Zum 75. Geburtstag von Niel Hancock

Bibliotheka Phantastika erinnert an Niel Hancock, der heute 75 Jahre alt geworden wäre. Dass der am 08. Januar 1941 in Clovis, New Mexico, geborene Niel Anderson Hancock am gleichen Tag (wenn auch in einem anderen Jahr) Geburtstag hat wie Terry Brooks, ist nur eine der beiden Gemeinsamkeiten, die es zwischen den beiden Autoren gibt; die zweite, wesentlich wichtigere ist, dass Hancock im Jahr 1977 einen Fantasyroman – genauer gesagt vier – veröffentlicht hat, der sich ebenso wie Brooks’ The Sword of Shannara an eine Leserschaft richtete, die auf der Suche nach weiteren Geschichten im Stil von J.R.R. Tolkiens The Lord of the Rings war. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten dann auch schon, denn während Terry Brooks mit The Sword of Shannara den Grundstein zu einer Karriere legte, die ihn zu einem der wichtigsten (oder zumindest erfolgreichsten) Fantasy-Autoren der 80er und 90er Jahre machen sollte, ist Niel Hancock heutzutage vergessen. Und zwar so sehr vergessen, dass er nicht einmal mehr erwähnt wird, wenn es um jenes für die Fantasy so bedeutungsvolle Jahr 1977 geht.
Denn 1977 sind – aus heutiger Sicht unfassbar lange zwölf Jahre, nachdem die amerikanische Taschenbuch-Ausgabe des Lord of the Rings zum Bestseller geworden war – gleich mehrere Romane (bzw. genauer gesagt ein Roman und zwei Mehrteiler) erschienen, die eindeutig vom LotR … nennen wir es inspiriert waren* und deren Erfolg eine Zeitenwende ankündigte, denn nach 1977 ist die bis dahin auf dem Buchmarkt vorherrschende Sword & Sorcery nach und nach so ziemlich verschwunden (von wenigen Ausnahmen abgesehen) und die Epic Fantasy wurde zu einem als solches vermarktbaren Genre**. Brooks’ The Sword of Shannara und Stephen R. Donaldsons The Chronicles of Thomas Covenant the Unbeliever sind auch heute noch vielen Fantasylesern und -leserinnen ein Begriff, gehören mehr oder weniger zum Kanon der Epic Fantasy – aber wer kennt noch Niel Hancocks Circle of Light? Und dabei warb gerade dieser Zyklus mit dem Aufdruck “Beginning a great saga for all who love THE LORD OF THE RINGS!”*** und war sogar anfangs recht erfolgreich°.
Fragonards Faringay von Niel HancockWarum ist Circle of Light dann also so spurlos von der Bildfläche verschwunden? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich den Zyklus ein bisschen genauer ansehen. Dessen erster Band Greyfax Grimwald beginnt damit, dass ein Bär, ein Zwerg und ein Otter ihre jeweiligen Behausungen am Rand der jenseits des großen Flusses Calix Stay gelegenen Meadows of the Sun verlassen, weil sie eine schwer erklärbare Unruhe verspüren und das Gefühl haben, sich auf eine Queste begeben zu müssen. Nachdem sie sich kennengelernt haben, überqueren sie gemeinsam Calix Stay und gelangen so ins Land der Lebenden – aber nicht, um dort wie sonst wiedergeboren zu werden und ein neues Leben zu beginnen; stattdessen bleiben sie die gleichen Individuen, die sie zuvor waren, und sind bereit zu Heldentaten aller Art. Die Meadows of the Sun sind nämlich eine Art Jenseits, in dem die Zeit keinerlei Rolle spielt, während Atlanton – die Welt der Lebenden – einer jener Orte ist, an denen alle möglichen Lebewesen unzählige Reinkarnationszyklen durchlaufen. Und außerdem das Schlachtfeld, auf dem Lorini, the Queen of Light, und ihre Zwillingsschwester Dorini, the Queen of Darkness, die uralte Fehde zwischen Licht und Dunkel, Gut und Böse austragen. Kurz nach der Überquerung von Calix Stay treffen Bär, Zwerg und Otter – die passenderweise auch so heißen (nein, das stimmt nicht ganz, der Zwerg heißt Broko, wird aber meistens nur Zwerg genannt)°° – auf zwei Magier, den alten Greyfax Grimwald und seinen jungen Begleiter Faragon Fairingay, die beide Mitglieder des titelgebenden “Circle of Light” sind; sie erzählen den Gefährten vom Kampf zwischen Lorini und Dorini und geben ihnen den Rat, sich irgendwo niederzulassen und darauf zu warten, dass sie gebraucht werden. Nach einem kurzen Abstecher zur Ruine eines alten Zwergenhauses siedeln sich die drei in einem abgelegenen bewaldeten Tal an und warten – insgesamt fünfzehn Jahre, denn Greyfax Grimwald und Faragon Fairingay sind nach Cypher aufgebrochen, ins Reich Lorinis, und dort vergeht die Zeit anders als in der Welt der Lebenden. Doch dann kehrt Greyfax zurück und übergibt Broko ein kleines Kästchen – das Arkenchest –, das Dorini auf gar keinen Fall in die Finger bekommen darf, denn sonst wird Atlanton untergehen. Dummerweise wird Broko kurz darauf von einem gar schrecklichen Schergen Dorinis gefangengenommen – und damit geht der Ärger dann so richtig los, der sich auch durch die (alle ebenfalls 1977 erschienenen) Folgebände Faragon Fairingay, Calix Stay und Squaring the Circle zieht …
