Zum 80. Geburtstag von Frederik Hetmann

Bibliotheka Phantastika erinnert an Frederik Hetmann, der heute 80 Jahre alt geworden wäre. Das vielleicht Faszinierendste am umfangreichen Oeuvre des am 17. Februar 1934 in Breslau geborenen Hans-Christian Kirsch, der in der Anfangsphase seiner schriftstellerischen Karriere noch seinen richtigen Namen benutzt, den weitaus größten Teil seiner Werke dann aber als Frederik Hetmann veröffentlicht hat, ist – neben der beeindruckenden Zahl der von ihm verfassten, herausgegebenen oder übersetzten Bücher – die thematische Bandbreite seines Schaffens, das sich gleichermaßen an Jugendliche wie an Erwachsene richtet. Hetmann hat u.a. mehrfach über Geschichte und Kultur der indianischen Urbevölkerung Amerikas (und der als Sklaven ins Land gekommenen Schwarzen) geschrieben, hat unzählige Märchen und Sagen gesammelt und in etlichen geographisch und/oder thematisch angeordneten Sammelbänden herausgegeben, Biographien politisch und/oder gesellschaftlich relevanter Persönlichkeiten verfasst und zeitkritisch-realistische ebenso wie phantastische Romane geschrieben; hinzu kommen Beiträge zur Märchenkunde und zur Theorie der phantastischen Literatur. Da es schlicht unmöglich ist, den vielfältigen Aspekten von Hetmanns Gesamtwerk in diesem Rahmen auch nur ansatzweise gerecht zu werden, wird es an dieser Stelle fast ausschließlich um einige seiner Fantasyromane gehen. Mit einem kleinen Seitenblick auf ein paar Bücher, die seine Fantasy ganz gewiss beeinflusst, wenn nicht sogar geprägt haben.
Die Reise in die Anderswelt von Frederik HetmannFrederik Hetmann hat Märchen aus aller Welt gesammelt und erzählt; einen Schwerpunkt dieser Tätigkeit bilden die Märchen der indianischen Urbevölkerung Nord- und Südamerikas, den anderen die Märchen und Sagen des irisch-keltischen Kulturraums, von denen er etliche in den drei Anthologien Irischer Zaubergarten: Märchen, Sagen und Geschichten von der Grünen Insel (1979), Die Reise in die Anderswelt: Feengeschichten und Feenglaube in Irland (1981) und Hinter der Schwarzdornhecke: Irlands Märchen und ihre Erzähler (1986) den deutschsprachigen Lesern und Leserinnen nahegebracht hat. (Außerdem dürften diese drei Anthologien nicht zuletzt den Boden für die in den 80er Jahren im Diederichs Verlag erschienene Fantasyreihe bereitet haben, in der Autoren wie T.H. White, Alan Garner, James Stephens oder Mervyn Wall – z.T. von Hetmann übersetzt – veröffentlicht wurden.)
Die Liebe zur irisch-keltischen phantastischen Erzähltradition und ihren Motiven lässt sich auch in Hetmanns phantastischen bzw. Fantasyromanen finden. Dies gilt weniger für seinen (Fantasy-) Erstling Wagadu (1983) – in dem sich die sinnsuchende jugendliche Hauptfigur auf eine Art Traumreise in eine archaische afrikanische Welt begibt – sondern vor allem für die (sich wie Wagadu an jugendliche Leser richtende) Dermot-Saga und seinen vielleicht wichtigsten phantastischen Roman Madru oder Der Große Wald. Ein Märchen (1984). Die Geschichte des Fischersohns Dermot, der davon träumt, eines Tages ein Barde zu werden und die Tochter des Königs aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, und auf dem Weg zu seinem Ziel die unglaublichsten Abenteuer in dieser und der Anderswelt erlebt, wurde zuerst in zwei Bänden als Dermot mit dem roten Haar (1985) und Es wird erzählt in Erin … Die Saga von Dermot und Deirdre (1989) veröffentlicht und von Hetmann in den 90er Jahren zu einer Trilogie mit dem Titel Dermot – eine Saga aus Irland (Einzeltitel: Die Suche nach Deirdre (1995), Magier und Mönche (1996) und Dermot und Deirdre (1997)) erweitert und wirkt aufgrund des Settings und des Erzählduktus wie eine nacherzählte alte Sage.
