. Und eine große, große Schwäche für die Deutschen, die Kultur und … das Essen entwickelt. Ich habe etliche Wochenenden mit deutschen Familien verbracht, und sogar ein paar Mal mit ihnen Weihnachten gefeiert. Ich habe dort eine wunderbare Zeit verlebt und habe es sehr vermisst. Ich bin schon jahrelang nicht mehr da gewesen, aber ich habe einen Spätzlehobel und habe meine Vorliebe für Jägerschnitzel nie verloren.
Ich will eines Tages unbedingt wiederkommen und hoffe, dass meine Bücher das nicht nur wahrscheinlicher machen, sondern dass sie mir vielleicht auch helfen, einige der deutschen Freunde wiederzufinden, zu denen ich in den zwanzig Jahren, seit ich gegangen bin, den Kontakt verloren habe.

bp: In Ihren Romanen gibt es Roboter, Magie, Geheimbünde, allerlei Steampunk-Elemente und traditionelle Schwertkämpfe, und der Freund von Genreschubladen tut sich schwer bei der Einordnung. Wenn Sie eine Genre-Bezeichnung für Ihre Isaak-Reihe erfinden müssten, wie würde sie lauten?

KS: Also, ich habe beim Schreiben nie ernsthaft groß über das Genre nachgedacht. Ich wollte, dass die Geschichte die Freiheit hat, so zu werden, wie sie werden musste, und sie nicht durch verschiedenste Erwartungen fesseln, die Leser an die Genres herantragen, die sie gerne lesen. Wenn ich einen Namen vergeben müsste, würde ich sagen: postapokalyptische SF, die als Fantasy verkleidet ist und obendrein Stilelemente aus dem Techno-Thriller und dem Krimi enthält.

bp: In den Legenden von Isaak geht es um von langer Hand geplante Intrigen und Ereignisse, in denen die Einflüsse vieler Fraktionen und Einzelpersonen kulminieren. Planen Sie beim Schreiben von langer Hand?

Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.
Ken Scholes in einem alten römischen Badehaus, irgendwo bei Stuttgart, 1987.

KS: Erstaunlicherweise nicht. Ich plane meine Romane eigentlich sehr wenig. Ich denke und schmiede die Pläne unterwegs, lege hier und da eine Pause beim ersten Entwurf ein, um mir Gedanken zu machen, wohin die Geschichte geht. Ich habe Glück, dass ich sowohl instinktiv als auch organisch arbeiten kann, so dass sich die Geschichte entwickeln und entfalten kann, während ich sie schreibe … und dass ich meine Arbeit bis zu einem gewissen Grad dadurch planen kann, dass ich mich rückwärts durcharbeite – meistens entwickle ich die Ereignisse umgekehrt, vom Ende her.
Bei den Legenden von Isaak schreibe ich ohne große Notizen oder Leitfäden. Ich habe nur Karten für einige Teile jener Welt gemacht, weil die Leser sie in den Büchern haben wollten. Bei meinem nächsten Projekt werde ich vermutlich mehr Weltschöpfung und Grundrisse vor den ersten Entwurf stellen, vor allem, weil ich neugierig darauf bin, etwas anderes auszuprobieren. Bei meinen kürzeren Texten wurden, denke ich, etwa zwei Drittel meiner Geschichten spontan und instinktiv geschrieben und etwa ein Drittel vorher ein wenig durchdacht und geplant.

bp: Ihre Kapitel wirken wie prägnante Streiflichter mit einem sehr präsenten eigenen inneren Aufbau. Haben Sie einen schriftstellerischen Zugang aus Ihren Kurzgeschichten in Ihre Romane mitgenommen? Und inwiefern waren Sie vielleicht schon immer Romanautor, wenn man Ihre teils episch-mythischen Kurzgeschichten wie Edward Bear oder The Santaman Cycle betrachtet?

