Zum 65. Geburtstag von Michael Swanwick

Bibliotheka Phantastika gratuliert Michael Swanwick, der heute 65 Jahre alt wird. Seit der am 18. November 1950 in Schenectady, New York, geborene Michael Jurgen Swanwick mit “The Feast of St Janis” (in New Dimensions 11, 1980) und “Ginungagap” (in TriQuarterly, 1980) seine ersten beiden Erzählungen vorlegte – die gleich beide für den Nebula nominiert wurden –, hat er sich einen Ruf als literarisches Chamäleon erschrieben und gilt (zumindest in den Kreisen der angloamerikanischen SF-Kritik) als einer der wichtigsten derzeit schreibenden SF-Autoren. Die thematische und/oder stilistische Bandbreite von Swanwicks mittlerweile neun Romanen und knapp 300 Erzählungen und Kurzgeschichten ist in der Tat beeindruckend und dürfte der Hauptgrund sein, warum er einerseits ein Kritiker-Liebling ist und andererseits eher selten auf Bestsellerlisten auftaucht. Der Schwerpunkt seines Schaffens liegt im Bereich aller möglichen Spielarten der SF, doch Swanwick hat neben einigen Stories mit phantastischen oder Fantasy-Elementen auch zwei Romane geschrieben, die man der Fantasy zurechnen kann.
The Iron Dragon's Daughter von Michael Swanwick Wobei The Iron Dragon’s Daughter (1993; dt. Die Tochter des stählernen Drachen (1996)), der erste und wichtigere dieser beiden Romane, alles andere als typische Fantasy bietet. Dies wird schon in den ersten Sätzen deutlich, in denen wir Jane begegnen, der “Heldin” des Buches. Jane ist ein Wechselbalg, ein menschliches Kind, das in die Realm of Faerie entführt wurde, und jetzt arbeitet sie Seite an Seite mit Gnomen, Kobolden und anderen seltsamen Wesen unter übelsten Bedingungen in einer Fabrik, in der stählerne kybernetische Drachen hergestellt werden, die in dieser Welt – verschmolzen mit dem Bewusstsein eines Piloten – so etwas wie Kampfjets darstellen. Janes Leben beginnt sich zu ändern, als sie eines Tages einen scheinbar ausrangierten, verrosteten Drachen auf dem Schrottplatz entdeckt, dem in Wirklichkeit nur ein paar Kleinigkeiten fehlen, um wieder voll funktionsfähig zu sein. Schon bald darauf gelingt ihr mit Drache Nr. 7332 – alias Melanchthon – die Flucht. Doch diese Flucht führt sie keineswegs in irgendeine bessere Welt, sondern in ein mehr oder weniger zeitgenössisches urbanes Setting, wo sie sich – anfangs auf sich allein gestellt – als Außenseiterin an einer High School behaupten muss, auf dem College nicht nur Alchemie studiert, sondern auch ihre Sexualität entdeckt (mit keineswegs nur angenehmen Folgen für sie selbst und ihre Partner) und nebenbei “Karriere” als Taschendiebin macht. Bis sich eines Tages Melanchthon wieder meldet, der seine vor langer Zeit gefassten Pläne endlich in die Tat umsetzen will – und dafür seine Pilotin braucht …
The Iron Dragon’s Daughter ist kein einfaches Buch – und gewiss keins, dass irgendwelche Wohlgefühle aufkommen lässt, im Gegenteil. Die Anfangssequenzen in der Fabrik, die auch ein Charles Dickens nicht bedrückender hätte schildern können, geben die Stimmung vor, die den ganzen Roman durchzieht. Zwar ist die Situation in der Stadt, in der der größte Teil der Handlung spielt, anders, aber nicht zuletzt aufgrund der Oberschicht aus arroganten Elfenlords keineswegs besser. Hier wie dort ist Jane eine Außenseiterin, die versuchen muss, sich in eine Welt einzupassen, die sie nicht versteht – nicht verstehen kann, weil diese Welt den Gesetzen und der Logik nichtmenschlicher Wesen folgt – und die dabei immer wieder scheitert. Dazu kommt, dass Jane selbst keine sympathische Figur ist, die häufig falsch und skrupellos handelt, dass vor allem der Mittelteil des Buches ein – fast schon willkürlich wirkendes – Kaleidoskop von Szenen ist, das plotorientierten Lesern und Leserinnen mehr Kopfschmerzen als sonst etwas bereiten dürfte, und dass auch das Ende in seiner Ambivalenz mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Dennoch ist The Iron Dragon’s Daughter ein interessantes und genrehistorisch ungemein wichtiges Buch, denn nie zuvor und nie danach wurden die typischen Fantasytopoi so konsequent dekonstruiert, nie zuvor und nie danach hat ein Autor so wenig Rücksicht auf die genretypischen Erwartungen seiner Leser und Leserinnen genommen. Außerdem bietet der Roman – den der bekannte SF-Kritiker John Clute einmal als Anti-Fantasy bezeichnet hat – mit Melanchthon, dieser Mischung aus KI und Fantasymonster, diesem Drachen aus in Stahl gegossenem Hass, eines der faszinierendsten und abstoßenden Wesen der modernen Fantasy. Und nicht zuletzt dürfte dieses Buch den Weg für Sachen wie beispielsweise China Miévilles Bas-Lag-Romane zumindest mit geebnet haben.
2008 ließ Michael Swanwick mit The Dragons of Babel einen zweiten im gleichen Setting angesiedelten, aber thematisch und stilistisch deutlich konventionelleren Roman folgen, der in Auszügen auf den Seiten von Asimov’s Science Fiction vorveröffentlicht wurde.
Dass Swanwick auch ganz anders kann und liebgewonnene Genrekonventionen keineswegs zwanghaft zerstören muss (was er nebenbei bemerkt auch in seinen SF-Romanen und -Stories häufig getan hat), beweist er mit den Geschichten über Darger und Surplus, deren erste “The Dog Said Bow-Wow” in der Oktober-November-Ausgabe 2001 von Asimov’s Science Fiction erschienen ist und mit dem Hugo ausgezeichnet wurde. Darger und Surplus – oder genauer Sir Blackthorpe Ravenscairn de Plus Precieux, ein genetisch stark modifizierter, aufrecht gehender intelligenter Hund – sind zwei Schwindler und Dancing with Bears von Michael SwanwickBetrüger, die in nicht allzu ferner Zukunft auf einer Erde leben, auf der die Menschen einen Krieg mit den von ihnen geschaffenen KIs zwar gewonnen haben, das Ganze aber logischerweise gewisse Auswirkungen hat. Bei ihrem ersten Auftritt planen die beiden (die ein bisschen wie jüngere Brüder von Jack Vances Cugel wirken) einen Diebstahl, der allerdings nicht ganz so läuft, wie sie sich das gedacht hatten. Auf diese erste Geschichte folgten rasch zwei weitere (diese drei sind – neben anderen Stories – in der Kurzgeschichtensammlung The Dog Said Bow-Wow (2007) zu finden) und mittlerweile sind eine weitere Story sowie die beiden Romane Dancing with Bears (2011) und Chasing the Phoenix (2015) hinzugekommen. In ihnen erweist sich Swanwick ein ums andere Mal als Verfasser leicht verfremdeter, stilistisch brillanter Jack-Vance-Pastiches, die den Vergleich mit dem großen Vorbild nicht scheuen müssen.
Der Kontrast zwischen Janes Abenteuern in Faerie und den Darger-und-Surplus-Geschichten ist faszinierend – aber wie schon eingangs erwähnt, gilt Michael Swanwick nicht zu Unrecht als literarisches Chamäleon …

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