Zum Gedenken an Avram Davidson

Bibliotheka Phantastika erinnert an Avram Davidson, dessen Todestag sich heute zum 20. Mal jährt. Es ist schier unmöglich, in knapper Form diesem vielleicht quecksilbrigsten aller amerikanischen SF- und Fantasyautoren gerecht zu werden, der leicht ein Gigant des Genres hätte werden können, wenn dem nicht Marktgegebenheiten und seine eigene Persönlichkeit entgegengestanden hätten. Stattdessen ist der am 23. April 1923 in Yonkers, New York, geborene Avram James Davidson zwanzig Jahre nach seinem Tod in seiner Heimat fast vergessen. In Deutschland ist er so gut wie unbekannt, was natürlich damit zu tun hat, dass nur ein sehr kleiner Teil seines Schaffens übersetzt wurde.
Avram Davidsons Karriere begann 1954 mit der Veröffentlichung der Kurzgeschichte “My Boy Friend’s Name is Jello” im Magazine of Fantasy & Science Fiction, das in der Folgezeit nicht nur zum Hauptabnehmer seiner Stories werden sollte, sondern das er von 1962-64 auch herausgegeben hat. Die meisten seiner zahlreichen Geschichten aus den 50er und 60er Jahren neigen eher der Phantastik zu bzw. changieren zwischen Phantastik und SF; sie sind stilistisch maniriert, mal geistreich, mal launig, mal völlig überdreht, und sie widmen sich allen möglichen Themen, bedienen sich anfangs zeitgenössischer und SF-Settings, nutzen später auch Sword-&-Sorcery-, Alternativwelt- und Horrorszenarien. Or All The Seas with Oysters (1962), die erste Sammlung seiner Kurzgeschichten (zu der sich im Laufe seiner Karriere noch neun weitere gesellen sollten) vermittelt einen guten Überblick über diese Phase seines Schaffens. Seinen ersten SF-Roman schrieb Davidson in Zusammenarbeit mit Ward Moore (Joyleg, 1962), die nächsten sieben verfasste er allein, und in ihnen bewies er, dass er auch farbige Space Operas schreiben konnte. Da sich in seinen letzten SF-Romanen bereits in einen rationalen Mantel gekleidete Drachen und toltekische Götter finden, ist es nicht weiter verwunderlich, dass Davidson sich 1969 richtig der Fantasy zuwandte.
Denn in diesem Jahr erschienen die vielversprechenden Auftaktbände zweier Zyklen: Den Anfang machte der aus der gleichnamigen, bereits Mitte der 60er veröffentlichten Erzählung hervorgegangene Roman The Phoenix and the Mirror, der erste Band der Vergil Magus-Sequenz und nach einhelliger Meinung vieler Kritiker Davidsons opus magnum. Ausgehend von der Prämisse, dass The Phoenix and the Mirror von Avram Davidsondie mittelalterlichen Legenden stimmen, die aus dem Dichter Vergil (bzw. Virgil) den berühmten Magier Vergil gemacht haben, entwarf er in diesem Buch das Bild eines Römischen Imperiums, das dem entspricht, das man sich im Mittelalter von dieser Epoche gemacht hat. Vergil Magus erhält den Auftrag, einen speculum majorum (einen jungfräulichen Spiegel) zu konstruieren, der demjenigen, der als Erster hineinblickt, das zeigt, was er sich am sehnlichsten wünscht. Um diesen Auftrag zu erfüllen, bereist Vergil die mediterrane Welt, begegnet diversen Fabelwesen und erlebt allerlei Abenteuer. Der Roman hat gewisse Schwächen in der Konstruktion, besticht aber durch sein unglaublich authentisch wirkendes Setting mit wunderbar entworfenen Szenen und Sequenzen, die nicht nur in der damals zeitgenössischen Fantasy einzigartig waren, sondern für die es bis heute kaum Parallelen gibt. Der einzige echte Makel, den The Phoenix and the Mirror aufweist, besteht darin, dass man auf die Fortsetzung (die sich als Prequel entpuppen sollte) achtzehn Jahre warten musste – und dass Vergil in Averno (1987) sich in mehrfacher Hinsicht vom Vorgängerband unterscheidet.
