Heute möchten wir an zwei Autoren erinnern, die eigentlich nur wenig gemeinsam haben – wenn man davon absieht, dass sowohl M.A.R. Barker als auch Neal Barrett jr. heute 85 Jahre alt geworden wären, und dass beide auf dem deutschen (phantastischen) Buchmarkt nur eine marginale Rolle gespielt haben. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon wieder, denn während M.A.R. Barkers fünf Romane nur das Nebenprodukt eines überaus intensiv betriebenen Hobbies waren, hat Neal Barrett jr. etliche Jahre vom Schreiben gelebt, was bedeutet, dass er ein ziemlich fleißiger Autor war, dessen Oeuvre rund 50 (teils unter Pseudonym geschriebene, keineswegs nur phantastische) Romane und knapp sechs Dutzend phantastische Kurzgeschichten umfasst.
Wenn man sich – wie der am 03. November 1929 in Spokane, Washington, geborene Phillip Barker, der Anfang der 50er Jahre zum Islam übertrat und sich von da an Muhammad Abd-al Rahman bzw. M.A.R. Barker nannte – schon von Kindheit an für Sprachen interessiert und daraufhin Urdu und Klamath studiert, kann das eigentlich nur zu einer akademischen beruflichen Laufbahn führen. Und genau das war bei Barker der Fall, der hauptberuflich u. a. einen Lehrstuhl für Urdu und später für Südasienstudien innehatte. Doch Barkers Interesse an Sprachen reichte weit über seinen beruflichen Umgang mit ihnen hinaus, und daher floss es in die Ausgestaltung einer Welt ein, die er bereits in seiner Kindheit ersonnen hatte und in seiner Studentenzeit nicht nur mit einer 60.000-jährigen Geschichte und einer Vielzahl menschlicher und nichtmenschlicher Kulturen, sondern auch mit mehreren (allerdings unterschiedlich weit entwickelten) erfundenen Sprachen ausstattete. Das kommt einem vage bekannt vor, oder?
Doch während die Welt des einen Liguistikprofessors zum Schauplatz der Handlung eines weltbekannten, das Genre lange Jahre definierenden Fantasyromans wurde (dessen Einfluss auch heute noch spürbar ist), ist die des anderen – wenn überhaupt – fast ausschließlich in Pen-&-Paper-Rollenspielerkreisen bekannt. Was möglicherweise damit zusammenhängt, dass Barkers Tékumel eine (zumindest für Euopäer und Nordamerikaner) unglaublich exotische und damit auch fremdartige Welt ist, deren Kulturen nicht nur Elemente aus vor allem der indischen, ägyptischen und alt-mittelamerikanischen Geschichte und Mythologie beinhalten, sondern teilweise auch nichtmenschlich sind. Hinzu kommen ein eindeutiger SF-Hintergrund (Tékumel war eine ursprünglich von Menschen und befreundeten nichtmenschlichen Völkern besiedelte und einem Terraformingprozess unterzogene Welt mit intelligenten Eingeborenen, die durch eine kosmische Katastrophe o.ä. vom restlichen Universum getrennt wurde, und auf der das Wissen um die Hochtechnologie – von der noch funktionierende Überreste vorhanden sind – “versunken” ist) und eine sehr detaillierte, zigtausend Jahre umfassende Historie.
Der Versuch, einen derart kompexen und exotischen Hintergrund der gerade aufstrebenden Rollenspielergemeinde schmackhaft zu machen, ist sowohl in der Pionierzeit der 70er Jahre – Tekumel: The Empire of the Petal Throne war das zweite Pen-&-Paper-Fantasyrollenspiel, das TSR 1975 und somit bereits ein Jahr nach Dungeons & Dragons herausbrachte – wie auch in späteren Jahrzehnten mehr oder weniger gescheitert (auch wenn es viele Jahre lang einen kleinen Kreis dauerhafter Spieler gegeben hat und das Setting Kultstatus genießt).