Wie man vielleicht schon anhand dieser Inhaltsangabe von knapp der ersten Hälfte des ersten Bands erahnen kann, ist das Ganze … sagen wir merkwürdig. Hancock, ein Vietnam-Veteran, der während seiner Zeit in Südostasien mit dem Buddhismus in Berührung gekommen war und sich – fasziniert von den buddhistischen Lehren – auch danach weiter mit ihm beschäftigt hat, hatte ursprünglich vor, ein Kinderbuch zu schreiben, das gewisse buddhistische Prinzipien und Weisheiten aufgreift, sie aber in das Gewand einer Fantasygeschichte hüllt, doch er konnte das Manuskript an keinen Kinder- und Jugendbuchverlag verkaufen. Dass die Geschichte eigentlich für Kinder gedacht war, erklärt vermutlich den schlichten Stil und Erzählduktus; so sind die drei Gefährten allenfalls skizzenhaft charakterisiert – der Zwerg ist eher nachdenklich, der Bär manchmal brummig und immer hungrig, und der Otter verspielt und neugierig – und Bär und Otter verhalten sich so gar nicht wie Tiere, ernähren sich am liebsten von Tee, Plätzchen, Honig und einem gelegentlichen Schinkensandwich. Oder, ein bisschen anders ausgedrückt: Man hat permanent das Gefühl, als würden die Figuren aus The Wind in the Willows in einer Art Hobbit-Rolle in einem vage an The Lord of the Rings erinnenden Szenario auftreten.
Interessant ist natürlich außerdem die Frage, wie die als Zielgruppe gedachten Kinder denn die ganzen Anspielungen auf den Buddhismus hätten erkennen oder verstehen sollen, die manche Geschehnisse durchaus in einem anderen Licht erscheinen lassen bzw. sie leichter verständlich machen. Aber da Hancocks spirituelle Fantasy – und dass Circle of Light tatsächlich eine ist, wird spätestens am Ende von Band vier deutlich – zumindest in den 70ern und 80ern vermutlich eher von erwachsenen (oder jugendlichen) Fantasyfans gelesen wurde als von Kindern, ist diese Frage letztlich belanglos. Immerhin ist es ihm gelungen, auf Circle of Light (die Tetralogie, die eigentlich den Abschluss seines weitgespannten Zyklus Atlanton Earth bildet) zunächst mit Dragon Winter (1978) einen Einzelband und danach zwei weitere Tetralogien folgen zu lassen: The Wilderness of Four (Einzeltitel: Across the Far Mountain, The Plains of the Sea, On the Boundaries of Darkness (alle 1982) und The Road to the Middle Islands (1983)) führt dabei in die tiefste Vergangenheit von Atlanton Earth und erzählt die Geschichten ihrer größten mythischen Helden, während The Windameir Circle (The Fires of Windameir (1985), The Sea of Silence (1987), A Wanderer’s Return (1988) und The Bridge of Dawn (1991)) zeitlich irgendwo zwischen der ersten und der zweiten Tetralogie angesiedelt ist.
Interessanterweise haben es Circle of Light (als Der Kreis des Lichts: Greyfax Grimwald, Faragon Fairingay, Calix Stay, der große Fluss und Der Kreis schließt sich (alle 1985)), Dragon Winter (als Drachenwinter (1986)) und The Wilderness of Four (als Die Saga von Atlanton: Weit über die fernen Berge, Bis zum wilden Meer, An den Grenzen der Finsternis und Auf dem Weg zu den friedlichen Inseln (alle 1986)) auch nach Deutschland geschafft.
Calix Stay von Niel HancockAbschließend wäre vielleicht noch zu sagen, dass Niel Hancocks Atlanton Earth gewiss zu den merkwürdigeren Fantasywerken gehört (wenn auch nicht zu den merkwürdigsten); auf der anderen Seite kann man dem Zyklus trotz all seiner Schwächen und Mängel einen gewissen eigenartigen Charme nicht absprechen. Und vollkommen vergessen zu werden, haben diese Romane, in denen es auch Innovationen wie Feuerwaffen benutzende Böse gibt, ebensowenig verdient wie ihr am 07. Mai 2011 im Alter von 70 Jahren während einer Motorradtour an einem thorakalen Aortenaneurysma verstorbener Autor; immerhin waren sie lange Jahre die einzige echte auf der spürbaren inneren Überzeugung ihres Schöpfers gründende spirituelle Fantasy – auch wenn viele Leser und Leserinnen das möglicherweise gar nicht erkannt haben.