Ebenfalls 1969 begab sich Davidson mit The Island Under the Earth in Thomas-Burnett-Swann-Land. Allerdings spielt die an die Kentauromachie angelehnte Geschichte des Kampfes zwischen Kentauren und Lapithen nicht im irdischen Thessalien, sondern auf einer anderen Welt, die in diesem Roman allerdings nur angerissen wird. Bedauerlicherweise hat man nie mehr über diese Welt erfahren (das Wenige, das man im ersten Band zu sehen bekommt, macht durchaus neugierig), denn die bereits mit Titeln versehenen und teilweise in Verlagsvorschauen auftauchenden Fortsetzungen (The Sixlimbed Folk und The Cap of Grace) hat Davidson nie geschrieben.
1971 folgte mit Peregrine: Primus der erste Band einer in einem langsam zerfallenden Römischen Imperium angesiedelten Trilogie, die mit den Mitteln des Schelmenromans die Abenteuer eines Königssohns schildert, der von einem Zauberer in sein Wappentier verwandelt wird, dessen richtige Probleme allerdings erst anfangen, als er – leider nicht ganz perfekt – zurückverwandelt wird. Konventioneller als die beiden vorgenannten Titel und mit etwas weniger beeindruckenden und authentisch wirkenden Bildern, ist Peregrine: Primus dennoch ein Roman, der deutlich über das hinausragt, was in dieser Zeit ansonsten an Fantasy veröffentlicht wurde. Auf Peregrine: Secundus (1981) mussten die Leser dann “nur” zehn Jahre warten; Peregrine: Tertius schließlich – man ahnt es bereits – ist nie erschienen.
Über die Gründe für diese Verzögerungen bzw. das Nichterscheinen etlicher Bücher kann man nur spekulieren. Auffällig ist aber, dass sich in Vergil in Averno – der für sich betrachtet als Roman durchaus funktioniert, in struktureller Hinsicht sogar besser ist als sein Vorgänger, nur dass er eben die Wunder der durch die Brille des Mittelalters beobachteten Antike gegen die düster-bedrohliche und bedrückende Stimmung in einer “industrialisierten” Stadt im Innern eines Vulkans austauscht – Anzeichen einer Bitterkeit seines Schöpfers finden lassen, die vermutlich damit zu tun hat, dass Davidson sich zu diesem Zeitpunkt bereits schwer tat, Abnehmer für seine Geschichten und Romane zu finden. Aber da befinden wir uns schon in den 80er Jahren.
The Adventures of Doctor Eszterhazy von Avram DavidsonIn den 70ern hat Davidson noch etliche Kurzgeschichten geschrieben, die auch immer noch in den entsprechenden Magazinen veröffentlicht wurden. Dazu gehören auch die Stories um den kaiserlichen Magier Dr. Engelbert Eszterhazy, der ein paar Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit einem dampfgetriebenen Gefährt über die gepflasterten Straßen der Hauptstadt des fiktiven Kaiserreichs Scythia-Pannonia-Transbalkania brettert. In The Enquiries of Doctor Eszterhazy (1975) wurden sie zu so etwas wie einem Episodenroman zusammengefasst und sind später – ergänzt um eine Handvoll Erzählungen aus den 80ern, in denen die Abenteuer des jugendlichen Eszterhazy geschildert werden – noch einmal in dem Sammelband The Adventures of Doctor Eszterhazy (1991) erschienen.