Bei Madru oder Der Große Wald hingegen verweist vor allem die Rolle, die Bäume – und deren mythische Qualität – in dem Roman spielen, auf die irisch-keltischen Einflüsse, doch kommen im Falle der Geschichte um den “Sternensohn” Madru, der aufgrund astronomischer Berechnungen ausersehen wurde, Norrland, das Reich des Großen Waldes, zu schützen, eine spirituelle und eine Madru von Frederik Hetmanngesellschaftskritische Komponente hinzu. Denn Madru bedarf der Hilfe des Baumtarots, um sich für einen von drei Wegen – den Weg des Waldes, den Weg des Allwiss oder den Weg der Ritter – zu entscheiden, und zu kämpfen hat er nicht zuletzt gegen menschliche Herrschsucht und Gier. Diese Mischung, zu der sich auch noch die nicht zu unterschätzende Macht der Liebe gesellt, macht Madru zu einem der ungewöhnlichsten (nicht nur deutschsprachigen) Fantasyromane der 80er Jahre.
In der Fortsetzung Im Haus der Gefiederten Schlange (1990) wird die spirituelle Komponente noch wichtiger, denn Alder, der Sohn Madrus, der von seinem Vater das Baumtarot geerbt hat und zunächst den Verlockungen der Macht erliegt, ehe ein Schamane ihm den Weg zu seiner wahren Bestimmung zeigt, begibt sich auf eine noch weit phantastischere Reise als Madru, die ihn in Gefilde führt, die nichts mehr mit der irisch-keltischen Anderswelt zu tun haben, sondern deren Ursprünge in anderen alten Mythen liegen.
Mit Der wilde Park des Vergessens (1994), Der Kelim der Aphrodite (1995), Traumklänge oder Das längste Märchen, das es je gab (2004), Gaias Schwestern (2006 – dieser Titel scheint allerdings nie erschienen zu sein) und Zeitenwende (2006) hat Frederik Hetmann noch weitere phantastische Romane verfasst, von denen Traumklänge der vielleicht interessanteste ist: eingewoben in eine Rahmenhandlung erzählt er die Geschichte einer geheimnisvollen Kugel, die durch die Jahrhunderte in dieser und der Anderswelt von Hand zu Hand wandert (und manche dieser Hände sind wohlbekannt), und verkündet einmal mehr Hetmanns bereits in der Dermot-Saga oder Madru zu findendes Credo, dass alles miteinander verbunden sei.
Wie eingangs erwähnt, hat Frederik Hetmann auch theoretische Schriften zur phantastischen Literatur verfasst. Hier seien z.B. “Merlin. Porträt eines Zauberers” (in T.H. White: Das Buch Merlin (1980)) oder “Ausflug in die Anderswelt. Ein Plädoyer für die Phantastische Literatur” (in: Le Blanc/Solms (Hrsg.): Phantastische Welten. Märchen, Mythen, Fantasy (1994)) sowie das (allerdings ein bisschen wie ein Schnellschuss wirkende) Die Freuden der Fantasy. Von Tolkien bis Ende (1984) und das sich um Märchen drehende Traumgesicht und Zauberspur. Märchenforschung, Märchenkunde, Märchendiskussion (1982) genannt, die alle mehr oder weniger deutlich zeigen, wie ernsthaft sich Frederik Hetmann mit phantastischer Literatur und Fantasy befasst hat und wie wichtig ihm das Phantastische war. Das mag bei einem Autor, der z.B. in seinen Biographien und den Werken über die nordamerikanischen Indianer fraglos einen aufklärerischen Ansatz verfolgt hat, auf den ersten Blick verwundern – allerdings nur dann, wenn man die Phantastik, vor allem aber die Fantasy ausschließlich in die Eskapismus-Ecke steckt (in der Teile von ihr gewiss zu Recht stehen). Frederik Hetmann hat schon in den 80er Jahren gegen diese Einstellung angeschrieben; umso bedauerlicher ist es, dass er heute, noch keine zehn Jahre nach seinem Tod am 01. Juni 2006, zumindest als Fantasyautor mehr oder weniger vom Markt und auch so ziemlich aus dem Bewusstsein der Leserschaft verschwunden zu sein scheint.

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