KS: Das ist eine großartige Frage. Ich glaube, dass ich das aus meinen Kurzgeschichten mitgebracht habe – bis ich Sündenfall geschrieben habe, hatte ich nur Kurzgeschichten und Novelletten verfasst, also habe ich gewissermaßen einfach das geschrieben, womit ich mich auskannte. Ich wollte, dass die Szenen als Schnappschüsse aus dem Leben der Figuren dienen – auch nicht unbedingt, um die Action einzufangen, sondern manchmal um der Folgen der Handlungen willen oder der Reaktion der Figuren darauf. Denn so wie ich mir die Geschichte vorstelle, handelt sie nicht von diesem Schrecken, der die Benannten Lande heimgesucht hat, sondern vielmehr davon, wie das Leben der Menschen von diesen Ereignissen verändert wird und wie sie damit umgehen. Alles andere wirkt auf mich sekundär.

bp: Eines beschäftigt viele Leser: „Xhum Y’Zir“ sticht aus Ihrem Namensgebungsmuster etwas heraus. Wie kam es zu dieser Namensschöpfung? Hatten Sie Mitleid mit den letzten Buchstaben des Alphabets?

KS: Ha! Diese Buchstaben haben mir bestimmt einigen Kummer bereitet, aber das XYZ war ein Zufall. Und die Geschichte seines Namens ist eigentlich recht simpel. Der Ausgangspunkt dieser Reihe war eine Kurzgeschichte namens Of Metal Men and Scarlet Thread and Dancing with the Sunrise, und es war nie geplant, dass es mehr als nur eine einzelne Kurzgeschichte hätte sein sollen, die ich für einen Markt geschrieben habe, der sich Geschichten über mechanische Kuriositäten wünschte. Ich habe nicht viel über die Namen nachgedacht. Aber ich brauchte für den uralten Hexer, den ich erwähnte, einen Namen, der sich von den übrigen Figuren und dem Setting abhob … etwas Exotischeres. Ich denke, ich habe den Namen in der ursprünglichen Geschichte nur ein- oder zweimal benutzt, aber als ich mich hinsetzte, um Sündenfall zu schreiben, habe ich so viel von der Original-Geschichte behalten, wie nur möglich, und habe es nie groß neu überdacht, da ich mir nie ausgemalt hätte, dass sich mein erster Roman wirklich verkaufen und auf der ganzen Welt erscheinen würde. Und ich hätte mir nie ausgemalt, dass der Hexer zu einer ganzen Dynastie von Hexern führen würde, die tausend Jahre in meiner Welt zurückreicht.

bp: Begeben wir uns ins Spekulative: Religionsparallelen, „Zar“, „Papst“, Versatzstücke des Lateinischen – manchmal scheinen die Benannten Lande auf die irdische Geschichte zu verweisen. Lebt Rudolfo in einem post-post-(post-)apokalyptischen Europa, oder sehen Sie die Benannten Lande völlig losgelöst von unserer Welt?

Feldübung bei Grafenwohr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).
Feldübung bei Grafenwöhr, 1988 (kurz nach Ken Scholes' 20. Geburtstag).

KS: Bei dieser Frage bin ich etwas zurückhaltend, denn sie wird nach und nach in der Reihe selbst beantwortet. Aber ich kann sagen, dass ich absichtlich einen Flickenteppich aus Titeln, hierarchischen Systemen und Sprachen benutzt habe, um ein Gefühl der Vertrautheit und ein Gefühl von menschlichen Kulturen zu erzeugen, die sich über große Zeiträume hinweg vermischt haben.

bp: In Ihrem Roman Hohelied bietet der Glaube Heimatlosen eine geistige Zuflucht, nährt Hoffnungen oder zerstört diese. Viele Figuren sprechen von „Liebe“, wenn sie die grässlichsten Dinge im Namen ihres Glaubens tun, und andere erstarken dann, wenn die Situation völlig aussichtslos zu sein scheint. Was, denken Sie, ist der stärkere Handlungsmotor? Glaube oder Zweifel?

