Interview mit einem Buch (1): Von Windmühlen und Grenzbeamten

Sieht man den Punkt vor lauter Lettern nicht mehr, müssen Bilder her. Bilder, die im Text stehen könnten, ohne zu stören – Bilder von Büchern. Mit Begeisterung fing ich an, für die Bibliotheka Phantastika im improvisierten Heimstudio die Schätze aus aller Herren Schränke, das Rascheln der Seiten und so mancherlei offenes Ende abzulichten.
Doch was als kleines Fotoprojekt für die Bibliotheka begann, wurde für mich bald zum großen Faszinosum. Ich hatte das Gefühl, sehr stark ausgeprägte Persönlichkeiten vor der Linse zu haben: während der eine Band sich durch Geduld und Beharrlichkeit auszeichnete, konnte so manches Taschenbuch die Seiten nicht stillhalten. Manche Bücher schüchterten mich ein, manche waren eingeschüchtert. Deshalb nahm ich am vergangenen Dienstag nur meine elf vertrautesten Regalkameraden mit in den nahegelegenen Park, um dort die letzten Bilder für mein Fotoprojekt aufzunehmen.
Das nachfolgende Interview entstand während des Fotoshootings und ist das Erste einer Reihe von Gesprächen.

F.: Herzlich Willkommen! Ich freue mich, Sie hier zu treffen!

B.: Vielen Dank.
Die Seiten des Buches rascheln.

F.: Nehmen Sie doch Platz. Sind sie nervös?

B.: Ein wenig. Ich stand noch nie vor der Kamera.

F.: Das verwundert mich, Sie haben doch die Idealmaße: 28 x 20 x 5, Sie wiegen perfekte 900 Gramm. Und Ihre 41 Jahre sieht man Ihnen wunderbar an.

B.: Aber meine knittrigen Kanten … Die Zeit im Regal, wissen Sie? Und die Kinderhände…

F.: Vorm Ausbleichen ist keiner gefeit, glauben Sie mir. Aber erzählen Sie doch etwas über sich, bevor wir beginnen!

B: Sehr gern. Ich erzähle eigentlich sehr gut. (Pause)
Nicht lange, nachdem ich dem Dunkel der Druckerpresse entflohen war, wurde ich auch sogleich dem bequemen – aber etwas langweiligen – Platz im Regal des örtlichen Bücherladens entrissen. Ich hatte es mir dort gerade gemütlich gemacht. Wenn man jung ist, hat man das Gefühl, von allen gelesen werden zu wollen, wissen Sie? Doch als mich tatsächlich eine Kinderhand nahm und zur Kasse brachte – zwei kleine Rotzbengel hatten ihre letzten Pfennige zusammengeklaubt –, konnte ich es nicht richtig fassen.

F.: Ein Wendepunkt in Ihrem Leben?

B.: Zweifelsohne, auch wenn die beiden Brüder mich noch für eine Nacht wieder zurück ins Regal stellen mussten. Es fehlten zwei Groschen, die ihr Vater jedoch am nächsten Tag vorbeibrachte. Meine Zeit im Buchladen war also tatsächlich vorbei.
Zuhause angekommen, wurde ich mit mächtiger Geheimnistuerei auf einen Schreibtisch gelegt, und der ältere Bruder schrieb mit einer dicken Kugelschreibermine einige Worte auf meine zweite Seite. Er musste sich sehr konzentriert haben, ich erinnere mich noch heute daran, wie die Spitze seiner Zunge im Mundwinkel festzuklemmen schien. (Pause)
Das nächste, woran ich mich erinnern kann, war eine unbestimmte Zeit, die ich in Geschenkpapier eingewickelt hinter einem Schrank verbrachte. Ich hörte nur die aufgeregten Stimmen dreier Kinder, die in dem Zimmer tobten. Eines Tages jedoch wurde ich hervorgezerrt – davon die Schramme auf dem Rücken – und wurde der Schwester der beiden überreicht. Ihre Geburtstagfeier war bunter als alles, was ich bisher gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ich ein Jahr alt.

F.: Und Sie waren kein unbeschriebenes Blatt mehr.

B.: Das war ich wohl nie. Doch diese Zeit war wunderbar, trotz der klebrigen Kinderfinger auf meinen Seiten. Ich habe viel gesehen von der Welt. Picknick im Grünen, zwischen grauen Häusern, Urlaubsfahrten nach Ungarn und nach Rumänien, ich war dabei. Einmal geriet ich in die Finger eines Grenzbeamten. Das war der schlimmste Moment meines Lebens.

F.: Wie haben Sie reagiert?