Vielleicht wollte M.A.R. Barker all denen, die an dem Spiel interessiert waren, einen leichteren Einstieg verschaffen und hat deshalb in den 80er Jahren zwei Romane geschrieben, die immerhin bei DAW Books erschienen sind; vielleicht hatte er aber auch einfach nur Lust, einfach mal wieder etwas Belletristisches zu schreiben – immerhin hatte er bereits in den 50er und 60er Jahren ein paar Stories in Fanzines veröffentlicht. Auf alle Fälle erschien 1984 mit The Man of Gold der erste Tékumel-Roman, der es zwei Jahre später als Der ungewöhnliche Goldmann auch nach Deutschland geschafft hat (nach der Titelfindung dürften im damaligen Goldmann-Lektorat die Sektkorken geknallt haben), und der zumindest … interessant ist. Oder, anders gesagt, der sogar sehr interessant ist, wenn man sich für eine detailliert ausgearbeitete und beschriebene Welt mit teils vertraut wirkenden, teils überaus fremdartigen Lebewesen mitsamt ihrer Geschichte und ihren ebenso fremdartigen Sprachen interessiert. Wenn man sich allerdings für eine stringente, möglichst wenig holpernde Handlung und mehr als eindimensionale Figuren interessiert und nicht über eine ziemlich sexistische Darstellung der Frauenfiguren hinweglesen kann, sollte man von The Man of Gold lieber die Finger lassen. Denn die Suche des jungen Tempelakolythen Harsan nach einem mythischen Wesen aus alter Zeit – dem titelgebenden Man of Gold –, die ihn aus einem abgelegenen Thúmis-Tempel quer durch Tsolyánu (besagtes Empire of the Petal Throne) zunächst in die Hauptstadt Béy Sü und später weit über Tsolyánus Grenzen hinausführt, ist sowohl im Hinblick auf die Figuren wie die Handlung überaus klischeehaft und funktioniert eigentlich nur als Sightseeingtour durch eine wirklich faszinierende Welt.
Zumindest für die deutschsprachigen Leser und Leserinnen scheint Letzteres nicht ausgereicht zu haben, denn Flamesong (1985), Barkers zweiter Tékumel-Roman, wurde nicht übersetzt. Was insofern ein bisschen schade ist, als er eine recht gradlinige Abenteuerhandlung (mit vielleicht der einen oder anderen aussichtslosen Situation zuviel, der die Helden gerade noch entkommen) bietet, die weniger erzählerische Schwächen als The Man of Gold aufweist und in Sachen exotischer Settings nochmal zulegt. Wobei auch Flamesong ein Roman bleibt, der vor allem wegen der Welt mit ihren unzähligen Facetten interessant ist.
Fast zwanzig Jahre später hat M.A.R. Barker mit Prince of Skulls (2002), Lords of Tsámra (2003) und A Death Of Kings (2003) noch einmal drei Tékumel-Romane verfasst, die allerdings nur in einer Kleinauflage erschienen sind; ansonsten hat er sich bis kurz vor seinem Tod am 16. März 2012 der weiteren Ausgestaltung Tékumels und seinen wöchentlichen Rollenspielabenden gewidmet, in denen die Geschichte dieser einzigartigen Welt viele Jahre lang fortgeschrieben wurde.
Im Gegensatz zu M.A.R. Barker war der am 03. November in San Antonio, Texas, geborene Neal Barrett jr. etliche Jahre ausschließlich als Autor (teils unter seinem eigenen Namen, teils unter Pseudonymen wie Victor Appleton, Chad Calhoun, Franklin W. Dixon, Rebecca Drury and J. D. Hardin) tätig. Seine erste phantastische Story erschien 1960 unter dem Titel “To Tell the Truth” in der August-Ausgabe von Galaxy, auf die in den nächsten zehn Jahren ungefähr ebensoviele weitere Geschichten in diversen SF-Magazinen folgten. 1970 kam dann mit Kelwin sein erster Roman auf den Markt, dessen Held nicht weiter bemerkenswerte Abenteuer in einem postapokalyptischen Setting erlebte, und der ebensowenig wie Barretts andere frühe Romane irgendwelche Hinweise enthielt, welches Potential in diesem Autor steckte. Letzteres deutete sich immerhin in Stress Pattern (1974) an, einem Planetenabenteuer auf einer wirklich durch und durch fremdartigen Welt, aber so richtig zum Tragen kam es zum ersten Mal in der aus vier Bänden bestehenden Aldair-Sequenz.