KS: Ich denke eigentlich nicht im Rahmen von Handlungsmotoren. Ich versuche stattdessen Menschen so “wahrheitsgemäß” wie möglich einzufangen und unsere Widersprüche und Schwächen zusammen mit unseren Stärken und unserer Größe zu zeigen. Auch heute noch gibt es Leute, die glauben, dass es ein Akt der Liebe und des Gehorsams gegenüber ihrem Gott ist, sich eine Bombe umzuschnallen und sie auf einem belebten Platz detonieren zu lassen … oder ein Akt der Treue und Liebe für ihren Stamm, wenn sie ein Gewehr nehmen und sich daran beteiligen, das Gebiet eines anderen Stammes einzunehmen.
Ich glaube, um die ganze Bandbreite der schönen Hässlichkeit der Menschheit einzufangen, müssen Glaube und Zweifel beide gemeinsam mit Liebe und Hass zum Tragen kommen … und um wirklich zu demonstrieren, wie fähig wir tatsächlich zum Guten und zum Bösen sind, glaube ich, dass wir zeigen müssen, wie leicht wir uns selbst und andere in die Irre führen können, so dass wir erschreckende Verhaltensweisen im Namen irgendeines angenommenen größeren Guten rationalisieren und rechtfertigen.

bp: In Hohelied widersetzt sich nicht nur der Mechoservitor Isaak dem Willen seines Erbauers und seines Freundes Rudolfo (und verletzt damit, nebenbei bemerkt, das zweite Gesetz der Asimov’schen Laws of Robotics!). Träumen Sie von einer Maschine, die träumen kann? Oder erschreckt Sie die Vorstellung einer autarken künstlichen Intelligenz?

KS: Ich würde, glaube ich, sagen, dass ich verhalten träume. Menschen haben Maschinen entworfen, um unser Leben einfacher zu machen, uns an Orte zu bringen, an die wir sonst nicht gelangen könnten, Dinge zu tun, die wir normalerweise nicht tun könnten. Ich frage mich unwillkürlich, was geschehen wird, wenn wir eine Intelligenz schaffen, die sich wirklich über das uns Zugängliche hinaus entwickelt. Wird sie uns dabei helfen, denselben Ort zu erreichen? Wie wird sie uns verändern? Ich spiele gerne “was wäre, wenn?” mit diesen Überlegungen, und manche dieser Überlegungen sind tatsächlich ein Teil dessen, was ich mit den Legenden von Isaak erkunde.

bp: In den Genres Fantasy und SF gibt es kaum Grenzen für die Antwort auf die Frage “was wäre wenn?”, nicht einmal die Gesetze der Physik oder die Regeln der Gesellschaft müssen befolgt werden; der Schriftsteller hat die Freiheit, eine ganze Welt um die Frage “was wäre wenn?” zu entwerfen. Können Sie uns ein paar andere “was wäre wenns?” nennen, die Sie inspiriert haben und die Ihre Kreativität beflügeln?

Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.
Ken Scholes zur Preisverleihung des Writers-of-the-Future-Award 2005.

KS: Auf jeden Fall! Das ist die Frage, die meine ganzen Texte antreibt. Was wäre, wenn ein Superheld sich zur Ruhe setzt, sein Vermögen verliert und in ein Altersheim gehen müsste? (Action Team-Ups Number Thirty-Seven.) Was wäre, wenn jeder einen persönlichen Gott hätte, der ihm seine Herzenswünsche erfüllt? (That Old Time Religion.) Was wäre, wenn sich zwei sich durch Dungeons wühlende Charaktere aus D&D treffen, sich verlieben und sich entscheiden, aus dem Abenteurerleben auszusteigen, um eine Familie zu gründen? (Last Flight of the Goddess.) Was ist WIRKLICH zwischen Kain und Abel vorgefallen … und wie hat Kain seine Frau gefunden? (East of Eden and Just a Bit South.) Ich könnte ewig weitermachen.

bp: In Ihrer Welt gibt es eine interessante Wissenskultur: aus den Bruchstücken früherer Hochkulturen erfolgt ein Wiederaufbau auf einer weniger weit entwickelten Stufe (wie bei den alten und neuen Mechoservitoren), und 2000 Jahre hat eine starke Instanz das verbliebene Wissen gehütet. Sehen Sie die Gefahr der Degeneration von Wissen als real an oder ist es ein bewusster Gegenentwurf?

