Zum 70. Geburtstag von Michael Shea

Bibliotheka Phantastika erinnert – einmal mehr deutlich verspätet* – an Michael Shea, der am vergangenen Sonntag 70 Jahre alt geworden wäre. Man kann mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass der Start der schriftstellerischen Karriere des am 03. Juli 1946 in Los Angeles, Kalifornien, geborenen Michael Shea ungewöhnlich war, denn angefangen hat er – wenn man so will – mit Fanfiction. Die häufig wiederholte und von daher glaubhafte Legende besagt, dass Shea um 1970 herum in der Lobby eines Hotels in Alaska eine Ausgabe von Jack Vances The Eyes of the Overworld in die Hände gefallen ist und er – da Vance zu diesem Zeitpunkt noch keine Fortsetzung verfasst hatte – beschlossen hat, die ihn faszinierende Geschichte selbst fortzusetzen. Und diese von Vance autorisierte** Fortsetzung ist unter dem Titel A Quest for Simbilis 1974 bei DAW Books in den USA erschienen.
Der Roman beginnt genau da, wo The Eyes of the Overworld geendet hatte und bringt Cugel – ähnlich episodenhaft wie der Vorgängerband – alsbald mit zwei Reisegefährten zusammen: zunächst mit Mumber Sull, dem Than des Fischerstädtchens Icthyll, und dann mit dem Zauberer Polderbag. Gemeinsam begeben sich die drei aus den unterschiedlichsten Gründen auf die Suche nach dem Erzzauberer Simbilis – eine Suche, die sie in die Unterwelt der Sterbenden Erde führt, wo ihnen allerlei wunderliche und gefährliche Kreaturen begegnen, und sie diverse Abenteuer erleben …
Es ist schon erstaunlich, wie gut es Michael Shea in A Quest for Simbilis gelingt, den Stil und Erzählduktus von Jack Vance zu treffen – vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um seinen Erstling handelt. Aber Shea imitiert Vance nicht einfach nur, er bringt mit der – für die deutsche Ausgabe titelgebenden – Reise in die Unterwelt (1977) auch eine neue Komponente in Jack Vances Erzählkosmos ein, die viel zur Farbigkeit der Handlung beiträgt (und – wie sich im Nachhinein herausstellen sollte – eine erste Fingerübung für das war, was er später schreiben sollte). Allerdings muss man auch zugeben, dass Cugel ab dem Zeitpunkt, da Mumber Sull auftaucht, ein bisschen zu sehr in den Hintergrund gerät, Letzterer ihm mehr oder weniger die Schau stiehlt. Doch auch wenn A Quest for Simbilis als Cugel-Roman nicht ganz überzeugt, bleibt er dennoch der beste Jack-Vance-Roman, den Vance selbst nie geschrieben hat.***
Es sollte fünf Jahre dauern, bis die breite Öffentlichkeit wieder etwas von Michael Shea zu lesen bekam (denn die 1977 in dem Fanzine Phantasy Digest #3 enthaltene Story “The Pearls of the Vampire Queen” dürften zum damaligen Zeitpunkt allenfalls ein paar hundert Leser und Leserinnen zu Gesicht bekommen haben), denn erst 1979 erschien im Magazine of Fantasy & Science Fiction die Erzählung “The Angel of Death”, auf die mit “The Autopsy” (The Magazine of F&SF, Dezember ’80) und “Polyphemus” (The Magazine of F&SF, August ’81) zwei weitere SF-Erzählungen folgten, die – wie fast alle Geschichten von Shea – starke Horrorelemente aufweisen und mit zum Besten gehören, was er je geschrieben hat.
Nach einigen weiteren Stories erschien schließlich im Dezember 1982 mit Nifft the Lean sein berühmtestes und wohl auch erfolgreichstes Werk, das ihm zudem auf ewig einen Platz in der Ahnengalerie der Sword & Sorcery sichern dürfte. Bei Nifft the Lean handelt es sich um einen Sammelband mit vier längeren Erzählungen (der lustigerweise 1983 den World Fantasy Award in der Kategorie Best Novel gewonnen und dabei Romane wie Fevre Dream von George R.R. Martin oder The Sword of the Lictor von Gene Wolfe auf die Plätze verwiesen hat°), in denen die Abenteuer des dürren Nifft, eines Diebes und Söldners, und seines zeitweiligen Gefährten Barnar The Chilite zumeist von einem Ich-Erzähler – bei dem es sich nicht notwendigerweise um Nifft selbst handeln muss – geschildert werden. Dem Ganzen vorangestellt ist “Shag Margold’s Eulology of Nifft the Lean, His Dear Friend”, die der Kartograph und Historiker Margold