Zum 110. Geburtstag von John Myers Myers

Bibliotheka Phantastika erinnert an John Myers Myers, dessen Geburtstag sich heute zum 110. Mal jährt. Der am 11. Januar 1906 in dem Dörfchen Northport auf der Insel Long Island geborene John Myers Myers wusste schon im Alter von sieben Jahren, dass er eines Tages Schriftsteller sein wollte, doch nach einem abgebrochenen Anthropologie-Studium und ausgedehnten Reisen durch die USA und Europa arbeitete er zunächst einige Zeit als Journalist und Werbetexter. Während des Zweiten Weltkriegs diente er fünf Jahre in der U.S. Army, und in dieser Zeit erschien sein erster Roman The Harp and the Blade (1941), der im mittelalterlichen Frankreich spielt und – je nach Sichtweise – nur marginale oder überhaupt keine phantastischen Elemente enthält.
Nach zwei weiteren, dieses Mal eindeutig rein historischen Romanen, die im elisabethanischen England bzw. in der Pionierzeit an der Mississippi frontier angesiedelt waren, veröffentlichte Myers mit Silverlock (1949) jenes Buch, das ihm zumindest im englischen Sprachraum bis heute andauernden Ruhm beschert hat. Silverlock von John Myers MyersSilverlock ist die – von ihm selbst erzählte – Geschichte des Betriebswirts A. Clarence Shandon, eines anfangs ebenso selbstsüchtigen wie merkwürdig apathisch und teilnahmslos wirkenden Mannes, der an Bord der Naglfar Schiffbruch erleidet und sich lange genug schwimmend über Wasser halten kann, bis er auf einen Mann stößt, der sich an ein Wrackteil klammert und anscheinend ebenfalls ein Schiffsunglück überlebt hat. Der Mann stellt sich als Boyan Taliesin Golias vor – eigentlich hätte er noch mehr Namen, wird aber meistens ohnehin nur Golias genannt – und meint, dass sie gute Aussichten hätten, die Küste des Commonwealth zu erreichen (mit dem Zusatz: “I speak figuratively”). Nachdem die beiden Männer aus der Ferne Zeuge geworden sind, wie ein weißer Wal ein Schiff in die Tiefe zieht, gelangen sie zu einer Insel, die allerdings nicht zu der von Golias als Commonwealth bezeichneten Landmasse gehört, sondern Teil eines vorgelagerten Archipels ist. Dummerweise macht Shandon der auf ihr lebenden Frau reichlich plumpe Avancen, und nur sein neuer Freund Golias bewahrt ihn vor dem Schicksal, in ein Schwein verwandelt zu werden. Sie ziehen weiter zur nächsten Insel, auf der sie ominöse Fußspuren entdecken – und feststellen müssen, dass ihr gelegentlich Kannibalen einen Besuch abstatten. Bald darauf nimmt sie ein Langschiff an Bord, das von Brodir Hardsark befehligt wird; sie müssen ebenso wie die Wikinger an den Rudern arbeiten – und dann bei einem Überfall auf Irland mitmachen …
Wer jetzt stutzt, weil ihm oder ihr ein paar Dinge merkwürdig vorkommen – ein Schiff namens Naglfar etwa, oder weiße Wale, die Schiffe in die Tiefe ziehen, Inseln, auf denen Männer in Schweine verwandelt werden, wenn sie sich danebenbenehmen oder andere einsame Inseln, die überraschend von Kannibalen besucht werden – stutzt zu recht. Denn die Insel, die Golias als Commonwealth bezeichnet hat und auf der Shandon nach dem Überfall tatsächlich ankommt, ist ein ganz besonderer Ort; sie ist der Commonwealth of literature – oder, um es mit dem deutschen Titel des Buchs zu sagen: Die Insel Literaria (1984). Und auf ihr begegnet der wegen einer weißen Strähne alsbald nur noch Silverlock genannte Shandon, der während des Kampfes von Golias getrennt wurde, aber bereits begonnen hat, sich zu verändern und daher die eigentlich für ihn untypische Entscheidung trifft, nach dem Barden zu suchen, allen möglichen Figuren und Wesen der Weltliteratur von Beowulf über Robin Hood bis zu Don Quichotte und vielen, vielen anderen (die mal leicht und mal kaum zu erkennen sind) und lernt Orte wie den Wald von Broceliande oder Dantes Hölle kennen. Und er verändert sich, wird durch die Begegnung mit den Figuren aus dem Commonwealth of literature (wobei man das erste Wort auch als “common wealth” lesen kann) von einem Unsympathen zu einem richtig netten Kerl, den man dann auch gerne bei seinen Abenteuern begleitet (denn Myers lässt die bekannten Figuren nicht einfach so nacheinander auftreten; das Ganze ist schon in eine zwar nicht vordergründig spannende, aber abwechslungsreiche und farbige Handlung eingebunden). Wer sich gerne auf Spurensuche begibt, kann an Silverlock viel Spaß haben – auch wenn nur die wenigsten es schaffen dürften, die ganzen Andeutungen und Verweise zu entschlüsseln. Hier hilft dann zur Not Silverlock – Including the Silverlock Companion (2004) weiter, eine wirklich schön gemachte Ausgabe mit mehreren Vorworten und einem umfangreichen Anhang (zu dem auch der “Companion” zählt).
Nach Silverlock hat Myers noch zwei Western, vor allem aber Sachbücher über den “Wilden Westen” geschrieben (darunter eine Biographie über Doc Holliday). Erst 1981 ist er mit The Moon’s Fire-Eating Daughter noch einmal zur Fantasy zurückgekehrt. Der Roman wurde vom Verlag als Fortsetzung zu Silverlock vermarktet – was er nicht ist. Aber es gibt zwischen den beiden Romanen interessante Parallelen: Während der anfangs nur mit einem Abschluss in Betriebswirtschaft “bewaffnete” A. Clarence Shandon in Silverlock eine geografische Reise durch die ihm größtenteils unbekannten Lande der Literatur unternimmt und dabei in erster Linie auf fiktive Figuren trifft, begibt sich der seines alltäglichen Daseins ein wenig überdrüssige Dr. George Puttenham in The Moon’s Fire-Eating Daughter auf eine Zeitreise durch die Literaturgeschichte und begegnet vielen von den Schöpfern, die zu diesem “common wealth” beigetragen haben.
Aber letztlich dürfte der Name des am 30. Oktober 1988 verstorbenen John Myers Myers in erster Linie und fast ausschließlich mit Silverlock in Verbindung gebracht werden – einem Roman, den man mit einer gewissen Berechtigung als erste Meta-Fantasy bezeichnen könnte (und der witzigerweise schon zu einem Zeitpunkt erschienen ist, an dem das einflussreichste Werk des Genres noch gar nicht auf dem Markt war).

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