KS: Ich halte es für real. Immerhin sind wir immer noch nicht damit fertig, unsere eigene Frühgeschichte zusammenzustückeln. Wir erfahren die ganze Zeit immer mehr darüber. Und in den Legenden von Isaak ist der größere Kern, um den es mir geht, dass es Leute gibt, die das Gefühl haben, es wäre ihre Aufgabe, den Informationsfluss zu kontrollieren, um die Menschheit vor sich selbst zu schützen … dass jedoch die Kontrolle des Informationsflusses und der Wille, diese privilegierten Informationen einzusetzen, um diese Kontrolle zu erhalten (wie es bei den Androfranzinern der Fall ist) einem das Verderben bringen kann.

bp: Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, eine kirchlich geprägte Fraktion als optimale Hüter des Wissens zu benutzen (wie auch schon Walter Miller jr. in Lobgesang auf Leibowitz)?

KS: Dies ist vielleicht eine Stelle, an der die Übersetzung der Reihe vom Englischen ins Deutsche ein wenig an meinen Absichten gerüttelt hat. Die Androfranziner sind eigentlich im Kern keine echt kirchliche Fraktion. Oder vielleicht drückte man es besser aus, wenn man sagt, sie benutzen die Symbole der Kirche. Sie sind säkularisierte Humanisten … Wissenschaftler, Archäologen, Ingenieure, Verhaltensforscher … die eine religiöse Hierarchie geschaffen und die Errungenschaften der Menschheit (in Form des Lichtes) “vergöttlicht” haben, um sie zu schützen, indem sie sich ihnen mit einer Art religiöser Ehrfurcht und Eifer nähern. Dies ist ein Teil des rückwärtsgewandten Traums, in dem Petronus immer mehr eine Lüge erkennt, die er nicht mehr unterstützen kann. Mit den Androfranzinern spiele ich sehr stark im Sandkasten der Religion, die absichtlich als Werkzeug eingesetzt wird, um eine Gesellschaft zu formen und Überlebende (und überlebendes Wissen) vor wiederholten Kataklysmen zu schützen. Wohingegen ich mit den Y’Ziriten eine eher am Glauben orientierte religiöse Bewegung einbringe, bei der das Blutlösen und die rituelle Verletzung mit dem Messer im Mittelpunkt ihrer Praktiken stehen. Ich dachte, dass diese beide divergierenden Systeme der Reihe einen wahrheitsgemäßeren Ton verleihen, als es bei den traditionellen, eher mit Schwarz-Weiß-Zeichnung arbeitenden Geschichten der Fall ist, in denen sich Gut und Böse gegenüberstehen. Und es sollte eine gute Bühne für das Drama abgeben, das sich darauf abspielt.

bp: Der Bannspruch wird, trotz größter Bedenken, nicht zerstört, sondern bewahrt. Ist die Zerstörung von Wissen noch frevelhafter als das, was mit diesem Wissen in der Hand der Menschen geschehen könnte?

Ken @ Powell's Books, 2010.
Ken @ Powell's Books, 2010.

KS: Das ist eine tolle Frage, finde ich. Manches Wissen – wie die Sieben Kakophonischen Tode – könnte großen Schaden anrichten, wenn es jenen, die das Wissen bewahren, nicht möglich ist, es sicher zu halten. Und solange es Leute gibt, die nichts zu verlieren haben und willens sind, diese schreckliche Macht zu benutzen … Nun, man kann sehen, worauf es hinausläuft. Das ist eine der Fragen, mit denen ich in der Reihe spiele. Aber jenes Wissen zu zerstören – überhaupt Wissen zu zerstören – öffnet die Tür für Zensur und Kontrolle. Es ist besser, wenn wir in unser Wissen hineinwachsen und lernen, wie wir unseren Hang zur Selbstzerstörung mäßigen, wenn wir es können.

bp: Bewegen wir uns vom Wissen der Menschheit zum Wissen eines Autors: Was hat Sie bewogen, nicht nur den üblichen alten Mentor, sondern eine ganze Menge alter oder älterer Männer als Protagonisten zu wählen? Welche erzählerischen Möglichkeiten haben Sie sich davon versprochen?