nach dem vermeintlichen Tod seines Freundes geschrieben hat. Margold, der etliche Reiseberichte von Abenteurern gesammelt hat, um sie für seine eigenen Studien zu verwenden (und der auf diese Weise auch an Niffts Aufzeichnungen gekommen ist) hat darüber hinaus auch Einleitungen zu den einzelnen Geschichten verfasst, in denen er sich nicht nur Gedanken darüber macht, ob es sich bei dem jeweiligen Ich-Erzähler tatsächlich um Nifft handelt, sondern er lässt sich auch über die Geographie, die Geschichte und die politischen Verhältnisse in der als Schauplatz der Handlung dienenden Region aus und sorgt für gelegentliche humoristische Momente in der ansonsten überaus düsteren Handlung.
Am deutlichsten ist diese Düsternis in den beiden Geschichten zu spüren, in denen Nifft der Hölle – oder genauer: zwei sich deutlich voneinander unterscheidenden Versionen der Hölle – einen Besuch abstattet, denn in beiden wimmelt es von furchterregenden, entsetzlichen Wesen aller Art. Aber auch mit der unsterblichen Vampirkönigin, der Nifft die unglaublich wertvollen schwarzen Perlen ihres sumpfigen Reiches stehlen will, ist nicht gut Kirschen essen, ebenso wenig wie mit der “Goddess In Glas”, dem Orakel der Stadt Anvil Pastures, in die es Nifft auf Geheiß Margolds verschlägt … Stilistisch und erzählerisch ist auch in diesen Geschichten der Einfluss eines Jack Vance noch immer deutlich spürbar, gemischt mit einem kräftigen Schluck Clark Ashton Smith und einem Spritzer Fritz Leiber. Dass sie dennoch weit davon entfernt sind, Jack-Vance-Pastiches zu sein, sondern etwas wirklich Eigenständiges darstellen, liegt vor allem am jeweiligen, detailliert und ausführlich beschriebenen Setting der Geschichten, das auch ein Hieronymus Bosch nicht bizarrer hätte ersinnen können. Und somit ist Nifft the Lean unterm Strich eine vielleicht nicht immer leicht lesbare oder angenehme, aber durchaus originelle und im Genre mehr oder minder einzigartige Lektüre, die trotz ihrer stilistischen Eigenheiten, ihrer moralisch fragwürdigen Hauptfigur und ihrer bizarren Settings für alle Freunde erzählerisch etwas “altmodischer” phantastischer Abenteuerliteratur mehr als lesenswert ist. Und die in zwei Bänden als Die Reise durch die Unterwelt (1984) und Fischzug im Dämonenmeer (1985) auch auf Deutsch erschienen ist.
Mit The Color Out of Time (1984; dt. Die Farbe aus der Zeit (2004)) verfasste Shea einige Zeit später eine Fortsetzung zu H.P. Lovecrafts Erzählung “The Color Out of Space” (die nicht sein einziger Beitrag zum Cthulhu-Mythos bleiben sollte), und mit In Yana, the Touch of Undying (1985) einen stilistisch ebenfalls wieder von Jack Vance beeinflussten Roman, in dem es um die Suche nach der Unsterblichkeit geht. Weitere Stories – von denen die besten in dem Sammelband Polyphemus (1987) zu finden sind – folgten, ehe Shea den dürren Nifft zunächst zusammen mit seinem Kumpel Barnar Hammer-Hand in The Mines of Behemoth (1997; auch mit Nifft the Lean als Sammelband unter dem Titel The Incompleat Nifft (2000) erschienen) und dann mit einer neuen Begleiterin in The A’rak (2000) neue Abenteuer erleben ließ. Eine weitere – und zugleich die letzte – Nifft-Story mit dem Titel “Epistle from Lebanoi” ist in The Sword & Sorcery Anthology (2012) enthalten.
Während der Sammelband The Autopsy and Other Tales (2008) einen breiten Querschnitt durch Sheas Schaffen als Kurzgeschichtenautor bietet und u.a auch die ebenfalls mit dem World Fantasy Award ausgezeichnete Erzählung “The Growlimb” (2004) enthält, sind in Copping Squid and Other Mythos Tales (2009) – nomen es omen – seine Cthulhu-Mythos-Stories gesammelt, von denen man eine – “Tsathoggua” – hier auch online lesen kann. Mit The Extra (2010) und Assault on Sunrise (2013) hat er schließlich die ersten beiden Bände einer in Kalifornien spielenden Near-Future-Trilogie verfasst, die auf einer Kurzgeschichte von 1987 fußt und nun wohl unvollendet bleiben wird, denn am 16. Februar 2014 ist Michael Shea völlig überraschend im Alter von 67 Jahren verstorben.

