Gute Drachen sind rar

Gute Drachen sind rar von J. R. R. TolkienDieser kleine Sammelband enthält drei Aufsätze bzw. verschriftlichte Vorträge von J. R. R. Tolkien: Ein heimliches Laster über die Leidenschaft für erfundene Sprachen, Über Märchen über Kunst und Unsitten des Märchenerzählens (oder, moderner formuliert, darüber, wie gute Fantasy auszusehen hat), und Beowulf: Die Ungeheuer und ihre Kritiker über Tolkiens Einwände gegen die zeitgemäßen Beowulf-Interpretationen und seine Darlegung der Stärken des Versepos.

-Manche von Ihnen haben vielleicht von einem Kongreß gehört, der vor etwas über einem Jahr in Oxford stattgefunden hat, einem Esperanto-Kongreß; oder vielleicht haben Sie auch nichts davon gehört.-
Ein heimliches Laster

Gute Drachen sind rar enthält drei der fünf Aufsätze aus der älteren (und längst nicht mehr lieferbaren) Sammlung Die Ungeheuer und ihre Kritiker. Zwei der drei Aufsätze, Über Märchen und Ein heimliches Laster, betreffen unmittelbar Aspekte von Tolkiens Werk und seiner Auffassung von Fantasy, während der Beowulf-Aufsatz aufzeigt, welche Motive Tolkien an der Heldendichtung geschätzt hat, und einen – falls man hier überhaupt groß trennen kann – direkteren Bezug zu seiner wissenschaftlichen Tätigkeit als zu seiner Schriftstellerei aufweist.
Konkrete bibliographische Angaben zu den Texten fehlen in dieser Ausgabe leider – um zu erfahren, wann die einzelnen Aufsätze erstmals erschienen sind, muss man den inhaltlich fehlerbehafteten Klappentext bemühen. Hinweise darauf, in welchem Zusammenhang und in welcher Form sie ursprünglich erschienen sind und wie sie evtl. überarbeitet wurden, sucht man fast immer vergeblich – das ist gerade für ein sekundärwissenschaftliches Werk etwas mager.

Auf das heimliche Laster, das Erfinden von Sprachen, geht Tolkien auf liebenswerte Weise peinlich berührt, aber dennoch mit spürbarem Missionarswillen und Begeisterung ein, in dem Wissen, dass die Interessengruppe für diese als eine Art elitäres Hobby präsentierte Beschäftigung eher klein ausfällt. Autobiographisches vermischt sich in diesem Aufsatz mit kulturhistorischen und gesellschaftlichen Details und Gedanken zum Spracherwerb des Individuums und der Menschheit. Dabei geht es logischerweise manchmal linguistisch ins Detail, bleibt allerdings größtenteils trotzdem auf einem allgemeinverständlichen Niveau.
Als höchste Kunst – und hier sind dann auch die Bezüge zu Tolkiens Werk und dessen Genese am deutlichsten – wird das Dichten in erfundenen Sprachen gepriesen (und mit Beispielen belegt). Spätestens hier zeigt sich, dass es bei Tolkiens Sprachen um weit mehr ging als um das Erfinden einiger ‘passender’ Wörter und eines weltschöpferischen Hintergrunds.
Mehrfach lässt sich die Querverbindung zur Mythologie über Verweise auf die Heldendichtung herstellen; die Dichtkunst wird einerseits als eigene Kunstform des sprachlichen Wohlklangs etabliert, andererseits als mythenbildende Gattung.

Über Märchen ist ein Rundumschlag zur Auseinandersetzung mit Märchenstoffen und dem Verfassen von Märchen, den man als eine frühe Streitschrift für die Fantasy lesen kann, die gleichzeitig dem entstehenden Genre eigene (laut Tolkien tradierte) Regeln zuweisen will. Es geht um nichts weniger als die Rehabilitierung der literarischen Form des Märchens für Erwachsene, da sie in Großbritannien (ebenso wie in Deutschland durch die Brüder Grimm) zur Kindergattung degradiert worden war.
Tolkien plädiert eloquent, gelehrt und mitunter auf charmante Weise für seine Faibles und sein Verständnis der Materie, wird dabei nie zu wissenschaftlich, gibt aber durchaus einen Überblick über die Märchenrezeption seiner Zeit. Sein prägender Einfluss auf die Fantasy-Literatur gibt seinen Thesen Recht – sein Zugang zum Märchen, zu den ‘elbischen Geschichten’, spricht bis heute Leser an und animiert Nachahmer.
In Über Märchen findet sich auch Tolkiens berühmtes Zitat, in dem er dem Eskapismus-Vorwurf an die Fantasy widerspricht, und außerdem eine erstaunlich modern wirkende Kritik an literarischen Extremen aufgrund einer ‘Originalitätssucht’ der Autoren. Neben seinen Vorbehalten gegenüber Volkskundlern, Märchenverächtern und infantilisierenden oder grellen Tendenzen beim Märchen spricht auch seine Ablehnung gegen die sich zu seiner Zeit rapide verändernde Umwelt und den Fortschritt aus dem Text, und nicht zuletzt seine oft auf christlicher Moral fußende Argumentation – in letzter Instanz steht bei ihm immer ein Schöpfergott und die Dinge sind zugedacht.

Der letzte Text der Sammlung, Die Ungeheuer und ihre Kritiker, ist am wenigsten zugänglich und eher für Kenner altenglischer Literatur oder LeserInnen geeignet, die etwas über Tolkiens Zugang dazu erfahren wollen (was natürlich Rückschlüsse auf sein literarisches Werk zulässt): Tolkien breitet sich über die zu seiner Zeit gängigen Lehrmeinungen zu Beowulf aus und lässt kaum ein gutes Haar daran, im Kern geht es wiederum um das Verschmähen des Phantastischen durch die Kritiker, was Tolkien für einen großen Fehler hält. Dabei dringt man ein Stück weit in Details und Textbeispiele vor, und nicht für alle altenglischen Zitate ist eine Übersetzung angegeben.

Gute Drachen sind rar ist auch heute noch als Streitschrift für das Phantastische zu lesen, als Schuss vor den Bug der Kritiker – aber vor allem als Streitschrift für Tolkiens Form der Phantastik, für seinen spezifischen Umgang mit Märchen und Mythen, mit Ungeheuern und Sprache, mit Elben und Sekundärschöpfung. Das mag heute antiquiert und teilweise überholt wirken – zumal sich inzwischen etliche verschiedene Traditionen der Phantastik etabliert haben – doch Grundlagen hat Tolkien mit seinem Zugang zweifellos geschaffen und einige Wahrheiten erkannt, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Die eigenwilligeren Thesen, bei denen man als LeserIn nicht unbedingt mitgehen mag, taugen immerhin zum Verständnis des Phänomens Tolkien.

Stand: 06. Juni 2012
Originaltitel: A Secret Vice, On Fairy Stories, Beowulf: The Monsters and the Critics
Erscheinungsjahr: UK 1983, D 1984 (neu: 2002)
Verlag: Klett-Cotta
Übersetzung: Wolfgang Krege
ISBN: 3-608-93064-7
Seitenzahl: 214