KS: Ich habe mir vordergründig gar keine Gedanken darum gemacht. Ich wollte mit einigen vertrauten Fantasy-Elementen beginnen – dem weisen und vergessenen König, dem schneidigen Prinzen, der spionierenden Kurtisane, dem Waisenknaben, dem mechanischen Mann (der Marionette) – und diese Elemente dann ein wenig auf den Kopf stellen, während die Geschichte ihren Lauf nimmt. Ich denke, jüngere Protagonisten sind die Norm, und ich habe versucht, mein Ensemble stärker auszuarbeiten, als es um Gender oder Alter ging, daher haben wir Neb und Winters, die beide in ihren Teenager-Jahren sind, Jin Li Tam in den frühen Dreißigern, Rudolfo in den frühen Vierzigern und dann eine gute Prise von 60- und 70-Jährigen mit Lysias, Grymlis, Charles und Vlad Li Tam.

bp: War es genauso einfach, die weiblichen Figuren auf den Kopf zu stellen, wie bei den männlichen? Und könnten Sie sich vorstellen, die gleiche Wirkung auch mit alten Frauen zu erzielen?

KS: Es war nicht einfach, nein. Die meiste Zeit über hatte ich Angst davor, weibliche Figuren zu schreiben. In meinen gesamten Kurzgeschichten haben Frauen meistens Nebenrollen von unterschiedlicher Stärke und Bedeutung für die eigentliche Geschichte eingenommen, und ich bin fest in der Perspektive meiner männlichen Protagonisten verwurzelt geblieben. In einigen wenigen Geschichten habe ich es riskiert, aus der Perspektive einer Protagonistin zu schreiben, aber ich war dabei meistens nervös. Zum Großteil kam das durch meine Angst, etwas zu falsch zu machen und Leute vor den Kopf zu stoßen. Also bin ich dicht an den Arten von Figuren geblieben, die ich nach meinem Dafürhalten am besten kannte. Selbst in Sündenfall habe ich eigentlich nur aus der Sicht einer einzigen Protagonistin erzählt. In Lobgesang habe ich weitere hinzugefügt. Und es kommt mir so vor, als würde ich dabei sicher Einiges falsch machen, aber eben auch Einiges richtig. Und ich habe festgestellt, dass einige Leute, die unzufrieden damit sind, wie ich eine Figur schreibe – ob sie nun weiblich ist oder nicht -, das auf hilfreiche, konstruktive Weise kundtun, und andere werden einfach wütend. Und sie stimmen nicht einmal alle überein.
Aber um die Antwort kurz zu machen: Ja, ich könnte mir auch vorstellen, die gleiche Wirkung mit alten Frauen zu erzielen. Und ich gehe davon aus, dass ich in zukünftigen Büchern und zukünftigen Serien genau das in Angriff nehmen werde. Irgendwann habe ich vor, eine Trilogie zu schreiben, die auf meiner Kurzgeschichte Invisible Empire of Ascending Light basiert, mit Tana Berrique, einer Protagonistin in ihren 60ern, als Hauptcharakter in der entsprechenden Figurenriege.

bp: Der Themenkomplex “Familie” nimmt in Ihren Romanen eine zentrale Stellung ein. Ist es Ihre persönliche Erfahrung, die Sie dazu bewogen hat, oder finden Sie, dass das Thema in der Phantastik unterbeleuchtet ist? Fallen Ihnen gar literarische oder filmische Vorbilder ein, in denen Sie dieses Thema gerne näher beleuchtet gesehen hätten?

Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010
Ken, Jen, Lizzy und Rae, 2010

KS: Auch hier war es wieder nichts, das ich absichtlich so eingerichtet habe, aber ich glaube, dass es zu dem wahrheitsgemäßen Klang beiträgt, auf den ich mit meinem Schreiben abziele. Als ich den Entwurf von Sündenfall geschrieben habe, habe ich schnell bemerkt, dass die Einführung eines Kindes in Rudolfos und Jin Li Tams Leben ein größeres Ereignis inmitten von allem anderen sein würde, und als sich die Rolle des Kindes in der ganzen Saga ergeben hat, habe ich eine Gelegenheit gesehen, diesen Gedanken noch weiter zu untersuchen. Was, wenn das eigene Kind eine messianische Figur in einem alten Blutkult wäre? Das sah mir nach einem famosen Versuchsaufbau aus. Und dann, darüber hinaus, schien mir auch das tiefere Schürfen in der Familie Tam ein guter Ansatz zu sein, um den Familienbanden nachzugehen, und der Frage, wie diese Bande genutzt werden können, um den eigenen Willen durchzusetzen, wenn man in der eigenen Familie das beste Werkzeug – oder die beste Waffe – sieht, um die Welt zu beherrschen. Liebe und Angst sind große Motivationen für Menschen. Und ich habe schon den Verdacht, dass die Liebe zur Familie in der Belletristik häufig die zweite Geige im Vergleich zur romantischen Liebe spielt.
Ich habe keine richtigen Beispiele, in denen ich das Thema gern besser ausgearbeitet sähe, und was meine eigenen Erfahrungen angeht, so denke ich auf jeden Fall, dass meine eigene Familie – sowohl die problematische, in die ich geboren wurde, als auch die Familie, für die ich mich später entschieden habe – ganz sicher in mein Schreiben hineinspielt. Denn ich neige dazu, mein Schreiben durch meine eigenen Lebenserfahrungen zu nähren … durch die guten, die schlechten und die hässlichen.