* – it’s not a bug, it’s a feature 😉 ; nein das ist es natürlich nicht, aber momenten bestehen leider nur die Alternativen, den einen oder anderen Beitrag verspätet oder gar nicht zu veröffentlichen, und nachdem in den vergangenen Monaten schon ein paar – zu viele, wie ich finde – Beiträge auf der Strecke geblieben sind, habe ich mich in diesem Fall mal wieder für eine verspätete Veröffentlichung entschieden.
** – da Jack Vance mit Cugel’s Saga (1983) später selbst eine Fortsetzung zu The Eyes of the Overworld geschrieben hat, gilt A Quest for Simbilis mittlerweile nicht mehr als Kanon – doch wer den Erzählkosmos um die Sterbende Erde mag, sollte sich davon nicht abhalten lassen, den Roman zu lesen.
*** – wenn ich meine geplanten Beiträge im letzten Monat geschafft hätte, hätte es da bereits einen Fantasyzyklus gegeben, den man als den besten Michael-Moorcock-Zyklus bezeichnen könnte, den Moorcock nie geschrieben hat – aber so, wie es nun einmal ist, wird es um den frühestens in fünf Jahren gehen …
° – Nifft the Lean ist nebenbei bemerkt das einzige, eindeutig der S&S zuzuordnende längere Werk, dem dieses Kunststück gelungen ist.

2 Kommentare zu Zum 70. Geburtstag von Michael Shea

  1. Pogopuschel sagt:

    Hach schade, “Nifft the Lean” ist auf Englisch wohl leider nicht so leicht zu bekommen. Schade. Als eBook hätte ich es mir sofort gekauft.

  2. gero sagt:

    Yepp, Sheas Romane (und auch seine Kurgeschichtensammlungen) sind lange out of print und gebraucht nur vergleichsweise teuer zu kriegen. Ich habe eine ziemlich mitgenommene Ausgabe von Nifft the Lean und würde die gerne durch eine etwas bessere ersetzen – aber nicht zu den Preisen, die für ein gut erhaltenes Exemplar (der DAW-Ausgabe) aufgerufen werden. Und ich hätte auch gerne eine Ausgabe von The A’rak – aber da gilt das Gleiche.

    Möglicherweise wird es ja mal eBook-Ausgaben davon geben, ein Anfang in dieser Richtung wurde ja mit den eBook-Ausgaben von The Color Out of Time und Fat Face (das ist eine Erzählung, die in kleiner Auflage als teure Spezialausgabe erschienen ist, die ich genau deswegen aber in meinem Beitrag weggelassen habe) ja gemacht. Obwohl mir persönlich am liebsten wäre, wenn z.B. Subterranean Press mit den Nifft-Stories und Romanen das Gleiche machen würde wie mit den Opar-Romanen von Philip José Farmer oder den Master-Li-Romanen von Barry Hughart … 😉

Hinterlasse einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

Du kannst diese HTML Tags und Attribute nutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>