Gerfalke

Unser Buch des Monats Februar ist ein weiterer viel zu wenig beachteter Klassiker: Leslie Barringers Gerfalke (ISBN 3-596-22741-0; im Original: Gerfalcon), der erste Band seines in einem alternativen spätmittelalterlichen Frankreich angesiedelten Neustrischen Zyklus.
Gerfalke von Leslie BarringerAuf den ersten Blick scheint das schon 1927 erschienene Buch ein Entwicklungsroman wie so viele zu sein: Früh verwaist wächst der junge Adlige Raoul von Marckmont unter der Vormundschaft eines missgünstigen Onkels heran und hat angesichts seiner musischen Interessen einiges an Spott und Zurücksetzungen auszustehen. Als der unerlaubte Besuch eines Turniers schlimmere Folgen denn je für ihn nach sich zieht, flieht er aus der Obhut seiner Verwandten. Doch statt, wie zunächst geplant, Schutz bei Freunden zu finden, bekommt er es mit Hexen und Raubrittern zu tun und muss bald befürchten, seine herbeigesehnte Volljährigkeit gar nicht mehr zu erleben.
Dass man den Gerfalken trotz des recht klassischen Grundgerüsts der Handlung als frisch, abwechslungsreich und erstaunlich aktuell empfindet, ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Barringer einiges vorwegnimmt, was die moderne Fantasy gern als eigene Innovation beansprucht, so etwa die Darstellung eines unromantisierten Mittelalters oder eine differenzierte Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und sozialer Ungleichheit, zum anderen aber der Figur des Raoul, aus dessen Perspektive man das Geschehen überwiegend erlebt. Anders als bei manch einem Leidensgenossen in ähnlich gearteten Geschichten ist seine Charakterisierung als nachdenklicher Träumer nicht nur ein oberflächlicher Lack, sondern bestimmend für seinen reflektierten und beständig kommentierenden Umgang mit den Phänomenen seiner Umwelt, der trotz einiger entsetzlicher Erlebnisse ein Abgleiten in bloßen Zynismus verhindert.
Dieses Philosophieren bleibt dabei in seinen Grundlagen konsequent dem Mittelalter verhaftet (über das Barringer offensichtlich profunde Kenntnisse besaß), und so ist Raouls Weg durch das oft verstörende, ebenso häufig aber auch beglückende Neustrien zugleich eine Entdeckungsreise durch eine Epoche der europäischen Geistesgeschichte, von spezifischen Formen christlicher Religiosität über die Astrologie bis hin zur höfischen Dichtung, die dem Protagonisten mehr als einmal und mit wechselndem Erfolg zum Ausdrucksmittel wird.
Erzählt wird dies alles in einer poetischen Sprache, die auch in der deutschen Fassung zum Tragen kommt (wenn es auch einige für ältere Übersetzungen nicht untypische Merkwürdigkeiten gibt – so darf man z.B. getrost spekulieren, ob sich hinter dem mehrfach auftauchenden ominösen Wintergarten im Englischen wohl ein solar verbergen mag). Alles in allem glückt so ein Besuch in einer fernen Welt, die trotz ihrer ungeschönten Authentizität viel menschliche Wärme zulässt und einen in mehr als einer Hinsicht bezaubert.

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