bp: Die Buchtitel, die Paul-Simon-Anspielung in Hohelied, die Macht der Musik in einigen Ihrer Kurzgeschichten: Musik zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihr Werk. Welche Rolle spielt Musik in Ihren Büchern? Und sind Sie auch außerhalb der Buchdeckel musikbegeistert?

KS: Zunächst muss ich sagen, dass ich das Wort “leitmotif” liebe! Und ja, ich würde behaupten, dass Musik nicht nur in meinem Schreiben, sondern auch in meinem Leben eine treibende Kraft ist. Ich bin den Großteil meines Lebens lang Musiker und Musikliebhaber gewesen, habe mir in meinen Teenagerjahren das Gitarrespielen beigebracht und bin schon in jungen Jahren an Straßenecken und auf Kirchenbühnen aufgetreten. Ich habe im Zimmer meines älteren Bruders Simon and Garfunkel gehört, noch ehe ich mich erinnern kann, und besonders ihre Lieder – und Paul Simons Solowerke – sind mir stetige Begleiter gewesen. Natürlich liebe ich fast jede Musik – ich denke, Country/Western ist die einzige Stilrichtung, die mir nicht zusagt. Und wenn ich schreibe, brauche ich beinahe immer Kopfhörer und Musik, um meine Worte zu finden.
In der Reihe wollte ich kurze Titel, und ich wollte, dass sie aus der sakralen Musik stammen. Anfangs war es “Lamentation” (Klagelied), “Canticle” (Lobgesang) und “Requiem”, als ich noch dachte, die Legenden von Isaak würden eine Trilogie werden. Aber es gibt eine Zeile am Ende von Sündenfall, da heißt es: “Und Rudolfo sah seine Rolle darin, und er erkannte, wie aus einem Klagelied eine Hymne werden konnte.” Irgendwo im Überarbeitungsprozess des ersten Bandes habe ich erkannt, dass es fünf werden würden, und dass das letzte “Hymne” heißen müsste, basierend auf diesem Ausschnitt. Der letzte Name, der mir einfiel, war “Antiphon” (was ein Gegengesang zum Lobgesang ist) für den dritten Band.
Ich nehme an, die neuen Titel für die deutschen Bücher haben hier ein wenig Chaos gestiftet, weil jedes Buch in sich Anspielungen trägt, die in den Titeln wurzeln, die ich ausgewählt habe, aber ich vertraue darauf, dass das Wesentliche meiner Absichten herausgekommen ist.

bp: Wir haben Angst. Wie traurig wird Requiem?

KS: Ich will nicht lügen: Es wird einigen Anlass zur Traurigkeit geben. Aber denkt einfach daran, dass danach die Hymne kommt. Requiem bringt die Reste des zweiten Aktes unter Dach und Fach und führt uns ordentlich in den abschließenden Akt der Reihe. Daher muss es ein wenig schlimmer werden, ehe es wieder besser werden kann. Aber ich hoffe, meine deutschen Leser werden den Ritt mitmachen und weiterhin Freude an der Geschichte haben, die ich erzähle.

bp: Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch und freuen uns auf all Ihre Hymnen und Klagelieder, und alles, was dazwischen liegt!

For all English-speaking readers of Ken Scholes, we put up the original interview here!

Zettelkasten