* – es hat natürlich auch schon vor 1977 Romane und Zyklen gegeben, in denen bestimmte Themen und/oder Elemente, die Tolkien in der Ringtrilogie verwendet hat, vorgekommen sind, doch niemand würde ernsthaft behaupten, dass z.B. Ursula K. Le Guins ursprüngliche Earthsea Trilogy (1968-72) oder Patricia A. McKillips The Riddle-Master of Hed (1976) ähnlich starke Tolkien-Einflüsse aufweisen wie die Romane/Zyklen von Brooks, Donaldson und Hancock; ich habe übrigens eine Theorie, warum es so lange gedauert hat, bis die ersten echten Tolkien-Nachfolger erschienen sind – aber die muss warten, bis ich irgendwann mal dazu komme, meine in Fragmenten schon existierende Artikelreihe über die Entwicklung der Fantasy endlich mal weiter- und fertigzuschreiben
** – sowohl auf dem Cover von Brooks’ Sword of Shannara wie auf den Titelbildern der HC-Ausgabe von Donaldsons Chronicles of Thomas Covenant the Unbeliever prangte der Zusatz “An Epic Fantasy”
*** – daraus wurde dann ab dem zweiten Band “The great new saga for all who love THE LORD OF THE RINGS!”
° – eine Ausgabe von etwa Mitte der 80er Jahre trug den Aufdruck “The bestselling series – over one million in print”
°° – in der deutschen Ausgabe haben lustigerweise auch der Bär und der Otter Namen, wobei man immerhin mit Bruinlen und Olther dem Prinzip der auch sonst gern genutzten Alliteration treu geblieben ist

4 Kommentare zu Zum 75. Geburtstag von Niel Hancock

  1. Pogopuschel sagt:

    Bibliotheka Phantastika bildet! Der Name Niel Hancock war mir bisher vollkommen unbekannt. Wobei ich jetzt auch nicht wirklich neugierig auf sein Werk geworden bin. 😉

  2. gero sagt:

    So soll es – bezogen auf deinen ersten Satz – ja auch sein. 😉

    Dass du nicht neugierig auf Hancocks Werk geworden bist, glaube ich dir sofort, und ich kann mir eigentlich auch nicht vorstellen, dass dir seine Romane gefallen würden; die sind ganz sicher eher ein Kuriosum als alles andere. Trotzdem gehört ein solcher Autor mit seinem Schaffen irgendwie zur Geschichte der Fantasy dazu. Immerhin hat Hancock dreizehn Romane veröffentlicht – wobei zumindest Circle of Light ursprünglich als ein Roman gedacht war, der (aber sowas gab’s ja öfters) nur aus Umfangsgründen auf vier TBs aufgeteilt wurde – die sich in den späten 70ern und den 80ern gar nicht mal so schlecht verkauft haben (das gilt zumindest für den ersten, ein bisschen aber auch noch für den zweiten Vierteiler). Nach vier Romanen, die sich innerhalb einer nicht allzu langen Zeitspanne eine Million mal verkaufen, würde sich so mancher Verlag heutzutage die Finger lecken.

    Aber letztlich machen wir ja genau deshalb diese Sachen: um nicht nur die allseits bekannten Stars abzufeiern, sondern auch auf Autoren und Autorinnen bzw. Bücher hinzuweisen, die kaum jemand kennt. Dass man diese Bücher vielleicht gar nicht kennenlernen will, ist dabei vollkommen in Ordnung – jetzt weiß man halt, dass es sie gibt. 😉

    (Da wir aber zu noch lebenden Autoren und Autorinnen grundsätzlich immer etwas Positives sagen wollen – denn sonst würde sich das mMn mit dem “gratulieren” beißen – und ihren verstorbenen Pendants zumindest neutral gegenüberstehen wollen, wird es hier vermutlich niemals ein entsprechendes Posting zu John Norman oder auch John C. Wright geben.)

  3. Pogopuschel sagt:

    “Aber letztlich machen wir ja genau deshalb diese Sachen: um nicht nur die allseits bekannten Stars abzufeiern, sondern auch auf Autoren und Autorinnen bzw. Bücher hinzuweisen, die kaum jemand kennt.”

    Und genaud deshalb lese ich eure Geburtstagsbeiträge auch so gerne. Dass mich ein Autor nicht genug interessiert, um ihn zu lesen, heißt nicht, dass ich nicht über ihn Bescheid wissen möchte. Und da ich mir gerne Wissen über die Fantasy und ihre Geschichte anlese und aneigne, sind diese Beiträge ebenso ein Quell des Wissens, wie die Gespräche mit dir. 😉

  4. wurling sagt:

    Lange, lange ist es her, dass ich “Der Ring des Lichts” gelesen habe. Damals wurde ich glücklicherweise vorgewarnt, dass es “etwas märchenhaft” zugeht (wobei man das schon anhand der Cover vermuten konnte. Große Erinnerungen habe ich keine mehr an die Bücher, aber ein gewisses Wohlgefühl im Bauch ist trotzdem vorhanden…

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