Die Welt, auf der Aldair in den Romanen Aldair in Albion (1976), Aldair, Master of Ships (1977), Aldair, Across the Misty Sea (1980) und Aldair: The Legion of Beasts (1982) seine Abenteuer erlebt, ist die Erde in der fernen Zukunft, die von den Menschen bereits vor langer Zeit verlassen wurde. Zurückgeblieben sind menschenähnliche Wesen, die sie aus genetisch veränderten Tieren geschaffen haben, und die in einander nicht immer freundlich gesinnten, mal mehr, mal weniger zivilisierten Reichen leben und nur noch vage, ins Mythische verklärte Erinnerungen an ihre göttergleichen Vorfahren haben. In dieser Welt gerät der etwas selbstgefällige Ich-Erzähler Aldair – Angehöriger eines in den Grenzgebieten des Rhemian Empire lebenden, vom eigentlichen Reich häufig unabhängig agierenden Stammes – als Student in einem kleinen Städtchen aufgrund seiner Neugier und seiner Hartnäckigkeit im Hinblick auf ein paar religiöse Dogmen alsbald in Konflikt mit der Obrigkeit. Er wird zum Ketzer erklärt und muss fliehen, findet Freunde wie den Bärenmenschen Rheif (was schwieriger ist, als es klingen mag – immerhin sind die beiden eigentlich von Natur aus Feinde; darüberhinaus trägt der Schweinemensch Aldair bei ihrer ersten Begegnung Stiefel aus Bärenfell, während Rheif vermutlich schon den einen oder anderen von Aldairs Artgenossen gegessen hat), gerät in Gefangenschaft und Sklaverei, findet weitere Freunde und macht sich schließlich auf ins mythische Albion, um Antworten auf seine Fragen zu finden – Antworten, die nur zu neuen Fragen, Reisen und Abenteuern führen.
Auch wenn Aldairs Welt und seine Queste durch eine fast schon barock geschilderte Welt (und letztlich über sie hinaus) einerseits ein überaus lesbares, spannendes Abenteuergarn ist, liegt unter der ganzen Geschichte eine unterschwellig spürbare Düsternis, die bereits früh auf ihr nicht gerade als fröhliches Happy-End zu bezeichnendes Ende verweist.
Verglichen mit dem wenige Jahre später folgenden Zweiteiler Through Darkest America (1987) und Dawn’s Uncertain Light (1989) sind Aldairs Abenteuer allerdings ein wahrer Quell der Heiterkeit, denn mit düster ist Neal Barretts Entwurf eines postapokalyptischen Amerika, in dem die Menschen ihre Menschlichkeit in mehr als einer Hinsicht verloren haben, eher euphemistisch umschrieben. Oder, anders gesagt: Auch wenn sich Through Darkest America und Dawn’s Uncertain Light in literarischer Hinsicht nicht mit Cormac McCarthys The Road vergleichen lassen, erzeugen und hinterlassen sie (vor allem der erste Band) ein sehr wohl vergleichbares Gefühl.
Nicht ganz so düster, aber immer noch auf schmerzhafte Weise wehmütig ist The Hereafter Gang (1991), ein phantastischer Roman, dessen Hauptfigur auch durch ihren Tod nicht am Weiterleben (oder sowas Ähnlichem) gehindert wird. In den 90er Jahren hat Neal Barrett jr. hauptsächlich Krimis und Filmnovelisationen geschrieben, die jeweils – ganz im Gegensatz zu seinen SF- und Fantasyromanen – fast alle ins Deutsche übersetzt wurden.
Kurz vor der Jahrtausendwende ist er dann mit Interstate Dreams (1999) wieder so richtig ins phantastische Genre zurückgekehrt und hat sich mit Prince of Christler-Coke (2004) noch einmal eines postapokalyptischen Settings – dieses Mal mit vor allem satirischen Untertönen – bedient, während er mit The Prophecy Machine (2000) und The Treachery of Kings (2001), den zwei Romanen um Finn the Master Lizard Maker seine ersten echten Fantasyromane vorgelegt hat, in denen ebenfalls wieder Tiermenschen eine wichtige Rolle spielen, die in diesem Fall allerdings durch Magie entstanden sind und gegenüber den “richtigen” Menschen keinen leichten Stand haben.
Es ist durchaus zu bedauern, dass das phantastische Oeuvre des am 12. Januar dieses Jahres verstorbenen Neal Barrett jr. – zu dem auch noch rund 70 Kurzgeschichten zählen, von denen etliche in insgesamt sechs Sammelbänden erschienen sind – nie den Weg nach Deutschland gefunden hat (bzw. wenn, dann in unrepräsentativen Ausschnitten), denn vor allem sein postapokalyptischer Zweiteiler hätte trotz seiner Düsternis eine Veröffentlichung hierzulande mehr als verdient.