B.: Die Kinder reagierten, bevor ich es tun konnte. Vielleicht hatten sie das gelernt, als sie in meinen Seiten blätterten … – ich weiß es nicht. Doch sie zogen mich aus den ruppigen Händen des Beamten, und dem darauf folgenden Geräusch und der plötzliche Nässe auf meinem Einband zu urteilen, steckte eines der Kinder dem Mann die Zunge heraus.

F.: Eine Heldentat!

B.: Ich kann Ihnen nur zustimmen.

F.: Sie reisten mit der Familie durch die Hohe Tatra, und als die Mauer fiel, waren Sie sogar ein Wochenende an der Ostsee.

B.: Der Salzgeruch hängt noch immer an mir.

F.: Bald jedoch begann eine ruhige Zeit für Sie: Sie zogen in das Kinderbücherregal, während –

B.: Klassiker. Ins Klassikerregal.

F.: Verzeihung. Sie zogen ins Klassikerregal, während ihre Besitzer immer größer und älter wurden.

B.: Sie denken vielleicht, das wäre eine traurige Zeit gewesen. Doch im Gegenteil, es war sehr spannend: das kleine Mädchen wurde groß, sie lernte einen Mann kennen, sie zog von Zuhause aus und nahm mich mit.
Und obwohl ich langsam in ein Alter kam, wo die Aussicht auf ein unbeschwertes und unbewegtes Leben in einem der oberen Regalfächer stetig an Reiz gewann, gab es schon nach einigen Jahren erneut klebrige Finger, die an meinen Seiten zerrten. Wieder drei Kinder, wieder zwei Jungen und ein Mädchen.

F.: War es ein schönes Gefühl, wieder gelesen zu werden?

B.: Ja. Doch auch ich werde nicht jünger, und die Drei tobten lebhaft herum. Glücklicherweise gab es noch viele andere meiner Art in den Regalen. Ich erinnere mich an Jim Knopf. Netter Kerl.

F.: Haben Sie noch Kontakt?

B.: Ja, er steht im Regal gegenüber. (Kurze Pause)
Es ist sehr seltsam, doch der Lauf der Dinge schlug wieder einen bekannten Weg ein. Erneut wurde ich, später, als die Kinder groß waren, an das Mädchen weitergeben. Bei ihr lebe ich nun seit drei Jahren.

F.: Bei mir.

B.: Ja, richtig.

F.: Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl?

B.: Ich befinde mich in bester Gesellschaft.

Nur hier draußen, hier ist es etwas kühl, und der Wind blättert so schnell in meinen Seiten, dass ich es für ausgeschlossen halte, dass er tatsächlich liest. Bei dieser Geschwindigkeit kann er bestenfalls die Illustrationen betrachten.

F.: Höchst bedauerlich.

B.: Und jetzt werde ich selbst zur Illustration, zum Bild. Das ist ein befremdlicher Gedanke. Ich kann mir ein Kunstwerk ohne Buchstaben nicht vorstellen. Es macht mich nervös.

F.: Wie wäre es, wenn Sie den Betrachtern eine Geschichte erzählen? Ihre Geschichte.

B.: Ja, Sie haben Recht. Im Erzählen bin ich eigentlich sehr gut. Sie haben sicher schon von den Windmühlen gehört? (Räuspert sich) In einem Dorfe der spanischen Landschaft La Mancha lebte einst ein Edler, der eine Lanze und einen alten Schild besaß, …

Gekürztes Interview. Die Fragen stellte die Fotografin.

Die Ausstellung ars legendi – „die Kunst des Lesens“ – ist vom 22.  März bis zum 27. April in Dresden zu sehen.

4 Kommentare zu Interview mit einem Buch (1): Von Windmühlen und Grenzbeamten

  1. TeichDragon sagt:

    Klassikerregal…
    *hach – seufz*

    Ich glaube, ich muss demnächst auch mal in ein paar dieser “Klassiker” reinblättern. 🙂

  2. Elric sagt:

    Ich hoffe mal, dass sich dein Klassiker im Wald nicht erkältet hat! 😉
    Sehr nett, waren die anderen 10 Freunde auch so gesprächig? 😀

  3. Colophonius sagt:

    Aus den Regalen habe ich bisher kein Niesen gehört, deshalb hoffe ich, dass alle den Ausflug unbeschadet überstanden haben 😉
    Aber, ja, zu erzählen haben sie alle viel (wen wunderts …). Was genau, das wird es in Zukunft immer mal hier zu lesen geben!

  4. Pegasus sagt:

    Herrlich! 🙂
    Da bekommt man glatt Lust, seine eigenen Bücher zu befragen.
    Und dass es eine Fortsetzung geben soll, finde ich auch schön.

Hinterlasse einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst diese HTML Tags und Attribute nutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>