Ebenfalls bereits in den 70ern hat Davidson die ersten Geschichten veröffentlicht, in deren Mittelpunkt Jack Limekiller und seine merkwürdigen Erlebnisse in British Hidalgo – einem fiktiven, nach dem Vorbild von Britisch-Honduras (dem heutigen Belize) modellierten zentralamerikanischen Staat – stehen und zu denen Davidson durch zwei längere Aufenthalte in Britisch-Honduras Mitte und Ende der 60er Jahre inspiriert wurde. Zehn Jahre nach seinem Tod sind sie gesammelt in Limekiller! (2003) erschienen.
Kurzgeschichten hat Davidson also in den 70er Jahren noch geschrieben (und auch in den 80ern und 90ern bis kurz vor seinem Tod), aber nach 1973 nur noch einen einzigen Roman (denn Peregrine: Secundus besteht aus zwei langen Erzählungen) bzw. deren zwei, wenn man den zusammen mit seiner Ex-Frau Grania Davis verfassten Marco Polo and the Sleeping Beauty (1988) mit dazunimmt. Und bei seinen Kurzgeschichten fällt auf, dass sein zwar manirierter, aber immer präziser und kontrollierter Stil sich allmählich verändert, dass die schon immer zu findenden Abschweifungen häufiger und länger werden und ihrerseits Abschweifungen generieren, und dass die eine oder andere gute Idee unter dem Ballast der Worte mehr oder weniger verschwindet (gut zu beobachten in den o.e. Stories um Doctor Eszterhazy). Irgendwann hat Davidson diese Schwächeperiode aber überwunden und konnte in seinen letzten Lebensjahren wieder an die Qualität seiner frühen Geschichten anknüpfen.
Nur seine Romanzyklen hat er nicht mehr beendet. Das ist vor allem im Hinblick auf die Vergil Magus Sequenz bedauerlich, von der vor einigen Jahren noch ein dritter Band – der wiederum zeitlich früher als die Vorgängerbände angesiedelt ist – in einer kleinauflagigen Liebhaberedition unter dem Titel The Scarlet Fig; or Slowly Through a Land of Stone (2005) veröffentlicht wurde. Und somit bleibt das, was Avram Davidson einst als “a trinity of trilogies” geplant hatte, und für das er umfangreiche Recherchen betrieben und eine Matrix aus Querverweisen und Hintergrundmaterial geschaffen hatte, letztlich ein Fragment. Aber auch die Nichtfortsetzung von The Island Under the Earth ist bedauerlich, auch wenn der Roman an die Vergil Magus Sequenz nicht herankommt.
Es ließe sich noch viel über Avram Davidson schreiben – etwa darüber, dass es wohl nicht immer leicht war, mit ihm umzugehen; oder darüber, dass er ein unglaublich belesener Mann gewesen sein muss, der über ein beinahe enzyklopädisches Wissen verfügt hat (was man einerseits sehr schön an den Essays in Adventures in Unhistory (1993) sehen kann, in denen er sich mit den Fakten hinter diversen Legenden – u.a. über den Phoenix, Prester John oder Hyperborea – auseinandergesetzt hat, und was man z.B. in den Vergil-Romanen deutlich spürt); oder auch darüber, dass die deutschen Leser und Leserinnen nur rund zwei Dutzend Kurzgeschichten (etliche davon – vor allem frühe – in einigen Utopia-Zukunft-Storybänden) kennenlernen können, weil er als gläubiger Jude keine Rechte nach Deutschland verkaufen wollte; oder man könnte noch erwähnen, dass Davidson zu Anfang seiner Karriere auch ein erfolgreicher Krimiautor war.
Aber das alles würde diesem komplexen, am 08. Mai 1993 gut zwei Wochen nach seinem 70. Geburtstag verstorbenen Menschen und Autor, dessen Geschichten mit denen eines Jorge Luis Borges verglichen wurden, und der vermutlich auch ein Vorbild für Gene Wolfe war, noch immer nicht annähernd gerecht werden.

