Zum 65. Geburtstag von Lucius Shepard

Bibliotheka Phantastika gratuliert Lucius Shepard, der heute 65 Jahre alt wird. Der am 21. August in Lynchburg im amerikanischen Bundesstaat Virginia geborene Shepard gilt zu Recht als einer der thematisch und stilistisch interessantesten derzeit aktiven Autoren der phantastischen Literatur. Diesen Ruf verdankt er vor allem den rund 100 Kurzgeschichten und Erzählungen, die er – beginnend mit “The Taylorsville Reconstruction” (1983) – seit Anfang der 80er Jahre veröffentlicht hat, und von denen bisher nur ein relativ geringer Teil ins Deutsche übersetzt wurde. Dabei bewegt er sich in allen Genres, die sich unter dem Oberbegriff phantastische Literatur subsummieren lassen, von SF über Horror und Magischen Realismus – der sonst zumeist in der lateinamerikanischen Literatur zu finden ist – bis hin zur Fantasy.
Am Anfang seiner Karriere hat Shepard – parallel zu seinem bis in die frühen 90er enormen Ausstoß an Geschichten – auch einige wenige Romane verfasst; Green Eyes (1984; dt. Grüne Augen (1989)) behandelt dabei die Zombiethematik im Gewand eines SF-Romans (sprich: mit einem wissenschaftlichen Ansatz), Life during Wartime (1987; dt. Das Leben im Krieg (1989)) schildert in einer beeindruckenden Sprache und mit konsequent übersteigerten, aus Vietnamkriegsberichten bekannten Bildern und Motiven einen fiktiven, in naher Zukunft stattfindenden Krieg in Lateinamerika, und The Golden (1993; dt. Die Spur des Goldenen Opfers (1997)) bereichert den Vampirmythos um eine originelle Facette.
The Dragon Griaule von Lucius ShepardDoch Shepards eigentliche Stärke liegt in kürzeren, vor allem aber längeren Erzählungen bzw. Kurzromanen, in denen seine stilistischen Fähigkeiten voll zum Tragen kommen, und denen er sich inzwischen fast ausschließlich zugewandt hat. Für Fantasyleser und -leserinnen sind in diesem Zusammenhang – neben der atmosphärisch, aber nicht unbedingt inhaltlich überzeugenden Joseph-Conrad-Hommage Kalimantan (1990; dt. Kalimantan (1992)) – in erster Linie die Geschichten um den Drachen Griaule interessant, die vor kurzem in den USA unter dem Titel The Dragon Griaule gesammelt erschienen sind. Beginnend mit “The Man Who Painted the Dragon Griaule” (1984) zeigt uns Shepard in ihnen Fragmente eines Fantasy-Universums, das einerseits fremd und exotisch wirkt (oder genauer: fremder und exotischer als die meisten anderen Fantasy-Universen), andererseits aber direkt um die Ecke liegen könnte. Der titelgebende Drache ist dabei ein gewaltiges, unbewegliches Wesen, das das Leben der Bevölkerung eines reichen, fruchtbaren Landstrichs durch seine reine Anwesenheit beherrscht. Und dieser Drache soll nun durch einen Anstrich mit giftiger Farbe getötet werden, denn auch wenn Griaule körperlich unbeweglich ist, kann er mit seinem Geist die Bewohner der Gegend beeinflussen, kann ihre Träume und Wünsche manipulieren. In den weiteren Erzählungen (“The Scalehunter’s Beautiful Daughter” (1988), “The Father of Stones” (1988), “Liar’s House” (2004), “The Taborin Scale” (2010) und “The Skull” (2012)) verändern sich die Gegebenheiten nach und nach. Die Welt und die Menschen in ihr wandeln sich, und schließlich ist Griaule nichts weiter als ein Mythos – in einer Welt, die der unseren dann doch sehr ähnlich ist.
Es fällt schwer, mehr über diese Geschichten zu sagen, ohne allzuviel vorwegzunehmen oder zu verraten. Sie bedienen sich fantasytypischer Motive, doch sie verwenden sie auf ungewohnte Weise. Sie sind eher beunruhigend als beruhigend. Und sie sind es wert, gelesen zu werden. Letzteres erweist sich für deutschsprachige Leser und Leserinnen allerdings als schwierig, denn von den insgesamt sechs Geschichten über den Drachen Griaule sind nur zwei (“Der Mann, der den Drachen Griaule (be)malte” (1987 bzw. 2005) und “Des Schuppensammlers schöne Tochter” (1989)) bislang auf Deutsch erschienen.

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