3 Kommentare zu Zum Gedenken an Avram Davidson

  1. Timpimpiri sagt:

    Interessanter Autor, schöner Artikel. Wie kommt es eigentlich, dass es überhaupt etwas auf Deutsch gibt, wenn Davidson als gläubiger Jude keine Rechte nach Deutschland verkaufen wollte?

  2. gero sagt:

    Hallo Timpi,

    ja, das ist eine interessante Frage, die ich auch nur mit einer Reihe von Spekulationen beantworten kann. 😉

    Zunächst einmal stammt die Information, dass Davidson keine Rechte nach Deutschland verkaufen wollte, aus einer Quelle des Prä-Internet-Zeitalters, die ich auf die Schnelle nicht mehr finden konnte/kann. Ich meine mich aber zu erinnern, dass es eine durchaus vertrauenswürdige Quelle war (werde der Sache aber bei Gelegenheit nochmal nachgehen).

    Fakt – und auffällig – ist, dass es keine Romane oder KG-Sammlungen von Davidson auf Deutsch gibt, und zumindest seine SF-Romane aus den 60ern hätten mit ihrer abenteuerlichen Handlung und ihrem durchaus vorhandenen sense of wonder sehr gut in die TB-Programme der deutschen Genreverlage gepasst bzw. unterscheiden sich nicht allzu sehr von vielen anderen Sachen, die übersetzt wurden (und sie waren eher im oberen Durchschnitt dessen, was das Genre damals geboten hat, angesiedelt). Und das ist zumindest ein Indiz, dass die Aussage an sich stimmt. (Ich weiß, dass du sie nicht anzweifeln wolltest; ich wollte trotzdem kurz darauf hinweisen, dass sie durch diesen Fakt tendenziell bestätigt wird.)

    Bei einigen der in Deutschland erschienenen Kurzgeschichten kann man davon ausgehen, dass die Rechte für die Anthologie, in der die Geschichte ursprünglich erschienen war, sozusagen als Gesamtpaket eingekauft wurden, d.h. dass die einzelnen Autoren in den Auslandsverkauf oder die Auslandsverkäufe gar nicht involviert waren.

    Anders sieht es bei den beiden (ich glaube, es sind zwei) Geschichten aus, die in den deutschen Auswahlbänden des Magazine of Fantasy & Science Fiction erschienen sind, denn deren Inhalt wurde mW immer aus den US-Magazinen für den deutschen Markt zusammengestellt. Und das Gleiche gilt vermutlich auch für die Geschichten, die in den 60ern in einigen Kurzgeschichtensammlungen im Rahmen der Utopia Zukunft Heftreihe erschienen sind, die mW ebenfalls von der deutschen Redaktion zusammengestellt wurden.

    In diesen Fällen kann ich nur vermuten, dass Davidson das vielleicht gar nicht mitbekommen hat (weil es über seinen Agenten / einen deutschen Subagenten gelaufen ist), oder dass es ihm im Hinblick auf einzelne Stories dann doch eher egal war. Da ich irgenwann einmal – haha – einen längeren Artikel über Avram Davidson zu schreiben gedenke, werde ich bezügl. dieser Dinge mal meine US-Connection befragen und hoffen, dass ich da eine vernünftige Antwort kriege. Denn interessieren tut mich die Sache schon.

    Das wirklich Bizarre an der ganzen Geschichte ist allerdings, dass der größte Teil der auf Deutsch erschienenen Davidson-Stories ausgerechnet in der Heftreihe des Verlags erschienen ist, bei dem auch Der Landser erschienen ist und immer noch erscheint. Nach allem, was ich über Davidson gelesen habe, kann ich nicht so ganz glauben, dass er das willentlich zugelassen bzw. es ihn nicht gestört haben soll. Aber mal sehen, vielleicht kriege ich das ja noch raus …

  3. Timpimpiri sagt:

    Letzteres ist wirklich pikant und deutet in der Tat darauf hin, dass er davon aus dem einen oder anderen von dir genannten Gründen nichts gewusst hat …
    Vielen Dank für deine ausführliche und erhellende Antwort!

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